Die Brosche (1)

 

 

Genua, 21. Juni, 2017; 13:40 Uhr

 

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Diese alte Hafenstadt mit ihren verdammt alten Häusern, die sich zwischen den rattenengen Gassen aneinander zwängten, roch in ihren besten Ecken nach Vergangenheit. Aber Federice Uboldos Laden war von dem Gesatank nach Urin, Kohl, Zwiebeln, Asche und Staub umgeben. Eine ungemütliche Luft. Und deshalb rauchte Uboldo Selbstgedrehtes. Du hältst den Gestank deines Viertels sonst ja nicht aus. Mit dem Rücken an die kalten, schwarzen Steine seiner Ladenfassade gelehnt, suchte er durch die Sonnenbrille nach einem Himmel. Da war aber nur ein schmaler, glänzender Streifen: Breit genug, um den Sommer in die genuesischen Hafengasse Via Fiori zu schicken, zu schmal, dass auch noch frische Luft hindurchgepasst hätte.

An der schräg gegenüberliegenden Straßenecke spielten Kinder ein beliebtes Spiel, bei dem man als Mitspieler eine beträchtliche Menge an Prügel einstecken musste. Weil aber jeder seinen Teil abbekam und man sich nach erhaltener Schelle bei den anderen revanchieren konnte, gab es nur gespielten Streit, vor allem aber immer wieder viel Gelächter. Weil Uboldo das Spiel auch noch aus eigener Kindheit kannte, fragte er sich unwillkürlich, ob Columbus – der unter anderem der Namenspatron seines Ladens war – es auch schon gespielt hatte.

Uboldo hatte das gehabt, was man hier eine Straßenkindheit nannte. Wie alle Kinder Italiens hatte er die verhältnismäßig langen Sommerferien dazu genutzt gehabt, um Geld zu verdienen. Aber kein Job, weder die typisch touristenmäßigen Jobs – Kellnern, Führungen, versaute Postkarten verkaufen – noch die, die er als Saujobs bezeichnete – Straßenbauamt, Mautstation, Gärtnern – hatten ihm ein Standbein im Leben eingebracht. Im Gegenteil. Die Sommerferien waren Uboldo immer vorgekommen wie ein riesengroßes Sieb, dessen Löcher immer so groß waren, dass er hindurchfiel. Und während alle anderen früher oder später irgendwo hängen blieben, erkannten, dass dieser Job und genau dieser das perfekte und richtige für einen war, gab es für Uboldo nur Löcher und Abstürze. Die Schule hatte er eher bescheiden abgeschlossen, sehr zum Leidwesen seines Vaters, der immer behauptete, dass das Geheimnis des Lebens längst gelöst worden sei, man müsse nur alle Bücher der Welt lesen und alles Wissen aus allen Vergangenheiten in die Gegenwart retten. Sein Vater hatte deshalb diesen Laden in der Via Fiori mit soviel altem Müll vollgestopft gehabt und versucht, diesen an die Menschen zu verkaufen, die damit wenigstens etwas anfangen konnten. Das war das Sieb, in dem er hängen geblieben war. Aber für den Sohn muss die Wahrheit des Vaters nicht immer auch die eigene Wahrheit bedeuten. Auch die Sommer, die er in diesem Laden ausgeholfen hatte, der sieben Meter breit aber keine drei Meter tief war, also von geradezu absurder Proportion für einen Antiquitätenladen, waren für Uboldo nichts als Zeitverschwendung und das ewige Stürzen in ein grenzenloses, gähnendes Nichts hinein. Genausogut hätte er wie die Straßenkinder dort drüben nichts anderes machen können, als Schellen zu verteilen.

Es waren sieben Straßenkinder dort drüben. Und Uboldo wettete, mindestens einem von denen würde die Zukunft genauso leer und sinnlos vor den Füßen liegen, wie ihm. Wenn er hätte wetten dürfen, dann tippte er auf den großen, schlacksigen mit den blonden Haaren, der so lachte wie ein Esel und der so große Handflächen hatte, dass die anderen schon zuckten, noch während der Blonde zum Schlag ausholte.

