Die Brosche (2)

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Uboldo hatte wenig Freunde. Aber die wenigen waren von der Art, auf die man zählen konnte. Alessia di Vicenco war sogar eine ehemalige Geliebte. Eine von den wenigen Festen und die einzige, mit der er nicht nur verdammt guten Sex gehabt hatte, sondern auch heute noch ganz gut stand. Sie hatte ihn immer gemocht, obwohl er ihr genug Gründe gegeben hatte, ihn zu hassen. Und dafür war er ihr wirklich dankbar. So dankbar, dass er an diesem Abend mit einem wirklich schlechten Gewissen durch das schmale, schneckengewundene Treppenhaus zu ihrem Appartement hochstieg. Er hatte ursprünglich vorgehabt, ihr die Geschichte mit der Alten vorzuenthalten, weil er sich schon ein wenig dafür schämte, wie er die Alte behandelt hatte. Aber Alessia war auch am Telefon nichts vorzumachen gewesen. Sie hatte mit dem besten Gespür die richtigen Fragen gestellt und so lange gestochert und ihn beschimpft, bis es ohnehin egal war, was sie über die Geschichte mit der Alten dachte.

Natürlich hatte sie ihn für sein Verhalten ausgeschimpft und ihm dann absurderweise im gleichen Atemzug angeboten, das gute Stück näher zu betrachten. Diese ganzen Widersprüchlichkeiten waren typisch Alessia, weshalb er auch nicht weiter darüber nachdachte, sondern nach dem Telefonat sofort zu ihr aufbrach. Das dunkel gewordene Genua wirkte noch trostloser und unheimlicher als das helle.

Die Gassen waren noch enger und die Luft noch stickiger. An den großen Touristenplätzen gab es wenigstens ein paar geöffnete Pizzarien. In der großen Fußgängerzone wenigstens Leben und Discos und Schwule und Transvestiten, die einen ansprachen. Aber Uboldos Leben spielte sich größtenteils nicht in dem lebhaften Teil der Stadt ab, sondern hier unten, wo die Vergangenheit zwischen den großen Bruchsteinen verweste und es sich so anfühlte, als lebe man wie ein Käfer in dem abgestorbenen Teil großen Wurzelgeflechts einer viel zu groß und alt gewordenen Pflanze. Die Familie Uboldo war ein Teil der Altstadt, nicht der Touristenstadt. Sein Vater sagte immer, dass ein echter Genuese kein echter Italiener sei. Ein echter Italiener macht immer so, als ob sich alles nur um Tourismus dreht. Ein echter Genuese dreht sich höchstens vom Tourismus weg. Zumindest wenn er Stolz hat! Die Uboldos hatten ein eigenes Stolz-Gen.

„Du siehst immer so wütend aus.“, sagte Alessia zur Begrüßung. Das gehörte dazu, dachte Uboldo. Stolz zeichnet Gesichter immer wütend. Immer.

Alessias Appartement war im vierten Stock. Die Tür war schon mehrmals aufgebrochen worden. Jetzt hing sie halb aus den Angeln, war notdürftig mit vielen angeschraubten Schlössern gesichert und Alessia lehnte gegen den schäbigen Rahmen. Sie wohnte hier allein, war aber keine leichte Beute. Sie verdiente sich ihr Geld als DJane und als Tätowiererin. Das bedeutete auch, dass sie selbst gut tätowiert war und einen verdammt harten Eindruck machen konnte. Um ihren Hals trug sie einen dünnen Schriftzug: See you in Hell. Zwischen den Schulterblättern tanzte ein ZombiePinUp Girl im Rockabilly Stewardess-Outfit. Auf den Armen waren Rosen, auf den Waden eine Spraydose und ein Totenschädel mit Schmetterlingen, die aus den Augenhöhlen traten. Und dann gab es noch ein rauchender Bugs Bunny, von dem nur eine handvoll Männer überhaupt wussten, dass es ihn auf ihrem Körper gab.

