Der Zwischenfall im Wald (9)

Ich war etwa acht oder neun Jahre alt gewesen, als mein Vater eine Schreckschusspistole für Silvester kaufte. Ich erinnere mich, dass er sie ganz merkwürdig auf den Handflächen gehalten hatte. Und dass diese Art sie zu halten erst den starken Wunsch in mir weckte, sie auch einmal in der Hand zu halten. Dann kam natürlich die große Ansprache, dass ich sie nie auch nur anfassen dürfte. Aber die Schublade, in der das rotbraune Kästchen mit der Waffe darin ruhte, schien jedes Mal zu pulsieren, wenn ich daran vorbei ging. Und ich wollte sie so unbedingt einmal anfassen. Dann kam aber Silvester. Und mein Vater rief mich zu sich. Ich weiß noch, dass ich mich an seinem Bein aufhielt, ganz eng an ihn gepresst, als er mit der Waffe nach dem Mond zielte und abdrückte.

Der Knall war unfassbar ohrenbetäubend, so laut und grell, dass er mir durch den ganzen Körper jagte und in den Knochen steckenblieb. Ich war von dem Wunsch, ihn zu halten, restlos geheilt. Der donnernde Krach machte dem Namen dieser Pistole alle Ehre.

Ich war damals starr vor Schreck. Keinen Millimeter konnte ich mich bewegen. Ich starrte nach oben in den Himmel, als erwartete ich, dass der Mond sich vor meinen Augen rot färben würde.

Als dann Jahre später, in dieser einen Sekunde im Wald, das Donnern genau zwischen Toni und Mike ausbrach, zuckte wieder jeder Muskel in meinem Körper zusammen, sodass ich mich anfühlte wie ein Brett.

Der Knall war aber lauter, unbeschreibbar lauter und er war gellender, tiefer und kreischender. Wie ein Raubtier jagte der Schall durch uns hindurch. Und was seine Krallen in uns bewirkten hatte mit dem Schrecken meines neunjährigen Ichs nichts gemein. Die blanke Panik krallte sich in uns hinein. Silvy stieß nahezu zeitgleich einen spitzen, hellen Schrei aus und der war es, der uns beide auf die Beine brachte.

Wir sahen nicht mehr über die Schultern. Aber das brauchten wir auch nicht. Unsere Sinne waren tausendfach verstärkt. Wenn es etwas gab, was wir wussten: hinter uns brach ein Körper leblos zusammen. Und ein anderer wurde auf uns aufmerksam.

Ich konnte die Blicke spüren, die sich in unsere Rücken einbrannten.

Silvy und ich rannten was das Zeug hielt.

Wir stürzten den Hang hinauf, zogen uns an frostigen Baumstämmen weiter nach oben und auf einen schmalen Waldweg hinan.

Wir bogen links ab. Unsere Hände waren ineinander verkrallt, ohne dass wir es spürten. Aber damit zerrten wir uns beide immer schneller werdend den Weg entlang.

Fort von der Stelle, wo wir jetzt hören konnten, wie der Überlebende uns hinterher jagte.

Keine Sekunde später bellte der nächste Schuss und ich war mir sicher, dass er uns gewidmet war. Silvy schrie und rannte jetzt den Kopf tief nach unten gehalten weiter.

Wir stürzten über Wurzeln und erlaubten unserer Flucht keine Zeit zum Stürzen.

Hinter uns waren eindeutig Schritte und noch eindeutiger: das gehetzte Atmen von jemandem, der nicht aufgeben würde, bis wir erledigt wären.

Ich kannte mich im Wald aus wie in meiner Westentasche. Ganz ehrlich! Aber der Nebel verschob die Wege, als wären wir die Spielfiguren im Verrückten Labyrinth. Ich hätte darauf geschworen, dass wir den Laufweg unseres Schulmarathons kreuzten und uns direkt auf dem Weg bergauf zum Aussichtsturm befanden. Aber dann rutschten wir auf einmal einen Hang nach unten, schlitterten auf ein ausgetrocknetes Flussbett zu und ich hatte überhaupt keine Ahnung mehr, wo wir uns befanden.