Der sah so aus wie einer, der genau wie Uboldo zur Sinnlosigkeit verdammt war. Das konnte er an den Augen sehen. Und daran, dass er im Angesicht dieser Sinnlosigkeit auf die Wangen der Mitspieler einschlug, als wäre wenigstens dieses Spiel bedeutungsvoll.

Uboldos Gedanken wurden gestört, als die Alte zu ihm kam.

Sie sah so hässlich aus wie eine Tote. Genauso eingefallen war die Haut, genauso tief saßen die Augen. Man sah mehr Knochen als Fleisch. Und als sie ihn angrinste beim Näherkommen, sah er, dass sie kaum noch Zahnfleisch hatte.

„Tag, Schätzchen.“ , krächzte sie mit einer Stimme, die ihm verriet, dass sie ihr Leben wenigstens gelebt hatte. Obwohl sie mit Sicherheit durch das komplette letzte Jahrhundert hindurch gesoffen und geraucht hatte, waren die Worte fest und straff, so als würde sie nicht sprechen sondern hämmern.

„Tag.“, murrte Uboldo und bemühte sich so zu lächeln, wie sein Vater früher immer gelächelt hatte, wenn Kunden vor der Tür standen.

„Zu Columbus Schätzen.“, las sie den Namen über dem Schaufenster. „Was ein alberner Laden.“, sie kicherte. „Was verkauft ihr hier denn so?“

Diese Frage war definitiv alberner als der Laden, dachte Uboldo. Er hatte eigentlich sofort beschlossen gehabt, die Alte nicht zu mögen. Aber auch wenn sie aussah wie ein wandelnder Madensack, war Uboldo nicht so blöd, die Louis Vitton Tasche nicht zu bemerken, die von ihrer Seite baumelte. Die beiden verschränkten, braunen Buchstaben LV rochen nach Geld. Deshalb wagte er eine einladende Geste und sagte: „Treten Sie ruhig näher. Wir haben Schätze, die man auf den ersten und solche, die man auf den zweiten Blick erst findet. Ein zweiter Blick lohnt also.“

„Ein zweiter Blick lohnt immer.“, sie fletschte die Zähne wie ein Dobermann: Mit hochgezogener Oberlippe und sich dabei nicht schließenden Augen.

„Hilf mir doch die Stufe rauf, Schätzchen.“, befahl sie und hielt ihm den Arm hin.

Er half ihr widerwillig hoch. Er hätte damit leben können, wenn ihre nackten Arme sich weich und kalt angefühlt hätten. Aber das hier war ein wabbliges Gefühl, so als greife man einen Pudding an. Und ihr Fleisch war warm, fast glühend. Kaum berührte er ihren Arm, konnte er sie auch riechen und obwohl er es sofort bereute, verzog sich sein Gesicht von Widerwille und er hielt automatisch die Luft an.

Die Alte schien es nicht zu bemerken, denn sie war sofort dabei, seine Ware zu begutachten. Sie arbeitete sich genauso wie alle anderen normalerweise von links nach rechts vor. Links standen die großen, sperrigen Schränke, die man immer leicht verrücken musste, wenn man das Schaufenster am Abend schließen wollte. Dann kamen die übereinander getürmten Reihen mit alten Reisekisten, die oberen waren immer geöffnet und man konnte alte Kleider, Tücher und vergilbtes, stinkendes Zeug sehen, das stockfleckig war, mottenzerfressen und von der Zeit völlig entfärbt. Dann die Bücher und die Bilder: aufeinandergetürmt, aneinandergelehnt, gestapelt, gedrängt und verstaubt. Ganz rechts dann schließlich die geneigten Schubladen, die mit rotem Samt ausgelegt waren und auf denen Schmuck angepinnt war. Das einzige, was sich wirklich verkaufte. Während sie sich wirklich alles ganz genau anschaute, dachte Uboldo eins ums andere Mal wieder: Drecksladen. Und er verfluchte seinen Vater dafür, dass er nicht gedacht hatte, die Lösung der Weltmysterien lägen in den perfekten Bikinis für junge Touristinnen. Dort hätte Uboldo nämlich am allerliebsten als erstes gesucht.