„Jede Woche ein neuer Tiefpunkt, was?“, meinte sie als er eintrat.

„Hatte keinen Bock drauf, überholt zu werden.“, er hoffte, dass sie das verstehen würde. Gleichzeitig wusste er nur zu gut, dass es kein Ehrgeiz war, der ihn hatte handeln lassen. Wäre er ehrgeizig gewesen, hätte er einen Preis genannt und die Sache wäre vorbei gewesen.

„Zeig den Klunker mal her.“, sagte Alessia einfach nur und Uboldo warf ihr die Brosche zu, die sie geschickt auffing.

„Hässlich.“, sagte sie sofort.

„Sollst es ja auch nicht behalten. Hast du noch Bier im Kühlfach?“

„Nimm, was du findest.“, was soviel wie bedeutete wie Nein. Trotzdem schaute er nach und wurde nicht enttäuscht. Außer Soyamilch und ein spärlich gefülltes Gemüsefach war nichts da. Also öffnete er noch ein paar Schubladen und fand am Ende einen halbgefüllten Kasten mit Cider auf dem Balkon. Immerhin etwas. Er machte es sich leidlich auf dem schmalen Balkonviereck gemütlich und drehte sich erstmal eine Zigarette.

Den ganzen Tag über hatte er das mulmige Gefühl gehabt, dass ein Unwetter über seinem Leben aufzog. Sowas konnten vielleicht wirklich nur hässliche alte Frauen hervorrufen. Oder Zigeunerinnen. Und er schämte sich dafür, dass er so anfällig für dieses ungute Gefühl war.

„Was ist das Teil Wert?“, rief er über die Schulter nach drinnen. „Oder kennst du jemand, der mir das sagen kann?“

„Wie kommst du auf sowas?“

„Du kennst sie doch von allen Sorten.“

Nach ein paar Minuten setzte sie sich zu ihm auf den Balkon und futterte Chips aus einer Trommel. Dann gab sie ihm die Brosche zurück.

„Ich kenn da vielleicht tatsächlich einer, der dir was über das Ding sagen könnte. Hab mal mit einem geschlafen, der für de Beers gearbeitet hat.“

„Ich will keine Details.“, sagte Uboldo angewidert. Und dann, nach ein paar Rauchzügen. „Echt jetzt, de Beers?“

„Ich dachte, vielleicht springt was für mich raus.“

„Hast du mal nen echten Diamanten in der Hand gehabt?“

Sie blies des Rauch aus der Nase und grinste. Bevor sie antworten konnte, winkte Uboldo schnell ab.

„Keine Sprüche, Alessia. Ich seh dir an, dass du mir jetzt irgendwas Ungezogenes sagen willst. Aber da hab ich heute keine Geduld, verstehst du?“

„Wieso denn so nervös? Sonst bist du doch die Ruhe selbst.“

Das Biestische an diesem Satz war die stumme Erinnerung an all die begründeten Vorwürfe, die sie ihm je gemacht hatte. Und deshalb machte Uboldo hier den Mund nicht mehr auf.

Er war schon immer der Stumme gewesen. Der, der nach Außen hin so gleichmütig wie ein Felsbrocken daherkam. Und ganz viel war da seine äußere Erscheinung auch schuld. Er war groß gewachsen und hatte im Studio ein paar Muskeln mehr als andere aufgebaut. Dann war da sein Vollbart, hinter dem sich sein schmallippiger Mund gut verstecken konnte. Und die dunklen Augen, die wie kleine Knöpfe unter den Lidern hervorlugten, so als habe er nie die Augen ganz geöffnet.

Es war leicht, ihn für einen Stein zu halten, weil er schon wie einer aussah. Alles Menschliche hatte die ihm Natur ihm schon von selbst verborgen.

