Die 90er

In den 90ern hatten die Jungs Poster von Rennwagen in ihren Zimmern hängen. Hätten sie Handys gehabt, hätten sie die Bilder dort immer mit sich herumgetragen. Sie hätten die Bilder hin und her geschickt, getauscht, geteilt. Die Zahlen und Daten der schnellen Maschinen konnten sie besser auswendig als die Formel für die Integralrechnung.

Seien wir ehrlich: man merkt sich immer das, was man sich merken will.

In den 90ern wollten die Jungs wissen, wie leistungsstark die Maschinen sind, wie windschnittig und kurvenlagig die roten und die Silberpfeile auf der Straße lagen. Oder sie kannten alle Pokemonnamen auswendig. Und die Erwachsenen verdrehten die Augen und jammerten, wenn sie doch nur die Französischvokabeln genauso gut drauf hätten, wie diese japanischen, umständlich über die Zunge und den Gaumen rollende Laute. Es gab Studien, dass Pokemon ihnen tatsächlich geholfen hätte, japanisch zu lernen, weil die Namen allesamt Wortspiele zu echten japanischen Wörtern darstellte. Die Lehrer jammerten, dass es kein französisches Pokemon gab.

In den 90er Jahren wurden genauso unnötige Dinge gesammelt wie in den Jahren davor und danach. Die Trading-Card-Ära begann zum Beispiel. Aus dem hintersten Ecken der Fantasy-Rollenspiele wälzten sich komplexe Kartenspiele an die Mainstreamoberfläche und erlebte mit der Anime-Merchandise-Serie Yu-Gi-Oh ihren Höhepunkt. Man sammelte Spielkarten, sortierte sich ein sogenanntes Deck und je nachdem welche Karten man im Deck hatte, war man dem Gegenspieler gegenüber im Vor- oder Nachteil. Je mehr Karten man sammelte, umso mehr Strategien lagen einem als Möglichkeit vor. Umso stärker konnte man sein Deck machen, umso eher gewinnen. Man kaufte Karten, man sammelte, man tauschte. Man bewunderte die Bilder. Man spielte Kämpfe. Man kämpfte, man gewann. Zwei Jahre später verkaufte man die Karten über Ebay und weil man früh angefangen hatte, waren ein paar Sammel-Kostbarkeiten darunter. Man erzielte Gewinn. Der Homo ludens mutierte zum Homo oeconomicus.

In den 90er Jahren war alles friedlich. Man nannte die Jugend Generation X. Man nannte sie Wohlstandskinder.

Die Millenials waren deren Kinder.

Sie hatten Handys.

Sie sammelten Bilder von dem, was sie interessierte. Und die Erwachsenen verdrehten genauso die Augen wie in den Generationen davor. Man lächelte, weil man sich erinnerte, wie die Erwachsenen damals die Augen verdreht hatten.

Jetzt sammeln sie eben andere Dinge.

Auf den Handys teilen sie sich die Pläne von Bomben und tauschen sich aus über Explosionskraft und Wirkradius. Man kann Maschinenbauteile benennen und kennt den Zusammenhang zwischen elektronischen Zündern und Explosivlinsen.

Die Physiklehrer jammern, dass es ihnen lieber wäre, wenn die Jugend die Gravitationsgesetze Newtons genauso gut draufhätten wie die Zerfallszeiten von Plutonium 239 und Uran 235.

Die Jungs sammeln keine Namen von Toten oder von zerbombten Städten. Aber sie sammeln die Meinungen über politische Umstände, von denen sie genauso wenig Ahnung haben, wie die 90er damals wussten, dass „pikapika“ die japanische Onomatopoesie für das Geräusch eines elektrischen Funkens ist.

Man kann sich die Meinungen aus dem allseits zugänglichen Internets runterladen und genau wie die 90er so taten, als redeten wie ihre Lieblingsfigur aus dem Fernsehen und man sich einander gegenüberstellte und rollenspielte, stehen sich heute die populärpolitischen Lager wie in einer Yu-Gi-Oh-Arena gegenüber, nur dass keiner mehr „Blauäugiger weißer Drache“ mehr ruft. Sondern die Namen von Staats- und Regierungschefs. Und es sind keine Karten mehr in den hohlen Händen, die auf die Tischplatte krachen. Und es weiß keiner mehr, dass es nur ein Rollenspiel ist.

