Vera Icon – Essay

Veronika litt mit. Sie litt so sehr, dass sie sich ihren Weg bahnte, vorstürzte, ihren Schleier abriss und ihn dem schmerzgepeinigten Mann im Straßenstaub reichte. Er muss wohl so schwach gewesen sein, dass er selbst nicht danach greifen konnte. Allenthalben hielt er ihr das Gesicht entgegen. Und so, wissend, dass sie keine Zeit hatte, sich ordentlich um ihn zu kümmern, drückte sie ihm wohl diesen Schleier auf sein mit Staub, Schweiß und Blut verklebtes Gesicht, um ihm zu helfen. Es muss wohl das echte, drängende Bedürfnis der Nächstenliebe gewesen sein. Zumindest liest es sich so. Durch die Flecken jedenfalls verlor der Schleier seine einst makellose Weißheit und das Bild des gequälten Mannes vor ihr auf dem Boden drückte sich ab, löste sich vom Körper und haftete nun diesem Stoff an. Durch eine eigentlich einfache Geste, die durch die Erzählung selbst symbolisch ungeheuer aufgeladen worden war, verwandelte sich der Gebrauchsgegenstand zum Bild, genauer: zum authentischen Abbild.

Die arme Veronika trug das wahre Bild des Gepeinigten mit zu sich nach Hause und hatte durch Mitgefühl eine erste unfassbar komplexe Bildtheorie, das Vera Icon, geschaffen. Es spielt für diese Theorie nur eine untergeordnete Rolle, dass der Gequälte in die Geschichte einging und sein Tod mitsamt der dazugehörigen Auferstehung eine neue Religion begründete. Es spielt auch keine Rolle, dass im 13. Jahrhundert das „Schweißtuch der Veronika“ zum Hauptziel der Pilgerreisen nach Rom wurde.

Das Vera Icon ist das Nonplusultra des Bildes. Es zeigt wie magisch das Bild sein kann. Es fängt auf, löst, ohne die Realität zu beschädigen, einen wesentlichen Ausschnitt aus der Realität und fängt diese ein, erhält sie, formt sie zu einem über die Zeit hinausdauernden Objekt. Wir tragen die Bilder mit uns herum, über unseren Tod hinaus und transportieren das Leben der Gegenwart so wie mit einer Flaschenpost durch die Zeit in die Zukunft. Wir sehen fasziniert auf Menschen, die heute nicht mehr leben. Wir sehen sie lachen und je glaubwürdiger und authentischer das Bild ist, je konkreter und exakter, je näher, näher, noch näher, ganz nah und intim es ist, umso mehr fühlen wir uns darin versunken und identifizieren uns damit. Wir sehen uns Fotostrecken an von Menschen, die gestorben sind und retten sie über den Tod hinaus. Wir haben mit den Bildern – und jetzt erst Recht mit den Bildern des Internets – unser eigenes Jenseits geschaffen, unsere eigene, kleine imperfekte Unsterblichkeit.

Leon Battista Alberti hat das in „de Pictura“ ein wenig besser ausgedrückt: „Die Malerei birgt in sich eine wahrhaft göttliche Kraft, indem sie nicht bloß gleich der Freundschaft bewirkt, dass ferne Menschen uns gegenwärtig sind, sondern noch mehr, dass die Toten nach vielen Jahrhunderten noch zu leben scheinen, (…) Und dass die Malerei der Götter, welche von den Menschen verehrt werden, uns gegenwärtig mache, das ist sicher ein hohes Geschenk für die Sterblichen.“ Ein hohes Geschenk?

Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass die nordamerikanischen Indianer sich weigerten, fotografiert zu werden, aus Angst, der magische Kasten fange mit den Bildern die Seelen der Menschen ein. Das wahrhaftige Vera Icon, nicht wahr?

Dorian Grays Gemälde hatte mehr Seele als der Mensch, nicht wahr? Es war mehr der Mensch das Vera Icon, denn das Bild, das immerhin an der Statt des Menschen älter und hässlicher wurde.

Vera Icon.

Das Bild macht uns Angst. Ich kenne einen Mann, der sich nicht fotografieren lässt. Er behauptete es immer, dass die Fotografien nie bei ihm „funktionieren“ würden. Und tatsächlich. Auf jedem Foto, gleichgültig aus welcher Perspektive, aus welchem Abstand, nie sah das Bild so aus wie das Original. Es ging einfach nicht. Es war wirklich erschreckend und so wurde es natürlich eine kleine Sportart, ihn tausendfach zu fotografieren, mit dem Handy, mit dem Fotoapparat, mit Polaroid, … in der Hoffnung, ihn eines Tages so einzufangen, wie er auch aussah.

Er gestand, dass er Angst habe, vergessen zu werden. Dass sein Leben nur einmal stattfand und dann, wenn es vorbei war, würde nichts mehr von ihm übrig sein. Auch dieses unsinnige Gerede von, die Taten würden bleiben, interessierte ihn natürlich nicht. Er redete wie einer, der keine Chance hatte, von Geburt an, in die Gene gelegt, je das Jenseits zu betreten.

Ich versprach ihm, dass es noch eine Möglichkeit gäbe, ihn zu retten.

Es gibt ja noch die Sprache. Ich brauchte ihn nur in Worte zu fassen.

Ich musste nur mitfühlen, vortreten, mich einfühlen in ihn und sein Leben. Mich zu ihm setzen. Ihm zuhören. Ihm in die Augen sehen. Ihm den Schleier aufs Gesicht pressen und mit einer handvoll Worte nach Hause zurückgehen. Mir blieb nicht viel Zeit.

Aber als die Worte da waren, aufgedruckt auf den dünnen Stoff, öffnete sich für meinen Freund eine kleine Chance auf ein Jenseits des Lebens.

 

Was sagt ihr dazu?