Der Zwischenfall im Wald (10)

„I’m a straight razor, if you get too close to me.“

„Das klingt wie ’ne Drohung, oder?“

Ich gab zurück: „Warum ist Markus da rein?“

Markus, er war der Grund, warum wir nicht wegrannten und die Polizei riefen, sondern hin und uns mit dem Rücken an die Hauswand drückten. Wir schlichen um das Gebäude herum, quetschten uns durch ein paar Nadelhecken hindurch, bis wir auf der Rückseite im Garten standen. Ein hässlicher Flecken Erde. Hier hatte sich seit Ewigkeiten keiner mehr um Ordnung bemüht. Das Gras stand braunfleckig und wild gewachsen in einzelnen Büscheln. Hier und da sah es aus, als ob Brandflecken Kahlschlag betrieben hätten. Ein paar aus dem Wald herbeigeschleppte Steine standen kreuz und quer. Und ja, natürlich stand dort auch an ein eingeschlagenes Gewächshaus angelehnt, ein morsches Holzkreuz vom Friedhof. Und um den Kopf des Kreuzes hing ein verblichener Kranz mit einer Scherpe, auf der dieser Spruch stand: I’m a straight razor, if you get too close to me.“

Direkt darunter stand ein mit dickem schwarzem Rahmen versehenes Bild. Natürlich eine weitere Sinnlosigkeit: das Bild eines Rennautos.

„Der Typ hat echt den Verstand verloren.“, sagte Silvy.

„Klar hat er das.“

„Das kann jetzt nicht dein Ernst sein!“, zischte sie mich an, weil ich mich der halb offen stehenden Balkontür näherte.

„Markus hat keine Ahnung, was hier vorgeht.“, zischte ich zurück. Ich betete, dass ich leise genug flüstern konnte, um nicht von dem Geisteskranken im Haus gehört zu werden. „Er weiß nichts von Helter Skelter, von Tonis Briefen. Er weiß nicht, dass Richter ein manipulatives Schwein ist. Er ist in Gefahr.“

Als ich eintrat hörte ich Silvy hinter mir zu sich selbst flüstern: „Wir sollten an deinem Überlebenswillen arbeiten.“

Dann war ich aber schon ins muffige Halbdunkel des Wohnzimmers reingeschlichen.

Es war nirgendwo ein Mensch zu sehen. Nur das übliche Chaos eines Wohnzimmers, das seit Jahrzehnten von Mister Crazy bewohnt worden war.

Ohne Witz: An der Wand hingen Hoola Hoop Reifen. Die Tapete hatte Löcher, so als habe jemand mit einem großen Messer immer wieder darauf eingestochen. Ich sah drei alte Röhrenfernseher nebeneinander auf einer Kommode stehen, deren Auflagefläche davon bedenklich nach unten gebogen wurde. Die Sofas saßen durchgesessen aus. Auf dem Dreisitzer lagen Wolldecken und Kissen. Der Zweisitzer war mit Zeitschriften belagert und nur der Einsitzer war leer, der stand aber zur großen Fensterfront hin ausgerichtet, so als würde Richter hier immer sitzen und sein eigenes Chaoskönigreich überblicken. Eine große, gelbe Jalousie war am Fenster runtergelassen. Deshalb war kaum Licht hier und wenn überhaupt, dann machte es nicht hell sondern krank.

Die Luft schmeckte danach, dass dieser Lichtzustand schon viel zu lange andauerte. Die Luft stand, war angereichert mit allem, was Ekel und Brechreiz verursachte.

Wir schlichen in den Flur und von dort in Richtung Küche. Es gab zu viele Eindrücke, als dass ich gewusst hätte, worauf sich meine Augen hätten konzentrieren sollen. Richter muss wohl so was wie ein Messi sein. Er hatte offensichtlich Probleme damit, sich von angesammeltem Zeug zu trennen.

Überall lagen Bücher, Zeitschriften, Toaster, Radios, Waffeleisen, Verpackungen von Elektrogeräten, Kinderspielsachen, Schachfiguren, Schallplatten, Bilder und Werkzeug herum. Im Flur hing von der Decke eine Glühbirne, um die herum kleine Holzmobiles baumelten. Ich drehte mich nach Silvy um, deren Gesichtsfarbe zu einem blassen Gelb gewechselt hatte. Sie hatte sich im Wohnzimmer einen Schürhaken gegriffen und klammerte sich an ihre Waffe mit Innbrunst fest.

„Hörst du was?“, fragten lautlos ihre Lippen.

Ich schüttelte den Kopf.

Das war schon unheimlich genug.

Wir hörten wirklich gar nichts. Weder Markus noch Richter oder auch nur eine tickende Uhr. Gar nichts.