Wenn sie doch nur die politischen Hintergründe verstünden und wüssten, was ihre Meinungen eigentlich bedeuten, jammerten die Politik- und Sozialkunde- und Ethik-Lehrer verdrossen.

Die Millenials spüren aber, dass ein Rollenspiel keine Konsequenzen hat.

Konsequenzen waren in den 90ern auch unbekannt.

Michael-Schumacher hatte auch erst nach dem 90er Fandom seinen Unfall. Und da stand er auf Skiern und er war auf einer anderen Piste.

In den 90ern standen auf den Ordnern der Kids Tarantino, Hesekiel 25.17 und jeder dritte konnte das auswendig.

Die Millenials glauben, sie kennen Sure 2, 191.

Die 90er hatten keinen Plan von der Zukunft.

Die Millenials auch nicht.

Und keine Generation davor oder danach.

7 thoughts on “Die 90er

  1. Das mit dem Zeitgeist ist sehr ironisch.
    Das Ermessen der Zukunft scheint immer eine Expansion der Gegenwart.
    Der Ritter des Mittelalters würde wohl glauben dass wir in der Zukunft,
    auf mechanischen Pferden reiten aber das Automobil würde er nicht kommen sehen.
    Auch in der Sci-Fi lässt sich das gut beobachten.
    In dem Film Alien sehen wir beispielsweise allerlei analoge Zukunftstechnologie,
    aber die digitale Technik hätte niemand vorausgeahnt.
    Wir glauben immer an die Weiterentwicklung und damit an den Fortbestand.
    Aber die Veränderung werden und können wir nicht kommen sehen.
    Die Entwicklung zeichnet sich nämlich weniger durch Weiterentwicklung aus,
    durch immer bessere Nutzung des Bekannten,
    als durch immer wieder neue Eigenheiten und Ablösungen.

    Wir glauben immer die Zukunft sei eine Fortsetzung der Gegenwart,
    aber eigentlich ist sie die stetige Neuerfindung.

    • Sehe ich genauso. Es gibt immer Paradigmen, von denen wir uns einen Wechsel nicht vorstellen können. Und es gibt immer Sektoren, die irgendwo im Hintergrund laufen und plötzlich populär werden. Zu deinem Beispiel Mittelalter: Hätte man sie nach der Zukunft befragt, hätten sie sich ein elektrisches Pferd zwar theoretisch vorstellen können, aber ihre Weiterentwicklungsfiktionen hätten sich eher auf andere Bereiche beschränkt: Waffen, Rüstung, Burganlagen, Dorfstrukturen, Stadtentwicklungen. Dass ein Auto überhaupt notwendig wäre, wäre bereits das berühmte „thinking outside the box“ gewesen.
      Desungeachtet: Mir ging es hier mehr um ein aktuelles ethisches und soziales Phänomen. Und ich hatte die Hoffnung, dass meine Sicht eher zynisch ist als ironisch 😉 Natürlich auch überspitzt und nicht konkret. Aber doch ein Trend.

      • Ich hab dich verstanden und dein Thema etwas verwirbelt. Die Anmerkung war hoffentlich dennoch erwünscht.
        Nur ist die Entwicklung der Technologie einfach viel bildhafter als die Ethische oder Soziale. Das Wesen der Sache bleibt sich aber gleich.

        So zynisch finde ich deine Sicht gar nicht.
        Aber das mag daran liegen dass ich selbst recht zynisch bin. Ich fand deine Gedanken sehr formschön.

        • Anmerkungen sind immer erwünscht!! Selbst wenn es andere Meinungen wären, wie soll man sonst über seine eigenen Tellerrände gelangen? 😜
          Hab schon gemerkt, dass du einen ähnlichen Zynismus an den Tag legst.
          Du hast Recht: das elektronische Pferd ist deutlicher als die ethische Ebene es sein kann. That‘s the challenge!

  2. In den 90ern waren wir schon recht naiv. Nicht dass das die Jugend von heute nicht auch ist, nur lebten wir damals eben in einer Welt, dir es so heute nicht mehr gibt. Natürlich hast du recht, wenn du sagst, dass das immer so ist und auch immer so sein wird. Nur können wir eben nur auf die Vergangenheit nostalgisch zurückblicken. Unsere Kinder werden das vermutlich auch tun, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass die heutige Welt irgendeine Form von Nostalgie wird auslösen können. Nicht bei dem aktuellen Stand der Dinge.

Was sagt ihr dazu?