Der Zwischenfall im Wald (8)

Wie hatte Markus einmal gesagt: Toni ist ein Scheißemagnet. Sie zieht die Scheiße an und die bleibt an ihr kleben. Dann sieht sie so aus wie ein wandelnder Scheißhaufen. Und weißt du, was Scheiße noch macht außer zu stinken? Scheiße zieht noch mehr Scheiße an. Das ist ihr Schicksal.

Verdammt richtig.

Als Toni durch die Nebelwand trat und sich immer wieder umblickte, ob irgendwo jemand wäre, sah sie genauso aus. Ihr Gesicht war mit Schlamm verschmiert, ihre Kleider waren halb zerrissen. Sie sah furchtbar aus. Schlimmer als sonst.

So hatte sie vorhin jedenfalls noch nicht ausgesehen, oder doch?

Ich versuchte mich an ihr grinsendes, fieses Gesicht zu erinnern, als sie Keller den Ast entgegengeworfen hatte.

Toni begann jedenfalls plötzlich zu rennen und stürzte auf ihre Maschine zu. Sie stolperte, rappelte sich wieder auf und dann atmete sie erstmal tief durch. Das Motorrad schien ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Erschöpft lehnte sie sich an und ließ sich auf den Boden sinken.

Und dann sah ich es.

Silvy musste es mir angemerkt haben, denn sie presste ihre Hand noch fester auf meinen Mund.

An Tonis linker Seite baumelte lose eine Pistole. Pechschwarzes Eisen.

Bei Agatha Christie oder so hatte ich mal gelesen, dass für Frauen kleine Pistolen erfunden wurden. Kein Wunder, dass Tonis Ding ein großes, klobiges Ding war. Sie fummelte mit zitternden Fingern das Eisen von seiner Schlaufe und legte es sich in den Schoß. Dann zischte sie einen vulgären Fluch und schloss die Augen. Aber nur für ein paar Sekunden, denn dann hörten wir raschelnde Schritte näher kommen.

Mit zusammengepressten Zähnen und ziemlich umständlich stand Toni auf. So wie sie sich die Seite hielt, schien sie verletzt zu sein. Außerdem zitterte sie. Trotzdem hielt sie die Pistole nach vorne in den Nebel gerichtet, wo kurz drauf jemand auftauchte.

„Toni! Lass das. Dreh jetzt nicht durch.“

Sie lachte abfällig. „Lief ja klasse, was?“, ihre Stimme troff nur so vor abfälligem Spott. Wir sahen sie nur von der Seite. Aber es war nicht zu übersehen, dass ihre Augen vor unverhohlenem Hass blitzten.

Vermutlich war der andere einer von Tonis Kameraden. Einer von denen, die uns mit Kastanien beworfen hatten und dafür gesorgt hatten, dass wir Toni erst sehr spät gesehen hatten. Er schien jedenfalls nicht sonderlich beeindruckt von Tonis Waffe zu sein, die auf ihn gerichtet war.

„Was hast du erwartet?“, bellte der andere sie an. „Manchmal laufen die Dinge nicht so wie man es plant. Und manchmal fließt Blut eben langsamer.“

Es war ihm im Gesicht abzulesen, dass sie ihn am liebsten abgeknallt hätte. Ich hatte einen solchen Ausdruck noch nie in einem Gesicht gesehen. Es wirkte vollkommen surreal.

Vor allem verstand ich nicht, worum es hier ging.

„Hast du schon was gehört?“

„Noch nicht. Und jetzt nimm die verdammte Waffe runter! Ich hab keinen Lust auf noch einen Unfall. Hier, steck dir erst Mal das hier zwischen die Zähne und beruhig dich.“, er warf ihr eine Packung Zigaretten vor die Füße. Sie rang mit sich und entschied sich dann schließlich, auf ihn zu hören. Als sie sich wieder neben das Motorrad setzte, glühte die Zigarette bereits in ihrem Mundwinkel.

„Denkst du manchmal drüber nach?“, fragte sie ihn.

„Worüber?“

„Helter Skelter.“, sagte sie.

