Der Zwischenfall im Wald (4)

Unsere Schule nahm jedes Jahr an einem widerlichen Herbstrennen teil. Es war ein Lauf, der Mitten durch die angrenzenden Wälder verlief. Überall in den angrenzenden Ortschaften waren die Werbeschilder bereits aufgestellt. Der Slogan lautete: „Stock und Stein – Hals und Bein – Raus aus dem Haus, in den Wald hinein.“ Das war so unfassbar schlecht, dass kein Mensch sich so einen schlechten Spruch hätte ausdenken können, wenn es ihn nicht überall, weiß auf blauem Grund schon gegeben hätte. Dazu war ein unfassbar lächerliches Bild gemalt von einem durch einen stilisiert gezeichneten Wald rennenden Haus mit Schweißband um den Dachfirst.

Nicht nur Markus fand, dass das rennende Haus furchtbar aussah.

„So was darf man doch nicht mal in Horrorfilmen zeigen, oder?“

„Ich frage mich, ob das Haus verfolgt wird.“

„Mit dem Blick ist es garantiert hinter einem jungfräulichen blonden Mädchen mit dicken Möpsen her.“

Silvy verdrehte die Augen. Sie konnte Markus noch nie leiden. Aber wenn er vulgär wurde, was zufälligerweise immer genau dann passierte, wenn Silvy in der Nähe war, mochte sie ihn am wenigsten. Der Grund, warum sie aber diesmal kein Wort erwiderte war, dass sie uns allen zustimmte.

Nicht nur das Plakat war eine Zumutung, auch dass unsere Schule mit regelmäßiger Penetranz uns Schüler dazu verdammte, uns aufstellen zu lassen, war ein alle Jahre wiederkehrende Schrecken. Man versuchte uns milde zu stimmen, indem man uns jedes Jahr über Schultrikots abstimmen ließ. Außerdem gab es Sponsoren, die uns mit Limonade versorgten, die nach Chemie schmeckte und ein Sportartikelladen aus unserem Dorf, versorgte uns mit Schirmmützen auf denen FitFitFit stand und ein nach oben gereckter, wulstiger Daumen uns motivieren sollte.

Die Strecke wurde einen Monat lang geübt. Wir rannten wie die Irren durch den Wald und bekamen Tipps und Tricks für die richtige Atemtechnik. Der Lehrer wartete immer am Ziel auf uns und stoppte die Zeit. Natürlich lief er selbst nicht mit, sondern fuhr mit dem Rad um den Wald herum zum Zielparkplatz. Schon nach nur wenigen Kurven verlief sich meist die große Laufgruppe. Silvy, Sven, Markus und ich befanden uns in einem gesunden Mittelfeld. Aber wir waren an diesem Tag auch mutterseelenallein. Der Nebel hing dicht und träge über allem. Weit konnte man nicht sehen. Und was noch viel schlimmer war: er belegte den ganzen Wald mit einem glitschigen Film. Das rotgelbe Herbstlaub auf dem Boden glitzerte. Ich dachte darüber nach, dass ich es sogar genossen hätte, wenn wir einfach nur die Strecke durch den Wald spaziert wären. Aber durch das Laufen in dieser feuchtkalten Luft brannten mir schon bald die Lungenspitzen und ich musste mir in die Seite kneifen, um das Stechen zu unterdrücken. Silvy und Markus wirkten besser in Form, aber bei Markus hatten die Wangenknochen zu glühen begonnen.

Der Weg führte in eine größere Talsenke hinein, zu deren Tiefpunkt er einen scharfen Rechtsknick machte. Keine hundert Meter weiter kam die alte Brücke. Ein baufälliges Holzwerk, bei dem man über die Rundungen quergelegter Holzpalisaden zu laufen hatte. Bei diesem Wetter war das rutschiger als über Eis zu laufen. Die Rundungen waren gemeingefährlich. Aber es gab keinen Weg herum und so bremsten wir ab und waren so konzentriert, dass wir zu spät bemerkten, in was wir da hineinrannten. Kaum hatten wir die Brücke hinter uns, regnete es Kastanien auf uns herab. Nicht die Nussfrüchte wohlgemerkt, sondern die eingepackte Variante mit den stachligen Hüllen. Die erste Ladung überraschte uns und traf uns ungeschützt. Markus und Silvy schrien auf vor Schreck und Schmerz. Sven hatte sich am schnellsten gefangen und schickte wilde Flüche in den Wald. Mein Blick folgte seinem und ich konnte sehen, dass auf den oberen Hügelkämmen vier Jugendliche standen, die zwischen den Beinen Körbe, wahrscheinlich voller Wurfkastanien, stehen hatten. Die lachten uns aus und feuerten gleich eine zweite Salve auf uns, die deutlich schlechter traf.