Ich hielt die Augen auch nach einer Waffe offen und als wir in die Küche traten, wünschte ich mir, wir hätten alles ganz anders getan. Wir wären nicht alleine hierher geschlichen, sondern direkt zur Polizei gegangen.

Es stank wie auf einer Bahnhofstoilette.

Ich kämpfte bei diesem Gestank gegen den Würgereiz an.

Auf dem Herd köchelte etwas vor sich hin. Ein zu großer Topf für das Essen einer einzigen Person. Ich wollte nicht hineinsehen. Endlich fand ich eine Waffe: ein Fleischermesser, es sah rostig und stumpf aus, aber besser als nichts.

Dann zeigte mir Silvy die Sache auf dem Esstisch.

Es war ein Album, ein schwarzes, so ein ähnliches hatten meine Eltern früher gehabt. Aber statt Urlaubsbilder waren hier Zeitungsausschnitte gesammelt.

„Deine Texte.“, sagte sie. Und dann erkannte ich es auch. Es war die Zeitung, die wir vor Jahren als Kinder rausgebracht hatten und worin all die Dummheiten in veränderter Form erschienen waren. Ich erkannte Silvys Bilder und fragte: „Was hat das zu bedeuten?“

Auf einen Schlag begann die Musik.

Unfassbar laut sprang die E-Gitarre an. Da-Da-Da-Damm!

Er sang: „When I get to the bottom I go back to the top of the slide! Where I Stop and I turn and I go for a ride. Till I get to the bottom and I see you agaaaaaiiin!

Und eine andere Stimme begann mitzusingen: „Yeah Yeah Yeah!“

Es war mehr ein Grölen denn ein Singen.

Silvy tippte mich an.

Sie zeigte mit zittrigen Fingern auf einen Umschlag, der in dem schwarzen Album steckte. Mein Name stand drauf. Der Brief darin sah genauso aus wie Tonis Zettel von Helter Skelter. Und natürlich war es eine Nachricht an mich:

„Schreib!“, stand da. „Mach was draus! Grüße, Helter Skelter.“

„Er weiß, dass wir hier sind.“, flüsterte Silvy.

Mich wunderte höchstens, dass ich davon nicht überrascht war. Helter Skelter war verdammt gut.

„Verschwinden wir von hier.“, sagte ich jetzt und zögerte auch keine Sekunde. Ich wollte nicht wie eine dieser miesen Figuren aus Horrorfilmen sein, die mit der Freundin die Treppe nach oben geht, wo die laute Musik herkommt. Wenn Markus hier drin war, dann war es ohnehin schon zu spät. Richter hatte ihn vielleicht schon umgebracht. Und wenn nicht, wenn Markus nur an einen Stuhl gefesselt war, was hätten wir dann schon tun können? Nein, wir mussten von hier verschwinden und Hilfe holen. Wir mussten uns darum kümmern, dass Toni und Mike gefunden wurden und dass Richter von Leuten überwältigt wurde, die sich mit sowas auskannten.

Ich hatte jetzt auch keine Kraft mehr, mit einen Sinn vorzutäuschen, rauszuschleichen. Ich packte Silvys Hand und zerrte sie mit mir. Wir stürzten zurück in den Flur, diesmal aber in Richtung Haustür, weil sie näher war.

Do you, don’t you want me to love you?“, sang es durch das Haus.

Und dann sagte jemand direkt hinter uns: „I’m coming down fast,“ und schlug zu. Ich spürte, wie ich ins bodenlose fiel, wie sich alles um mich herum drehte. „but I’m miles above you!“, war das letzte, was ich noch hörte.

Aber ganz ehrlich, es ist nicht so, dass man so richtig ohnmächtig wird. Man wird nur orientierungs- und handlungslos. Man verliert das Messer aus seiner Hand und spürt, wie man auf den Rücken gedreht wird. Man hört sogar Silvy schreien und kreischen, spürt am Wind, den es gibt, dass sie sich mit Händen und Füßen wehrt. Aber man sieht auch, dass sie weggetragen wird.

Ich richtete mich stöhnend auf und kroch, haltsuchend, zu einer Wand, an die ich meinen Rücken anlehnen konnte. Als es auf einen Schlag vollständig still wurde und Silvy nicht mehr kreischte, war ich mit einem Mal wieder hellwach und bei Sinnen. Nur dass ich wehrlos und zittrig war.

„Helter Skelter! Was soll der Scheiß!“, brüllte ich und überraschte ihn damit offensichtlich. Denn er ließ Silvy wie einen Sack auf den Boden fallen und drehte sich zu mir um.