Das Laub betrog uns. Wir sanken in das Laub ein, wie in ein Treibsand. Ich verlor den Überblick. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich beerdigt.

Toni stand über mir, natürlich, wer sonst. Sie war so bleich und so gelb wie der Nebel. Sie zitterte so stark, dass sie auf die Knie zusammenbrach.

„Du.“, sagte sie einfach nur zu mir und so etwas ähnliches wie ein Grinsen zog sich über ihr Gesicht.

„Du hast Mike umgebracht.“, sagte ich. Die Luft brannte in meiner Kehle beim Sprechen. Auf einmal spürte ich die Last der zurückgelegten Hetzjagd. Es tanzte vor meinen Augen. Die klammen Blätter brannten sich mit ihrer Kälte wie Nadeln durch meine Haut. Ich wälzte mich aus den Blättern zurück an die Oberfläche, ohne dass ich etwas sehen konnte. Mein Kreislauf jagte hoch und runter. Ich sah nur tanzende Sterne und hörte das Blut in meinen Ohren sausen.

„Du hast Mike umgebracht. Jetzt sind wir wohl dran?“

„Womit denn?“, krächzte sie.

Als ich wieder sehen konnte, sah ich, dass ihre Hände leer waren. Von ihrer Waffe war nichts zu sehen.

Sie robbte auf allen Vieren auf mich zu.

„Das Ganze war Helter Skelter.“, meinte sie. „Klingt wie ne beschissene Ausrede, hab ich Recht? Aber ich hätte den ganzen Scheiß nicht gemacht, wenn …“

„Du hast den Scheiß gemacht.“, widersprach ich. Dann sah ich, dass ihr Blut aus dem Mundwinkel tropfte und dass Bauch jetzt komplett rot war. Die Kraft schien sie zu verlassen und deshalb setzte sie sich sehr umständlich und zittrig auf den Boden neben mich, den Rücken an einen moosbedeckten Stein gelehnt.

„Keine Ahnung, hab auch lange drüber nachgedacht.“, sagte sie. „Ob Helter Skelter so gut ist, dass er das Spiel mit jedem spielen kann oder eben nur mit so jemandem wie mir. Es gibt Spieler auf dieser Welt, weißt du. Und es gibt Spielfiguren. Warum nicht. Wenn es das Böse in mir war, dann hat er einfach nur das Böse rausgeholt. Und aus Mike und den andern. Tut mir leid. Tut mir ehrlich verdammt leid für euch alle.“

Ich robbte mich weiter frei und dann setzte ich mich zu ihr. Von Silvy war nichts zu sehen. Toni griff nach meiner Hand. Sie war noch kälter als das Blättergrab, aus dem ich gekrochen gekommen war.

„Es gibt Tage, da sollte man einfach nicht aufstehen, was?“

„Ich kann dir Hilfe holen.“

„Kannst du.“, sagte sie. „Lass es. Erinnerst du dich noch an die Schweine?“

Ich hatte zuerst keine Ahnung, was sie meinte. Aber dann stand auf einmal Silvy hinter mir und sie sagte: „Spring in den Schweinestall. Du hast mindestens drei Schweine auf deinem Gewissen.“

Aus Tonis Kehle kam nur noch eine Karikatur von einem Lachen heraus. Es klang jetzt, als wäre ihr Körper komplett hohl geworden und gleichzeitig, als ob die Luft nur durch ganz enge Löcher hindurchgequetscht werden musste.

„Ich hab mindestens ein Jahr lang Albträume gehabt.“, meinte sie. „Diese Schweine haben mich lange verfolgt. Dabei waren es nur Schweine. Ich meine, was soll der Scheiß? Ich hab geträumt, dass sie mir auflauern und mich fertig machen wollen. Schweine, gottverdammte Schweine. Und du hast Küken draus gemacht in deiner Geschichte. Die sind nur halb so gefährlich. Die kommen nicht zurück und jagen dich durch deine gottverdammten Träume. Wenn du einmal ein Schwein so schreien gehört hast wie ich. Das klingt wie ein kleines Kind. Wie ein echter Mensch. Das geht dir in die Knochen und so.“

Das Zittern, das ihr durch den Körper ging, wurde zu einem Beben.