„Klar.“

„Und was denkst du drüber, Mike?“

„Du willst gar nicht wissen, was ich drüber denke. Du willst wissen, was ich dabei fühle. Hab ich Recht?“

Toni zuckte mit den Schultern. „Hast du Schiss?“

„Nur Idioten haben das nicht. Toni: Bis eben hab ich dich zum Beispiel für einen Idioten gehalten.“

Sie rauchte jetzt schweigend weiter. Und als die Zigarette in ihrem Mund abgebrannt war, schnippte sie den Filter zu uns hinter die Jungfernmauer.

„Mir gefällt es nicht.“, sagte Toni. „Ich werde nicht gern … ich meine, es fühlt sich falsch an. Ferngesteuert.“

Mike lachte.

„Du ärgerst dich, dass es nicht deine eigenen Ideen sind? Unfassbar. Stell dir nur vor, du hättest damals den ersten Zettel ignoriert. Wir hätten uns nie kennengelernt und du hättest dich nie in mich und mein Lächeln verliebt.“

Sie gab ein würgendes Geräusch von sich.

„Nur um dich wieder auf den Boden zurückzuholen: wenn du lächelst machst du deine Augen so klein wie ich beim Kacken.“

Er lachte wieder, diesmal aber viel zu laut, als dass es ehrlich amüsiert klingen würde.

„Und außerdem hab ich den ersten Zettel ignoriert.“

Erst hatte er es wohl nicht wirklich verstanden, denn es dauerte ein wenig, bis sich auf seinem Gesicht die Überraschung breit machte.

„Wie? Was hast du?“

Der Typ hat so genervt, dass ich irgendwann gedacht hab: scheiß drauf.“, erzählte sie. „Das waren aber so gut zwei Monate. Jede Woche tauchte ein neuer Zettel mit dem selben Spruch bei mir auf. Man hat mir doch nicht ins Gehirn geschissen, Alter. Ich lauf doch nicht los und mach alles, was auf so einem verdammten dahergeflogenen Zettel draufsteht. Geh ins Center und kauf dir in der Drogerie eine Cola. Ich bin zwei Monate lang gerade absichtlich nicht hingegangen. Hab ’nen Bogen um das die überdachte Innenstadt gemacht, nur weil es auf diesen Zetteln draufstand.“

„Immer der gleiche Spruch?“, fragte Mike.

„Immer der gleiche. Immer die gleiche Handschrift. Nie etwas anderes. Ausdauer hatte der Kerl ja. Dann hab ich gedacht, scheiß drauf. Lass mal sehen, was passiert.“

„Helter Skelter?“

„Ja. Ich hab mir die Cola gekauft, hab mich umgeschaut wie ne Diebin. Die haben mich sogar vom Hausdetektiv beschatten lassen. Hab’s genau gesehen, wie die Kassiererin mir den Typen hinterhergeschickt hat. Hab mir die Cola gekauft und bin heimgegangen. Nix. Hab gedacht, kannst mich mal.“

„Und dann hast du die Cola getrunken.“

„Dann hab ich die Cola getrunken.“, sie nickte und wieder ging dieses Zittern durch ihren Körper.

„Mich würd echt interessieren, wie er das immer macht.“, sagte sie.

„Ist ein verdammtes Genie.“

„Als ob er gewusst hätte, dass ich genau die Cola nehmen würde.“

„Was stand auf dem zweiten Zettel?“

Schöne Grüße von Helter Skelter. Na, Toni, bist du jetzt endlich beeindruckt? Lust auf Runde zwei? Und dann die nächste Challenge.“

„Sicko.“, sagte Mike.

„Kannste laut sagen.“

„Wo war der zweite Zettel?“

„Das Etikett. Es stand auf der Innenseite des Etiketts. Als die Flasche leer war, konnte ich’s lesen.“

„Der Kerl ist ein verdammtes Genie.“

„Er ist ein Arsch wie alle anderen Arschlöcher auch.“

„Ich war direkt dabei.“, sagte Mike. Und er wollte seine Geschichte gerade anfangen zu erzählen, als sie ihn anfauchte: „Interessiert hier im Wald keinen Schwanz. Halt die Klappe, Mike.“

„Rauch noch eine.“, knurrte Mike. „Wenn du die Stange im Mund hältst, hältst du wenigstens die Klappe und man kann es mir dir aushalten.“

„Hab keine Ahnung, was dich so dumm macht, Mike. Aber es funktioniert.“, trotzdem angelte sie nach der auf dem Boden liegenden Packung und klopfte sich eine Zigarette aus der Packung.