„Du bist ja noch wach?“, fragte er irritiert. Er trat auf mich zu und trat mir unvermittelt in die Seite. Der Schmerz, der mir jetzt durch den Körper jagte löste immerhin das letzte schwummrige Gefühl. Die Welt vor meinen Augen hörte endgültig auf zu wabern. Ich sah den zweiten Tritt kommen und war schnell genug, diesmal den Tritt aufzufangen. Als ich aber nach oben blickte und Markus erkannte, war ich so verblüfft, dass ich meinen Griff lockerte und er sich losmachen konnte.

„Was soll der Scheiß, Markus?“, rief ich.

Ich hörte Silvy auf dem Fußboden wimmern. Sie versuchte wegzukriechen. Ihre Bewegungen sahen unnatürlich aus.

„Hi Buddy. Schön dass du mich besuchen kommst. Na, wie geht es dir?“, und er trat noch einmal zu.

Ich krümmte mich vor Schmerz.

„Markus, hör auf.“, ich rang nach Atem, versuchte irgendwie einen Sinn hinter allem zu finden, obwohl ich eigentlich tief in mir drin, ihn schon längst gefunden hatte.

Ich wollte und konnte nicht glauben, was die einzig logische Erklärung für alles war.

„Wendy, I’m home!“, sagte Markus mit unfassbarer Gelassenheit. Dann beugte er sich zu mir herunter bis sein Gesicht ganz nah an meinem war und flüsterte: „redruM!“

Er schnellte wieder hoch und lachte.

„Ich bin wirklich froh, dass ihr beiden endlich hier seid. Nein, ganz ehrlich. Und jetzt, da ich eure Aufmerksamkeit habe, möchte ich dich herzlich bitten, dir oben im Schlafzimmer deine Schreibmaschine zu nehmen. Es gibt viel zu tun. Und was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Hab ich Recht?“

„Du bist verrückt“, kam es mir über die Lippen. „Du hast die Leute aufeinander gehetzt, hab ich Recht? Du hast alle manipuliert und dafür gesorgt, dass …“

„Dass was, Watson? Was hab ich großartiges gemacht? Ich hab nur ein paar Briefe geschrieben und … oh, Moment, warte: du verpasst meine Lieblingsstelle in diesem Lied!“

Er breitete seine Arme aus und legte den Kopf leicht in den Nacken. Dann hörten wir alle das Ende des Liedes. Und als der letzte Ton verklungen war, setzte er sich neben mich.

Wir saßen da, mit den Rücken gegen die Wand gelehnt. Und er tat so, als wären wir alte Freunde und als wäre alles in Ordnung. Als läge nicht Silvy schwer verletzt und keuchend vor uns im Dreck. Als würde sie nicht vor uns wegkriechen. Und als ob es auf der ganzen Welt keine Schmerzen gäbe.

„Du bist verrückt geworden.“, meine Worte kämpften sich hilf- und haltlos durch die Schmerzen ans Tageslicht.

„Nicht ganz.“, sagte Markus. „Kennst du den Jack-The-Ripper-Effekt?“, sein Blick war ernst und das Flackern von Euphorie war daraus verschwunden.

„Nein. Schieß los.“

Er gackerte ein Lachen. Dann erzählte er es aber trotzdem: „Jack the Ripper hat bekanntermaßen ja einige Frauen auf dem Gewissen. Und er wurde ja nie gefasst. Aber weißt du, dass kurz danach eine Welle an Gewaltverbrechen über London einbrach? Unglaublich viele Psychopathen haben gesehen, dass da einer war, der damit unfassbar viel Aufmerksamkeit erregte und sie fühlten sich motiviert, angestachelt. Und auf einen Schlag explodierte die Gewalt. Jack the Ripper hatte eine Bühne gebaut, verstehst du? Eine Bühne der Gewalt und des Grauens, der Angst und des Blutes. Eine Bühne aus Blut. Und jeder, der Blut mochte, der hat sich emporgeschwungen und hat seine Show auch abgezogen.

Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass ich ein Jack the Ripper bin, Buddy.

Ich kann keine Bühnen bauen und es gibt auch keine Bühnen mehr auf der Welt. Wir leben nicht in der Zeit des Machers. Wir leben in der Zeit der Maybes. Das ist die Jahrtausendwende, mein Freund. Alle sind glücklich und voller Zukunftsglaube. Keine Bühne weit und breit, auf der jemand wie Helter Skelter seine Show spielen kann.“

Er kicherte, weil Silvy sich an einem Schrank versucht hatte hochzuziehen und dabei kläglich gescheitert war. Schließlich kroch Silvy weiter Richtung Wohnzimmer. Markus beugte sich über mich, um sie im Blick zu behalten. Sein Hinterkopf war jetzt genau vor mir. Aber ich konnte mich nicht wirklich bewegen. Und wenn, wäre ich nicht schnell genug gewesen.