„Sie ist am Sterben.“, hörte ich mich zu Silvy sagen.

Jetzt kniete sie sich auch zu uns.

Als Tonis Körper endlich aufgehört hatte zu beben, standen zu viele Tränen auf ihren Wangen. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie für kurze Zeit das Bewusstsein verloren hatte. Denn ihre Augen sahen jetzt so aus, als würde sie gerade erst wach werden. Sie blickte von einem zum andern.

„Helter Skelter.“, sagte sie. „Das ist so ein Schwein.“

Sie drückte mir meine Hand, starrte aber in Silvys Augen.

Ich begriff es erst überhaupt nicht. Erst als Silvy zu schluchzen anfing, wurde mir klar, dass Toni schon gestorben war.

 

Helter Skelter.

Silvy hatte sich auf die andere Seite zurückgezogen. Sie ertrug Tonis Anblick nicht mehr. Wald und Nebel waren undurchdringlich geworden. Totenstille. Ein Wort, so schwer wie Zentner.

Plötzlich stand Silvy auf und rannte regelrecht auf Tonis eiskalten Körper zu. Sie begann in ihren Taschen zu wühlen.

„Was machst du da?“, fragte ich tonlos.

„Helter Skelter.“, sagte Silvy einfach. Dann hatte sie offenbar gefunden, wonach sie gesucht hatte: ein kleiner Umschlag, der ziemlich mitgenommen aussah. Und innendrin eine Menge Zettel. Erst dachte ich, es wären Rechnungen. Aber es waren alles die Nachrichten vom Schwein; wie Toni ihn genannt hatte.

„Alles ganz kurze Sätze.“, erklärte mir Silvy. „Alle mit dem Computer geschrieben. Sorgfältig abgeschnittene Zettel. Er ist klug. Und ordentlich. Kaum Hinweise, wer er sein könnte.“

„Ein Typ, der Kinder manipuliert.“, sagte ich. „Das ist doch krank.“

„Genaugenommen ist es fast schon genial.“, widersprach sie mir. „Hier sieh mal: Knall ihn ab, Toni. Er hat genau gewusst, dass Toni den Zettel in Mikes Zigarettenpackung finden wird. Woher zur Hölle hat er das gewusst?“

„Ist egal.“, sagte ich.

„Was soll das? Da draußen ist ein verrückter Typ, der Katz und Maus mit Menschen spielt, der …“

„So meinte ich das nicht“, unterbrach ich sie hastig. „Es ist egal, ob er es wusste oder nicht. Oder ob sie es findet oder Mike. Stell dir nur mal vor, Mike hätte den Zettel gefunden. Dann hätte das nichts geändert. Mike und Toni und eine Pistole. Wenn Mike die Nachricht zuerst in die Hände fällt, wird er eins und eins zusammenzählen und Toni abknallen. So wie es jetzt auch passiert ist.“

„Meinst du, Mike ist irgendwo noch am Leben?“

„Kann sein, keine Ahnung.“, gab ich zu. Aber ich bezweifelte es. Wir hatten einen Schuss gehört, der uns aufgeschreckt hatte. Später noch ein Schuss. Wer weiß schon genau, was der Nebel da hinter uns verschluckt hatte? Aber ich hätte jede Wette abgegeben, dass Toni Mike getroffen hatte, hinter uns her rannte und dabei die Waffe bei Mike liegen gelassen hatte. Der zweite Schuss, den ich gehört hatte, war für Toni bestimmt gewesen. Wer sonst hätte schießen sollen?

Auch auf die Frage hatte ich eine Antwort. In dieser Geschichte war „Helter Skelter“ die Joker-Antwort, nicht wahr? Das war natürlich auch noch eine Variante der Geschichte: Helter Skelter, der irgendwo saß, alles beobachtete und notfalls eingriff, wenn die Dinge nicht ordentlich nach seinem Willen verliefen.