Die Zigarette rutschte nur ein Stück raus. Als sie mit zittrigen Fingern dran zog, fiel ein kleiner Papierfetzen hinterher. Beide erstarrten.

„Ist nicht dein Ernst.“, zischte Toni. „Wo hast du die Packung her?“

„Gestern gekauft.“, Mike war von Toni und dem Zettel weggerückt, als wäre eine Spinne zwischen sie auf den Boden gefallen.

„Hast du den da reingemacht?“

„Verdammt, nein! Der ist von Helter Skelter.“

Toni stand auf und rieb sich mit den Handballen über die Augen.

„Ich hab keinen Bock mehr auf dieses Spiel.“, sie wandte sich von Mike ab und starrte nun in den Wald und den Nebel hinein.

„Hörst du mich?“, brüllte sie mit kehliger, kratziger Stimme. „Ich hab keinen Bock mehr auf deinen Scheiß, Helter Skelter.“

„Boah, verdammt, das kriecht dir unter die Hirnhaut.“

„Halt die Fresse!“, kreischte sie ihn an. „Halt deine verdammte Fresse, Mike. Du hast keine Ahnung, was eine Hirnhaut überhaupt ist. Also laber nicht so einen verdammten Mist.“ Und dann wieder in den Wald hinein: „Verschwinde aus unserem Leben, du mieser kleiner Pisser.“

Mike war aufgesprungen und zu ihr rübergelaufen. Er versuchte sie erst zu beruhigen, aber nur kurz. Denn sie begann ihn zu schlagen und zu kratzen, sie stieß ihn von sich und er kam ihr immer dichter auf die Pelle. Seine Hand versuchte ihren Mund zuzuhalten und sie beschimpfte ihn, seine Mutter, seinen Vater, seine Gene, einfach alles.

„Du bist irre!“, fuhr er sie an. „Du bist total durchgeknallt.“

„Ich hab keinen Bock mehr! Hast du gesehen, was er uns tun lässt? Hast du gesehen, was alles passiert ist, seitdem?“, brüllte sie zurück. Mike versuchte ihre Hände fest zu halten. Sie zog sie weg, fuhr herum und verlor das Gleichgewicht. Sie taumelte rücklings gegen die Jungfernmauer direkt über uns und er griff nach ihr, damit sie nicht fiel. Allerdings erwischte er nur ihren Pullover unter der geöffneten Jacke und während sie fiel, hörten wir das Zerreißen von Stoff.

Mit einem lauten Schmerzensschrei schlug sie auf dem Boden auf und er prallte von dem Anblick zurück.

„Du … Toni … scheiße, was ist passiert?“

Sie lag vor ihm auf dem Boden und endlich konnte er das viele Blut sehen, das ihr aus der Seite kam. Sie hatte sich einen Notverband um die Hüfte gewickelt, aber der war jetzt auch schon durchtränkt.

„Helter Skelter ist passiert.“, sie quetschte die Worte durch den Schmerz heraus. Mike kniete sich wieder zu ihr und sah sich die Wunde genauer an. „Ich bin gerannt, als wär der Teufel hinter mir her gewesen. Und dann bin ich am Treffpunkt angekommen. Die anderen waren vor mir da gewesen. Schmitti lag aufm Boden und Ullrich stand über ihn gebeugt da. Ich hab zu spät begriffen, was da los war. Und war so scheiße dämlich, nach Ullrich zu rufen. Was ist passiert, hab ich gerufen. Hab mir echt Sorgen gemacht, ich Idiot. Und dann dreht sich Ullrich zu mir um, zieht seine gottverdammte Waffe und schießt auf mich.“

„Er hat was?“, rief Mike, der es nicht fassen konnte.

„Na was wohl?“, hat einfach abgedrückt. „Aber im Umdrehen kannst du nicht treffen. Nicht richtig jedenfalls. Du siehst es ja: ich hab’s überlebt.“

Mikes Blick fiel auf Tonis Waffe, die drüben beim Motorrad immer noch auf dem Boden lag.

„Ullrich …?“, es war die nicht ausgesprochene Frage nach dem offensichtlichen Ende der Geschichte. Und Tonis Grinsen war nur der erste Teil einer Antwort. Dann griff sie in die Jackentasche und zog einen Zettel raus, kaum größer als der, der immer noch ungelesen hinten bei der Zigarettenpackung lag.