„Das sind die Arschis vom Schulzentrum!“, rief Markus. Und Sven überholte uns und lief am äußersten, rechten Rand. „Folgt mir“, rief er. „Bis hierhin treffen die Spackos nicht.“

Aber schon eine Biegung weiter standen zwei weitere auf der rechten Seite, gackernd und mit dankbarerweise viel schlechterer Wurftechnik.

Silvy meinte: „Die können was erleben.“, verriet aber nicht, was sie damit meinte.

Dann sah ich Toni. Im Unterschied zu den anderen war sie auf einen Baum geklettert und hielt sich zwischen zwei dickeren Ästen auf. Breitbeinig stand sie da und grölte zu uns herab, während wir uns ihr zwangsweise näherten.

Ich rief: „Da ist Toni“, hatte aber auch hier die Sache falsch abgeschätzt.

Denn in Wahrheit hielt sie sich nicht an einem dicken Ast über ihren Köpfen fest und balancierte auf dem unteren. Sie stand breitbeinig mit sicherem Halt und hielt einen zweiten Stamm als Wurfgeschoss über ihren Kopf. Ehe wir reagieren konnten, schleuderte sie den Ast zu uns runter und das nächste was ich sah, war wie Sven sich filmreif überschlug. Er verschwand vom Weg unter dem höhnischen Gelächter Tonis.

Ich fluchte nur und sprang Sven den Abhang hinterher. Dabei rutschte ich eigentlich den Hang runter. In meinem Kopf war das Bild aufgetaucht, dass Sven sich bei diesem Sturz das Genick gebrochen haben musste oder sonst was.

Silvy rief hinter mir Svens Namen. Und Markus stürzte wohl Toni hinterher, denn als ich bei Sven unten ankam, war von ihm keine Spur zu sehen.

Ich sah zuerst das schlimmste: das Blut. Dann tat ich ganz automatisch das, was man nicht tun sollte. Ich drehte ihn vom Bauch auf den Rücken und sah nur noch mehr Blut. Das ganze Gesicht war voll.

Ich geriet in Panik, hörte mich schreien und zuckte zurück, als würde Sven unter Strom stehen.

„Sven, oh mein Gott!“, japste Silvy und packte sein Gesicht mit beiden Händen.

Zum Glück öffnete er die Augen. Aber er stöhnte und brachte kein Wort zustande.

Ich kramte in meinen Taschen nach Papiertaschentüchern und wir rieben ihm das Blut aus den Augen und suchten die Wunde. Es war unmöglich. Alles war rot. Und unsere Hände zitterten.

Dann war Markus auf einmal bei uns und rief: „Ich übernehme. Ihr lauft rüber und holt Hilfe, alles klar?“

„Das war Toni!“, knirschte ich. Nach Panik folgt Zorn, das kann ich schon mal sagen. Der Wechsel von der einen Emotion zur nächsten ging rasend schnell. So wie auf Einatmen das Ausatmen folgt.

„Ich weiß, verflucht.“, motzte Markus mich an. „Sie war schneller weg als Flash Gordon auf Street Hawk bei Rückenwind. Hab sie nicht mehr gesehen oder gehört. Hat sich vielleicht auch versteckt. Ich bleib bei ihm. Lass es nicht zu, dass da die Aasgeier noch einen Happen von schnappen. Aber wir brauchen Erste Hilfe hier. Also sattelt eure Pferde, Jungs, und sattelt sie gut, denn das Vieh hat sich auf den Weg zur Hölle gemacht.“

Silvy packte mich am Arm und zog mich mit sich. Zu Markus sagte sie: „Wenn die nächsten kommen, ruf dir ein paar zu dir runter.“

„Hast du etwa gerade das Gefühl, dass ich hier alleine nicht zurecht komme?“

Ich zögerte aber noch: „Sieh ja zu, dass er nicht abkratzt.“, ich fühlte mich vollkommen hilflos.

Markus verdrehte die Augen und schnauzte: „Jetzt verschwinde endlich. Du bist ja schlimmer als wenn dir ein Schwarm Hornissen um den nackten Hintern rumfliegt.“

Als ich fast oben war und Silvy mir die Hand reichte, um mich zurück auf den Weg zu ziehen, hörte ich Markus unten zu Sven sagen: „Wie du aussiehst? Verdammte Scheiße, du siehst aus wie ein Steinbruch, in dem eine Ladung Dynamit explodiert ist, Bronson!“

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