Dass es in ihm öfter brodelte als bei anderen Menschen, konnte er gut hinter dieser zu nur wenigen Gesichtsausdrücken neigenden Maske gut verstecken. Aber wenn auch vor vielen, so nicht vor allen.

Alessia kannte seine volle Bandbreite. Sie kannte den glühenden Zorn und das aufbrausende, hitzige Temperament, den dünnhäutigen Stolz und die kahle Stelle, wo eigentlich Zärtlichkeit sein sollte. Sie hatte ihm immer gesagt, dass er vieles konnte, aber nicht weich sein.

„Wann will die Alte denn wiederkommen?“

„Was meinst du?“

„Na, bis wann musst du wissen, was das Teil Wert ist? Wann kommt sie für das entscheidende Angebot?“

„Keine Ahnung, ob.“, antwortete er brummend.

Das, was Alessia da dachte, wäre die klügere Alternative gewesen.

„Wenn ich auch nicht viel weiß“, sagte er irgendwann. „Dann, dass sich für ein wertvoller Scheiß immer ein wertvoller Kunde findet. Hauptsache ich weiß erstmal, was das Teil da wert ist.“

„Klar, mit sowas kennst du dich aus.“, spottete sie. „Wann hast du das letzte Mal denn was Wertvolles besessen? Ich erzähl dir jetzt mal was. Mein Vater hat sein Leben lang Briefmarken gesammelt, bis er am Ende ein Buch fertig hatte, das ein paar Tausender eingebracht hätte. So stand es jedenfalls in Büchern, die Leute geschrieben hatten, die angeblich Bescheid wussten. Er hat es versucht für diesen Preis loszutreten. Aber es war niemand da, der es kaufen wollte. Und weißt du, wie die Geschichte ausgeht? Er ist gestorben mit einem Buch voller Briefmarken und mein Bruder hat das Buch verramscht für einen Satz Winterreifen. So sieht’s nämlich aus. Deine Brosche ist immer nur so viel Wert, wie die Leute bereit sind, dafür springen zu lassen.“

„Als ob du wüsstest, wer dein Vater überhaupt ist.“, knurrte Uboldo, der schon wieder die selbe Wut wie heute Mittag spürte.

„Fick dich.“, rief Alessia wütend aus. „Du weißt auch nicht, wann dir einer helfen will.“ Und dann tippte sie auf ihr tätowiertes Halsband mit ihrem Mittelfinger.

„Bis jetzt hast du mir nicht mal n Bier anbieten können.“, maulte er zurück.

Sie lehnte sich jetzt weit zurück und grinste ihn stumm an.

Er wollte gerade die unerträgliche Stille zwischen ihnen mit der Frage unterbrechen, was dieser Scheiß denn jetzt schon wieder sollte, als es an der Tür klingelte.

„Das ist er.“, sagte sie, stand auf und ging zur Tür.

„Das ist wer?“, sie gab keine Antwort. „Wer ist das, zum Teufel noch eins?!“

Sie kam mit einem kleinen Mann zurück, der ihn schief mit einem zahnlückigen Froschmaul angrinste.

„Guten Abend.“, sagte der Fremde und Alessia sagte: „Das ist Onkel Tom. Onkel Tom, darf ich dir Federice Uboldo vorstellen? Er besitzt einen Ramschladen in der Via Fiori, wo er behauptet, dass er kleine, altertümliche Kostbarkeiten zum Verkauf anbietet.“

„Sehr erfreut.“, zischelte der Fremde, der weder wie ein Onkel, erst recht nicht wie ein Tom aussah. Der Fremde war klein und gedrungen, so als wäre dort, wo er sich befand, die Schwerkraft immer viel größer als sonstwo. Der Kopf saß auch komplett ohne Hals auf seinen Schultern. Dazu trug er diesen schwarzen Anzug mit einer weißen Kravatte auf einem roten Hemd. Er trug eine Brille, die nur unter den Brillengläsern ein Horngestell hatte. Die Ohren waren etwas zu groß für den kugelrunden Kopf. Im linken Ohr trug er zudem ein durchsichtiges Hörgerät.