„Du glaubst, Helter Skelter wollte gar nicht, dass Mike stirbt, sondern Toni?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Weißt du, was Helter Skelter ist? Ein Lied von den Beatles. Eigentlich. Aber es ist auch ein wichtiger Teil der Geschichte des Massenmörders Charles Manson. Dieser verrückte Typ hat geglaubt, der Beatles Song wäre eine geheime Botschaft, die, wenn man sie richtig entschlüsselt, ein Aufruf zum Mord sei.“

„Charles Manson.“, wiederholte Silvy ungläubig.

„Ein total durchgeknallter Typ. Und ich glaube, dass unser Helter Skelter genauso durchgeknallt ist.“

Sie nickte. Dann hielt sie mir das Papier entgegen. „Da sieh mal. Was ist das? Ein Zelt?“

Ich sah, dass hinter Helter Skelter ein schwarzes Zeichen aufgedruckt war. Weil Silvy „Zelt“ gesagt hatte, kam ich erst nicht drauf, ich stand im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Schlauch. Irgendwo hatte ich das Ding schon mal gesehen, das war mir sofort klar. Weil der Anblick an einem versteckten Ort in mir drin eine Saite anschlug. Aber ich konnte nur die Vibration spüren, ich konnte nichts hören. Kennen Sie das Gefühl? Sowas ähnliches wie ein Deja-vus spüren aber nicht begreifen. Und dann sagte Silvy:

„Vielleicht hilft uns das ja, seine Identität herauszufinden.“

Und dann wusste ich, wo ich das Zeichen gesehen hatte. „Es ist eigentlich gelb!“, sagte ich und in meiner Brust begann ein unheimliches Feuer zu brennen.

„Ich weiß, wer Helter Skelter ist!“

 

„Ich bin überhaupt nicht überrascht.“, gestand Silvy.

„Er hat das gleiche Zeichen in seinem Bus.“, sagte ich. Wir rannten inzwischen wieder. Als wir von der Schule zum Waldrand aufgebrochen waren, hatte Markus uns gesagt, dass „der Schuppen da drüben ist die Burg vom alten Richter. Aber das hättet ihr bestimmt auch erraten, wenn ich es nicht gesagt hätte, wie?“

Ohja, hätten wir. Denn „Burg“ war gar kein so unpassender Ausdruck. Ein alter Bunker war dieser Wohnklotz. Und dann hatte Richter rund um sein Grundstück einen Maschendrahtzaun abgerollt. Der Briefkasten war mit Carmouflagemuster bemalt. Und neben der Tür stand ein Gartenzwerg mit Sturmgewehr und Tarnuniform.

Als Silvy und ich jetzt dort ankamen, sah ich wieder das schwarz-gelbe Zeichen. Es klebte auf der Innenseite eines Fensters.

„Ich hab’s auch gesehen.“, sagte sie. „Wieso hat Toni nicht sofort gewusst, dass Richter Helter Skelter ist?“

„Weil Richter nicht ihr Busfahrer ist sondern unserer.“

Ihre Augen blitzten auf. „Und aus unserem Bus hat keiner einen Brief bekommen!“

„Soweit wir wissen, stimmt.“

„Und was machen wir jetzt?“

„Ehrlich gesagt …“

Sie packte mich wieder und riss mich in die Deckung eines Baums. Aber ich hatte es auch gesehen gehabt: jemand näherte sich dem Haus. Ich sah, wie die Gestalt das Zauntor auftrat und dann über den mit rotem Kies bedeckten Zugang in Richtung Haustür trat.

„Was soll das denn jetzt?“, fragte ich entsetzt. Denn als die Gestalt an der Haustür ankam, erkannte ich sie. Es war Markus. Wir waren zu weit weg, um Genaueres zu erkennen. Aber wir konnten die Türglocke läuten hören, konnten Richter hören, wie er die Tür öffnete.

Und dann trat Markus ein und das Haus verschluckte ihn vor unseren viel zu weit entfernten Augen.

Die Geschichte endet mit dem 10. Teil hier!

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