Die Brosche (4)

Jede Tat dieser Welt wirft ein Licht in die Dunkelheit des Lebens. Und jedes Licht, jeder noch so kleine Lichststreifen genügt, erhellt in ihr das Wesen und den Charakter des Täters.

Es gibt Lichter, die unauslöschbar sind, Taten, die unvergessen machen.

Uboldo hätte solche Gedanken nie denken können. Aber er fühlte sie. Und zwar jedes Mal, wenn er im Bus saß in Richtung Lombardei. In der Provinz Pavia lag das kleine Dörfchen Cosimo. Es war kaum groß genug für eine Eintragung in gängiges Kartenwerk. Das Klinikum San Cosimo della nuova Voghera war allein für die Existenz von Cosimo verantwortlich. Die berühmte psychiatrische Einrichtung Voghera hatte früher hier einen Zweitsitz gehabt, worin man vor allem heimlich namhafte Patienten behandeln konnte, ohne sie der Schande einer offiziellen Einweisung auszusetzen. Cosimo hatte lange Zeit offiziell als Kurort gegolten. Die Ironie der Geschichte war, dass die für seine Qualität angesehene Psychiatrie Voghera irgendwann geschlossen werden musste, wogegen das abseits gelegene, und kaum besprochene San Cosimo zunächst weiterhin als Kuranstalt, dann kurzzeitig als eine Art Spital und nun seit nunmehr acht Jahren als Alten- und Pflegestift betrieben wurde.

Die um das Gebäude gelegene Parkanlage verriet noch die alten Absichten, alles verdeckt halten zu wollen, was sich hinter den meterhohen Hecken und Sträuchern abspielte. Viele Spazierwege verliefen durch Waldungen. Es gab zahlreiche Schlupfwinkel. Zurückgezogenheiten. Oft durchbrochen von verspielten Statuen aus Carraramarmor.

Aber es war nicht alles gepflegt: Die Westseite des Parks – ausgerechnet die, in die ihn der Pfleger schickte, als er ihm seinen Namen nannte – hatte traurig seinen einstigen Glanz durch eine sichtbare Vernachlässigung hindurch überwachsen. Meterhoch standen die Gräser mit den staubwedelartigen Köpfen am oft gebrochenen Fliesenweg. Über die Baumstämme rankte fast kampfartig aggressiv wilder Efeu. Es roch fast so modrig wie in Uboldos kleinem Antiquitätenladen. Aber eben nur fast, denn die Natur hat ihre eigene Art den Wildwuchs zu parfümieren: schweratmig dunsteten kleinköpfige Wildrosen, schwitzten Moosflecke und Flechtwerke auf dem rauen, schwarzen Fliesenstein. Die Natur kann, wenn man sie lässt, sich aufblähen wie eine dicke, alte genuesische Edeldame.

Uboldo hätte damit rechnen müssen, dass durch diese schwülstige Luft jeden Augenblick seine Schwester auf ihn zu trat. Aber entweder hatte ihn die dünne Luft nachlässig gemacht, oder er begann auf völlig stumpfsinnige Art naiv zu werden. Jedenfalls erschrak er, als er sie auf der weißen Gußeisenbank sitzen sah. Und nur deshalb setzte er sich überhaupt zu ihr, als sie ihn beim Näherkommen ansprach.

„Ist es wieder so weit?“, fragte sie spitz.

„Was meinst du?“

„Der eine Tag, wo du dich auch mal wieder blicken lässt.“

„Kann ja nicht jeder arbeitslos sein und jeden Tag zu ihm her kommen.“

„Das hat nichts mit Arbeitslosigkeit zu tun. Sondern mit Respekt.“

„Klar.“

Die Beziehung zwischen den beiden Geschwistern war schon seit Jahren stagniert: wenn er es nicht wagte, sie zu verletzen, erstarb das Wort zwischen ihnen. Sie hatte es noch nie gewagt, ausfallend gegen ihn zu werden. Aber sie hatte andere Waffen, die beinahe noch schärfer waren als seine.

„Wie geht es ihm?“, fragte er.

„Er hat es gut überstanden.“, redete sie, obwohl sie ganz genau wusste, dass er keine Ahnung hatte, was dieses ‚es’ war, von dem sie sprach.

„Miro hat angekündigt, dass er den Geldhahn zudrehen wird.“, fuhr sie dann fort. „Er sagt, dass er mich geheiratet hat und nicht meinen Vater. Und dass nach fünf Jahren vielleicht Zeit ist, dass die Tochter durch den Sohn abgelöst wird, verstehst du?“

„Nein.“

„Ich war fünf Jahre lang seine Tochter. Das ist jetzt genug.“

„Witzig.“, machte Uboldo. „Du siehst viel älter aus als fünf. Ich hätt dich sogar auf über vierzig geschätzt.“

Ihr Blick wurde kalt und die Lippen schmal und blass und mahnten ihn, vorsichtig zu sein.