Mit einer umständlichen Bewegung zwängte sich Onkel Tom auf den Balkon und an dem bewegungslosen Uboldo vorbei ans Geländer. Dort stellte er sich mit dem Rück so an, dass die Ellbögen hinter ihm auf dem Geländer ruhten. Er machte eine Bewegung, die so aussah, als wolle er den Kopf schräg legen und sein Grinsen wurde beinahe noch breiter und unangenehmer. Es war fast so, als würde jeden Augenblick eine klebrige, lange Zunge hervorschnellen.

„Sie sind der de Beer Typ?“, riet Uboldo. Dann, noch ehe jemand etwas antworten konnte, erinnerte sich Uboldo, was ihm Alessia über den Typen gesagt hatte. Und jetzt fragte er sie: „Das ist der de Beer Typ? Ist jetzt nicht dein Ernst!“

„Ich weiß nicht, was Alessia über mich erzählt hat“, säuselte der Fremde. „Aber ich weiß, was sie mir über sie erzählt hat. Und deshalb kommen wir besser sofort zur Sache, oder nicht?“

Uboldo schüttelte es vor Ekel, als er die fleischige Hand Onkel Toms sah. Dann gab ihm Alessia aber anstandslos die Brosche in die Handfläche und sie setzte sich wieder Uboldo gegenüber, diesmal war ihr Grinsen unfassbar selbstgefällig.

„Oh, das ist durchaus ein interessantes Stückchen. Dreißiger Jahre würde ich schätzen.“

„Die Zeit interessiert nur Leute, die Zeit haben.“, sagte Uboldo. Er hatte das zwingende Bedürfnis, der roten Welle in seiner Brust Luft zu verschaffen. Aber nicht jetzt, hielt er sich selbst zurück. Erst, wenn du hast, was du haben willst.

„Na, ein paar Tausend ist das Schmuckstück vielleicht Wert. Materialwert, versteht sich. Ist eine nette Arbeit. Ohne es jetzt genauer untersuchen zu können, kann man bestimmt zweitausend dafür verlangen. Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Ist ein interessanter Stein. Aber ich weiß noch nicht, was genau. Und die Ausarbeitung zeigt viel Talent. Aber ich kenne mich nicht gut genug aus, um …“

Uboldo war aufgestanden und hatte ihm den Stein wieder abgenommen. Sofort glitt die Brosche wieder in seine Tasche.

„Danke, geht doch. Das ist alles, was ich wissen wollte.“

„Und? Was wirst du jetzt tun?“, fragte Alessia.

„Ich geh heim.“

„Und wenn die Alte wieder kommt?“

„Verlang ich zehntausend.“, erklärte Uboldo schlicht. Er stellte die leere Ciderflasche in die Spüle, umarmte Alessia auf dem Weg zur Tür und war dankbar, dass Onkel Tom ihm nicht die fleischige Hand zum Abschied anbot.

„Kennst du nicht einen, der sowas kaufen würde?“, fragte Alessia den angeblichen Experten kurz bevor Uboldo den Ausgang endlich erreicht hatte.

„Ich könnte vielleicht jemanden auftreiben. Wie das halt so ist, man kennt einen, der einen kennt, …“

„Jaja.“, knurrte Uboldo. Obwohl ihm der Preis jetzt bekannt war, fühlte er sich nicht besser. Er fühlte sogar ausgesprochen heiße Wut in sich.

„Ich bin froh, dass ich helfen konnte.“, flötete Alessia ihm im Treppenhaus hinterher. Weil er keine Antwort gab, rief sie auf eine Art, die keine Frage offen ließ, welche Gefühle er bei ihr zurückließ: „Und wenn es dir mal wieder in den Kram passt: Fick dich doch grad eben mal wieder selbst, wenn du wieder was von mir wissen willst!“

 

Was sagt ihr dazu?