Mike las die Worte und knüllte das Papier dann zusammen.

„Warum sollte Ullrich das tun?“

„Und warum hat er es getan? Ist das nicht die Frage, Mike? Warum hat er’s getan? Warum hat er Schmitti ein Loch in die Brust gejagt und dann auch noch versucht, mir ein Windloch zu pusten?“

„Helter Skelter. Ich sag’s dir, der Typ kriecht dir unter die Hirnhaut.“

Endlich half er ihr hoch, oder besser: endlich ließ sie sich von ihm helfen. Sie schleppten sich zum Motorrad zurück. Und dort fragte Toni endlich nach: „Mike: Warum machst du mit bei diesem Mist? Du hast gesagt, dass du die erste Challenge schon mitgemacht hast. Warum?“

„Am Anfang war es einfach nur witzig, ok? Es war mal was anderes. Zuerst war es ja auch harmlos. Dann kam ein Nervenkitzel dazu und dann … dann bist du irgendwann drin.“

„Das ist nicht alles, oder? Sag mir die Wahrheit, Mike.“

Das Schweigen hing wie eine Gewitterwolke über ihnen. Wir konnten hören, wie die beiden atmeten und wie sie die Nasen hochzogen. Der Nebel hatte sich auch wieder etwas dichter zusammengezogen.

Es war alles in allem eine total ungemütliche Stille.

Schließlich atmete Mike tief durch und reichte Toni einen Umschlag.

„Ein Foto?“, irritiert zog sie das Polaroid aus dem Umschlag und starrte es an. „Wer ist das?“

„Meine Schwester.“, sagte Mike. „Sie liegt da in ihrem Bett und schläft. Helter Skelter hat das Foto gemacht und es mir geschickt, als ich eine seiner Challenges mal nicht sofort gemacht hab.“

„Ich versteh’s nicht?“

„Dann sieh mal, was neben ihrem Bett steht.“

Es dauerte nur kurz, dann machte Toni „Oh!“

„Das ist eine ganz miese Nummer, Toni. Das da, genau das da wird er tun, wenn ich nicht mache, was Helter Skelter verlangt. Er war schon ihrem Schlafzimmer, Toni. Er hätte es schon tun können. Und er wollte, dass ich das verstehe. Wenn ich nicht mache, was er sagt, dann wird das, was auf dem Bild ist, wahr.“

Toni reichte ihm das Bild wieder zurück.

„Er ist dir unter die Hirnhaut gekrochen, wie?“

„Und da sitzt er jetzt und es juckt wie verrückt. Mitten im Kopf drin. Wo du dich nicht kratzen kannst. Wo das Jucken immer schlimmer wird und du dir am liebsten das Hirn aus dem Schädel ziehen willst, nur damit es aufhört.“

Ruckartig und ohne Vorwarnung machte Toni einen Satz, sie riss das Papier vom Boden auf und sprang, ohne Mike den Rücken zuzukehren, ein paar Schritte von ihm weg.

„Sei wenigstens so fair und lies es laut vor!“, murmelte er.

Sie faltete das Papier ohne hinzusehen auf. Und las laut vor:

„Knall ihn ab, Toni. Die Geschichte ist fast vorbei. Liebste Grüße, Helter Skelter.“

„Wir können jederzeit aussteigen, Toni. Hab ich Recht?“, er lächelte bitter. Denn seine Stimme verriet, dass er sich nur über diesen Satz lustig machte.

Helter Skelters Worte fielen in Zeitlupe auf den Boden.

Toni und Mike sprangen beide vor in Richtung Pistole.

Wer als erstes die Waffe erreichte, würde überleben. Mike kam als erstes in Bewegung, Toni sprang über ihren eigenen stechenden Schmerz in der Seite hinweg auf die Waffe zu.

Silvy zuckte zusammen und sah nicht hin. Sie vergrub ihr Gesicht in meiner Seite. Sie lag in Fötushaltung neben mir. Und ich starrte durch die Lücken in den Steinen der Jungfernmauer hinweg durch die eiskalte Herbstluft hindurch auf den einen Punkt in der Welt, der über das Leben und den Tod zweier Menschen entscheiden würde. Und zwar genau in der nächsten Sekunde.

Teil 9 kommt hier!

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