„Willst du vielleicht mal wissen, was eine Tochter so zu bezahlen hat?“

„Nein.“

Sie sagte es ihm trotzdem: „Inzwischen 40.000.“

„Das ist zu viel. Dafür hätte man hier den Park um einiges besser pflegen können.“

Ihre Hand zuckte. Aber sie würde sich nicht dazu herablassen, ihn zu schlagen. Dafür war sie sich zu fein.

„Wenn wir Miro nicht gehabt hätten, wäre Papa schon längst tot.“

„Ich hab Miro nicht gehabt. Halt mich also da raus.“

„Es ist auch dein Papa.“, zischte sie.

Uboldo zuckte mit den Schultern.

Er schielte unauffällig zu ihr herüber. Sie sah längst nicht mehr aus wie das kleine Mädchen, das mit ihm aufgewachsen war. Das Leben hat eine ganz miese Angewohnheit, in die Gesichter der Menschen Geschichten und Leiden einzuzeichnen. Aus den sanften Wangen war grobes Leder geworden. Aus lustigen Kugelaugen, schmale, lodernde Schlitze. Wenn es einen Grund gegeben hätte, das Leben für das, was es mit den Menschen tat zu hassen, dann saß der beste gerade neben ihm.

Nicht etwa, dass er je seine Schwester gemocht hätte, dafür waren sie sich vielleicht viel zu ähnlich. Aber zumindest für die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens, hatte die Welt sich bei ihnen gleichermaßen vergangen.

Es musste also in ihrem Gesicht Spuren geben, die es bei ihm auch gab. Vielleicht, und das wäre unter Umständen noch das Beste: die harten, brennenden Augen, in denen so viel Leidenschaft und Liebe sich in Verachtung und Hilflosigkeit verwandelt hatten.

„Wieviel würdest du zahlen, Federice?“

„Wofür?“

Sie antwortete nicht und nach längerer Bedenkzeit sagte Uboldo: „Nichts.“

„Dann wird Papa hier rausfliegen. Dann wird er hier nicht mehr länger gepflegt und behandelt.“

„Dann ist das wohl so.“

„Du bist ein Monster.“, sagte sie. Ganz einfach formuliert, nicht wahr? Ein einziges Leben, eine einzige Seele durch ein einziges Wort vollständig umrissen und durch die einfachste nur mögliche Wahrheit getötet. Monster haben keine Seelen, dachte Uboldo. Und das ist es ja, was sie mir sagen will.

Wenn das so war, dann konnte er jetzt auch einfach nur aufstehen und weiter machen. Monster schauen nicht zurück.

Er stand auf, sagte noch auf Wiedersehen und ging weiter.

Sie rief ihm hinterher: „Ich werde euch beobachten.“, ihre Stimme klang brüchig. „Wenn auch nur ein einziger Funke Liebe für dich in seinem Blick ist, bring ich dich um.“

„Du bist dumm.“, sagte Uboldo über die Schulter. „Wenn jemand dement ist, verlernt er Dinge. Er lernt nicht auf einmal etwas dazu, was er sein Leben lang nie gekannt hat.“

 

Eine von Uboldos frühesten Erinnerungen war, dass er zu seinem Vater in die Küche gerannt kam und ihn fragte, ob er ihn lieb habe.

Welcher Sohn fragt so etwas seinen Vater?

Welcher Sohn hat diese Frage nötig?

An die Antwort erinnerte Uboldo sich natürlich nicht mehr.

Es hatte zu viele ungefragte Antworten darauf gegeben in all den Jahren.

Er erinnerte sich dafür an genug andere Dinge, an Bilder, die immer nur dann zu ihm zurückkamen, wenn er sich seinem Vater näherte.

Der alte Mann saß in einem Rollstuhl und starrte auf einen grün gefleckten Teich hinüber. Er bekam nicht einmal mit, dass die Mückchen ihn in dichten Schwärmen umschwirrten. Als er Uboldo erblickte, wechselte etwas in seinem Blick und er tat, als würde er den Mann erkennen, der sich zu ihm gesellte. Das war nichts als Strategie, wusste Uboldo. Das Gehirn des alten Mannes war zu weit zerfressen, um Erinnerungen an die eigenen Kinder aufrecht zu halten. Aber eben noch nicht weit genug, um die Scham vor dem eigenen Unvermögen auszulöschen.