Dann war die Chance vorbei und er saß wieder mit angewinkelten Beinen neben mir und redete weiter:

„Es ist noch nicht meine Zeit. Die Zeit wird aber kommen. So jemand wie ich spürt das, wenn sich der Wind dreht, weißt du.“

„Träum weiter!“

Er tat entrüstet: „Sag so was nicht. Du bist ein wichtiger Punkt in dieser Geschichte. Ich hab dich nämlich auserwählt.“, kameradschaftlich legte er seinen Arm um meine Schulter und ich erinnerte mich an die Zeit, in der mir diese Geste keine Angst und keinen Abscheu verursacht hatte.

„Du bist so was wie ein Chronist. Wie ein Vorbote. Ich brauche jemanden wie dich. Jemand, der die Augen offen hält, der über die Welt schreibt und mir Signale gibt. Ich werd dich wohl im Auge behalten müssen und du … du wirst nach mir Ausschau halten, hab ich Recht? Two peas in a pot.“

„Ich hab da auch einen Spruch für dich“, sagte ich: „Fuck you!“

„Ok.“, sagte er und stand zu meiner Überraschung auf. Er schulterte sich einen Rucksack, den er von einem Schrank zog. „Werd ich. Ich zieh dann jetzt mal Leine. Du wirst dir die Schreibmaschine packen und schreiben, mein Freund. Du wirst der Polizei, die übrigens schon auf dem Weg ist, alles erzählen. Und du wirst feststellen, dass ich weg sein werde. Ich warte, bis die Zeit Reif ist. Bis wieder eine Bühne steht, auf der Idioten, Psychopathen, Terroristen, Massenmörder und alle anderen Chaosbringer sich bestätigt fühlen, wieder ans Tageslicht zu kommen. Und dann wird Helter Skelter seinen Job machen. Leute wie ich haben Zeit, mein Freund.“

„Psychopathen?“

„Visionäre.“, korrigierte er mich. Und dann sagte er: „Sieh zu, dass du Silvy ins Krankenhaus bringst. Kümmer’ dich gut um sie! Wer weiß, wofür sie noch gut ist.“

Dann stieg er über meine Beine und öffnete die Haustür. Grelles Licht strahlte zu uns herein.

In meinem Kopf hämmerte es stärker denn je. Aber ich sprang vor und packte ihn an den Fußknöcheln. Er stieß einen überraschten Laut aus und stürzte aus der Tür nach draußen auf den Kiesweg. Dann setzte ich ihm nach und verlor im nächsten Augenblick schon wieder den Boden unter den Füßen. Das Licht stach in meine Augen. Ich wollte nach Markus greifen, ihn irgendwie erwischen, ihn zurückhalten, ihn fertig machen. Ich wollte Silvy rächen und sein dummes Maul stopfen. Ich wollte ihm all die Schmerzen zufügen, die er anderen zugefügt hatte. Und ich wollte sehen, wie das Grinsen in seinem Gesicht verschwand.

Aber alles, was ich sehen konnte, war seine Silhuette, die sich im blendenden Licht abzeichnete und wie von sich selbst verschluckt wurde. Als meine Augen sich endlich an das Tageslicht gewöhnt hatten, lag ich mutterseelenallein in einem mit dichtem Nebel verklebten Vorgarten und mir blieb nichts übrig, als auf die Polizei und den Krankenwagen zu warten, die auch tatsächlich nicht lange brauchten.

Ich kümmerte mich um Silvy, die sich kaum noch bewegen konnte.

 

Und ich kümmerte mich um die Story.

Ich kümmerte mich um das Schreiben.

Um das Warten.

Das ewige, elende Warten.

Auf Schatten, die näher rückten.

Auf 9/11.

Auf die ISIS.

Ich wartete auf einen amerikanischen Präsidenten.

Auf deutsche Weihnachtsmärkte.

Ich wartete auf London, Paris, Mailand, Madrid.

Ich wartete und sah zu, wie die Bühne langsam gebaut wurde.

Eine Bühne aus Blut.

Um dann eines Tages wieder was von einem alten Freund zu hören, der sich mir und Silvy garantiert von hinten nähern wird. Aus dem Schatten. Mit einem Lied auf den Lippen.

Do you, don’t you want me to make you?
Then you get to the bottom
Then you see me again.

 

*

 

Hi, Markus.
Setz dich!
Wir haben uns lang nicht mehr gesehen.
Lass uns reden.
Wir haben viel aufzuholen.

 

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