„Was kostet das?“ – „Was ist das?“ – „Warum sollte man sowas verkaufen?“, die Alte löcherte ihn mit solchen Fragen und er gab genauso kurzatmig wie sie dürftige, desinteressierte Antworten.

Doch auf einmal änderte sich etwas. Sie war bei den Kisten angekommen, hatte halbherzig darin gewühlt und schien auf etwas gestoßen zu sein, denn sie machte: „Oh.“, und dann starrte sie lange auf etwas, das sie auch in der Hand drehte, ohne, dass Uboldo sehen konnte, was das denn war.

Dann sah sie ihn mit blitzenden Augen an und fragte: „Was kostet das hier?“

„Zeigen Sie her.“, sagte er und nahm es ihr grob ab. Was sie in einer Kiste gefunden hatte, hatte er auch noch nie gesehen gehabt. Keine Ahnung, wo das herkam oder wie es da hineingekommen war. Eine kleine Brosche mit goldenem Rand. In der Mitte steckte ein geschliffener Edelstein mit dunkel trübenden Schlieren darin. Die ganze Form erinnerte ihn entfernt an ein verworrener Haufen Fragezeichen oder an eine stark verzerrte Sonne. Nichts, was man als schön hätte bezeichnen können. Und das war das wirklich auffällige an diesem Schmuckstück. Den obwohl es so hässlich und unförmig daherkam, war es mit offensichtlich großer Sorgfalt gefertigt worden und das Material kam ihm auch nicht wertlos vor. Deshalb stufte er das Schmuckstück schon vom ersten Blick her nicht als billigen Tand ein. Komisch nur, dass es in der Kiste gelegen haben musste und nicht hinten beim Schmuck auf dem Samtkissen. Merkwürdig war auch, dass die Schlieren im Stein den Eindruck erweckten, dass sie sich ganz langsam bewegen würden, wenn man nicht hinsah.

Uboldo trat zur Kiste und tat, als brauche er zur Begutachtung der Brosche eine Brille. In Wahrheit griff er nur nach der Brille, um in die Kiste hineinzusehen, um zu erraten, wo sie das Stück hergenommen hatte.

„Na?“, krähte sie.

„Einen Moment. Wir haben die Preise nie auf Schildchen wie in einem Touristenladen. Wir verkaufen ja echte Antiquitäten“, log er. „Da muss ich auf meiner Liste nachsehen.“

Die berühmte Liste war allenthalben zum Bescheißen von gutmütigen Menschen nützlich. Aber sie verschaffte Uboldo auch etwas Zeit. Und das war gut so. Denn nur so konnte er in den Augenwinkeln erkennen, dass das Schmuckstück die Alte nervös gemacht hatte. Sie trippelte leicht auf der Stelle und strich sich eine grau, spinnwebendünne Haarsträhne aus der Stirn. Tatsächlich war wieder so etwas wie Leben zu ihr ins Gesicht zurückgekehrt. Und genau deshalb begann eine kleine Alarmglocke in seinem Kopf zu schellen und er begriff eine Sache ganz genau: So wenig er wusste, was er da in der Hand hielt, so sehr wusste sie es.

Gleich welchen Preis er nannte, das spürte er, würde er bei diesem Geschäft den Kürzeren ziehen. Und das fühlte sich jetzt genauso an, wie ein an die Reihe gekommen sein beim Schellenspiel.

Es war also Zeit für die einzige Sache, die Uboldo wirklich gut konnte.