Es musste wohl sein, als ob die Bilder der Vergangenheit von einem zähen aber langsamen Sandsturm nach und nach verschüttet wurden. Und bei all dem kämpfte sich ein noch zäheres und unnachgiebiges Ich immer wieder in Richtung Oberfläche. Und dieses Ich, das kaum noch von Bildern und Namen zehren konnte, begrüßte ihn wie selbstverständlich mit immer den gleichen Worten:

„Ach, sieh an. Schön, dass es dich her führt. Warst wohl in der Nähe?“

Uboldos Blick fiel auf den Katheder an der Seite des Alten. War der das letzte Mal schon da? Vielleicht war der ein Ergebnis dessen, was seine Schwester vorhin gemeint hatte mit „er hat es gut überstanden“.

„Hast du mich im Geschäft gesucht?“, fragte sein Vater ihn.

„Nein.“, sagte Uboldo.

„Ich bin nämlich nicht im Geschäft. Ich bin hier.“

„Ja.“

„Die haben grässlichen Pudding. Für so viel Geld. Da sollte man mehr erwarten. Erwarte nie guten Pudding. Weißt du, warum es in Hotels nie guten Pudding gibt? Lieber machen die Mouse au Chocolat.“

„Lass uns nicht über Pudding reden.“, bat Uboldo. Er stand jetzt direkt neben dem Rollstuhl. Sie blickten beide in die selbe Richtung. Damit gaben sie wohl ein Bild ab, das sehr klischeebehaftet nach Vater und Sohn aussah. Aber nein, ganz ehrlich: Uboldo war nie weiter von seinem Vater entfernt. Dieser schäbige Mann mit der grob karierten Decke über den von Muskeln befreiten Beinen, dieser Fremde, mochte er fast sagen, dessen Gesicht so hart und steinern wirkte, obwohl die Haut, die darüber gespannt war, viel zu weich und lapprig aussah und bei jedem Wort zitterte. Dieser Mann, der eigentlich schon längst tot war; man hatte es nur verpasst gehabt, es ihm glaubwürdig zu verkaufen. Was hatten sie schon gemein? Es gab nicht einmal eine äußere Ähnlichkeit, hatte es nie gegeben.

„Ich hab im Geschäft etwas gefunden.“, sagte Uboldo.

„Schön, schön.“

„Eine Brosche.“

„Ja. Ich hab ein ganzes Sortiment aufgekauft. Da sind ein paar schmucke Stücke dabei. Ein paar recht alte Schätze, möchte ich meinen. In einem Hafen wie diesem“, er zeigte auf den grün befleckten Teich. „finden sich viele alte Schätze. Immer wieder gern in den Fischernetzen der Seeleute.“, so redete der Alte nur, wenn er dachte, dass er wirklich in seinem Geschäft stand. Wahrscheinlich war es auch so. Das sich auflösende Gehirn krallte sich widerborstig an feste Bilder, die tiefer lagen als die einfache Erinnerung. Es krallte sich zum Beispiel an dominante Orte, an Personen, die tiefe Spuren hinterlassen hatten. Aber es vergaß Namen und Details. Es erinnerte sich an das Geschäft und die notwendigen Geschäftsgebaren, aber es vergaß die eigenen Kinder. Es erinnerte sich an das Haus in Genua, aber nicht an die Einrichtung oder die Familienbilder an der Wand über dem Esstisch. Manchmal fielen Worte einfach aus diesem zersetzten Gehirn heraus und wurden nicht mehr wieder aufgelesen. Manchmal fielen Gefühle heraus. Die brachen sich Bahn, wurden ein letztes Mal ausgelebt und wie auf einer imaginären Bühne aufgeführt, nur um niemals wieder zu Tage zu treten.

Uboldo erinnerte sich an einen Besuch vor drei Jahren, da war der Alte auf ihn losgegangen, um ihn mit einer gedrechselten Holzstange einer Stuhlrückenlehne zu verprügeln. Immer wieder hatte der Alte gebrüllt, dass er gefälligst still sein solle. Dass „Erziehung“ die Nachbarschaft nichts angehe. Er hatte gebrüllt: „Beim Ficken und beim Erziehen werden die Fenster geschlossen.“ Und das hatte sich für einen Moment so intensiv und wahr angefühlt, als ob Uboldo die Szene selbst schon einmal miterlebt hatte. Und er war so erstaunt über das unerwartete Aufbegehren des Alten und dass gleichzeitig das Deja-vus so tief in ihm Saiten anspielte, dass der Schlag ihn fast an der Schulter getroffen hätte. Danach war es aber weg. Wirklich weg. Vollständig jede Erinnerung an die Erziehung war verloren in diesem Gehirn. Aufgefressen von dem Brand, der darin jede Sekunde Vergangenheit verzehrte.