„Es tut mir leid.“, sagte er mit einem gespielt intensiven Blick auf die Liste. „Aber das Stück hier ist nicht aufgeführt. Ich fürchte, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Sehen Sie, meine Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben und mein Vater liegt im Krankenhaus. Ich weiß, dass hier überall noch Sachen von meiner Mutter dazwischen liegen und mein Vater wüsste das sofort. Das hier muss eine Brosche meiner Mutter sein. Und deshalb ist sie unverkäuflich. Ich bin ihnen aber sehr dankbar. Mein Vater wird sich bestimmt freuen, wenn ich sie ihm heute Abend mitbringe. Ich bin so dankbar, dass ich ihnen dreißig Prozent Rabatt auf etwas anderes geben möchte.“

Sie zog die Augenbrauen erst hoch, um ihn durchdringend zu mustern, dann verengte sich ihr Blick zu Schlitzen.

„Das ist eine rührende Geschichte, Schätzchen.“, antwortete sie endlich. Diesmal war ihre Stimme kalt; und zwar so kalt und hart und unbarmherzig wie die Pflastersteine drüben vor der Tür von O’Reylly’s Pub. „Dein Vater wird sich aber sicher noch mehr freuen, wenn du ihm Geld mitbringen könntest. Oder nicht? Vielleicht kannst du ihm eine bessere Versorgung damit kaufen?“

Es gibt Augenblicke, das wusste Uboldo, da gibt man keine Antwort, weil man alles gesagt hat. Reden bedeutete, dass man diskutieren konnte. Wer keine Antwort gab, blieb unverrückt an seiner letzten Aussage kleben.

„Arschloch.“, flüsterte die Alte auf einmal. „Dass du dich nicht schämst, eine alte Frau zu belügen. Wenn es um Tod und Verwesung geht, kenn ich mich besser aus als du, Schätzchen. Und diese Lüge kommt aus deinem Mund, obwohl du nicht einmal weißt, worum du hier lügst.“

Uboldo war überrumpelt von der Alten, die ihm auf einmal gar nicht mehr so zerbrechlich vorkam. Zwei Dinge waren es, die Uboldos Stolz auf keinen Fall leicht verarbeiten konnten: Wenn man ihm vorwarf, dass er log und wenn dieser Vorwurf auch noch richtig war. Deshalb war es jetzt an ihm, von Verteidigung auf Angriff überzugehen und er spürte, wie eine rote Welle über ihn schwappte, die nur durch die Genugtuung eines Sieges wieder verebben würde.

Und dieser Sieg war hier so leicht zu bekommen, dass es seinem Jähzorn fast schon keinen Spaß machen würde.

„Diese Lüge kommt, weil ich nicht so dumm bin, den Wert zu ignorieren, den das Ding da für Sie hat.“

„Dein Vater wäre jedenfalls nicht so dumm gewesen, den Wert zu verkennen, den du in deiner Hand hältst.“, sagte sie fast augenblicklich. Sie zuckte vor und er glaubte schon, sie würde es ihm aus der Hand reißen wollen. Aber in Wahrheit packte sie nur seine linke Hand, die, in der nichts drin war. Und zwar packte sie die Hand mit zwei Händen, eine obenauf, eine darunter. Sie sagte etwas Unverständliches in einer anderen Sprache und ein aschgrauer Schatten flog für einen Moment über ihr Gesicht.

„Du bist das Arschloch, das du bist.“, sagte sie finster. „Und du wirst erhalten, was du verdienst. Aber denk zu jedem Augenblick daran, dass ich dir die Brosche abnehmen werde, sobald du das möchtest.“

„Vielen Dank.“, er zog die Hand ruckartig zurück. „Aber das wird nicht vorkommen.“

Sie hatte sich schon abgewandt und stapfte davon. Dabei fluchte sie ungehemmt und ließ ihn mit einem flauen Gefühl zurück.

Uboldo grinste.

Er lehnte sich wieder an die schwarze Wand, das merkwürdige Schmuckstück in der Hosentasche. Und als er zu den Straßenkinder rüberblickte, sah er, wie der Blonde auf dem Rücken lag und ein Mädchen auf ihm drauf saß. Während alle anderen Jungs lachten, schlug das Mädchen immer wieder und wieder mit der flachen Hand auf das Gesicht von dem Blonden ein.

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