„Ich hab sie dabei.“, sagte Uboldo. Er zog die Brosche aus der Westentasche und hielt sie dem Alten entgegen. Er achtete darauf, dass der Alte sie nicht greifen konnte. Womöglich hätte er sie noch in den Teich geworfen.

„Die ist wunderschön, nicht wahr?“, fragte der Alte geschäftstüchtig. Sein Haifischgrinsen hatte unter der Demenz nicht gelitten. Vor ihm hatte ein ihm völlig Fremder die Hand aufgehalten und was der ihm da ins Dazwischen hielt, schien nach einem aussichtsreichen Geschäft auszusehen.

„Spar dir den Händlerquatsch.“, knurrte Uboldo. „Ist die zu verkaufen oder ist die privat?“

„Privat?“

„Von ihrer Frau oder ihrer Tochter oder so.“

„Zeig schon her. Ich seh ja nix von der Entfernung her.“, und er packte Uboldos Handgelenk mit überraschend sanfter Festigkeit, um ihn zu sich herüber zu ziehen.

Eine Weile musterte der Alte das Schmuckstück in Uboldos Hand wortlos. Dann drehte er sie mit spitzen Fingern hin und her, er prüfte den Verschluss auf der Rückseite, tippte auf eine Punze im Metall und dann sagte er die überraschenden Worte: „Ich glaub, ich erinnere mich. Ist aber eine Zeit her. Wo hast du sie nur gefunden? Die ist damals einfach verschwunden. War einfach weg. Und ich hab immer geglaubt, dass die jemand anderes für uns verloren hat.“

„Dann ist sie privat.“, schlussfolgerte Uboldo. „Hat sie deiner Frau gehört?“, meiner Mutter wollte und konnte er nicht sagen.

„Ich hab sie auf einer Reise gekauft. Ich glaube, Griechenland. Aber das kann nicht sein. Ich weiß, dass es nur geregnet hat. In Griechenland kennen sie kein Regen, sagt man. Das sagt man doch so, oder nicht?“, die Stimme war brüchig. Er kippte. Nein: die Erinnerung kippte. Sie hielt sich mit dünnen Fäden noch an den äußersten Rinden des noch funktionierenden Gehirns fest, war aber kurz davor, für immer im großen Schwarz zu versinken. Uboldo wurde nervös.

„Wem gehört die Broche jetzt?“, fragte er unruhig.

„Sie lag im Geschäft?“

„In einer Kommode.“

„Dann gehört sie dem Geschäft. Wenn es denn ein Geschäft gibt.“, da war das geschäftstüchtige Haifischgrinsen wieder und der Alte zog Uboldo nah zu sich herab: „Was ist? Zahlen Sie den Preis, der auf dem Schildchen steht?“

„Da ist aber kein Schildchen.“

„Da ist kein …?“, der Blick flackerte, die Finger drehten die Brosche zurück.

„Natürlich nicht.“, stammelte er. „Das ist ja nichts, was ich vorhatte zu verkaufen. Die ist ja nur reingerutscht in den Krempel. In die Kommode, sagst du? Wer hat sie nur da hinein gelegt? Wie kann man nur eine Brosche in einer Schublade verlieren. Dafür müsste man durch Schubladen wandern können. Durch Schubladen.“

Uboldo versuchte den Blick des Alten irgendwie festzuhalten. Konzentrier dich, verdammt noch mal.

„Es ist wichtig!“, beharrte er. „Wieviel hast du dafür ausgegeben?“

„Für die Liebe ist kein Preis zu hoch.“

„Ich will es meiner Freundin schenken.“, log Uboldo verzweifelt. Es war, als versuche man einen Lufthauch mit einem Lasso einzufangen. „Ich will es meiner großen Liebe kaufen. Meiner Liebe. Verstehst du mich? Kaufen!“

Es war so absurd wie selbstverständich, dass es ausgerechnet das Wort „Kaufen“ war, das den Alten wieder zurückholte und das Bild wieder einfing.

„Das ist eine Brosche der Liebe, mein Freund. Warum nicht. Warum sollte ich sie nicht verkaufen. Meine Frau kann sie ja eh nicht mehr tragen, nicht wahr? Da würde sie viel zu schäbig aussehen, wenn so ein Schmuckstück an ihr dran hängt. Hundert Euro.“

Es war wieder ein Gefühl, für das Uboldo keine Beschreibung parat hatte. Einmal, weil es kein rechtes Wort für dieses Krampfen gab, das ihm durch alle Innereien fuhr, weil es keinen Laut gab, nicht einmal eine Silbe, die das beinhaltete, wie es in ihm den Respekt und die Liebe vernichtete. Und wie sich die Berührung veränderte: die Hände, die um sein Handgelenk gelegt waren. Die Hand, die sich löste und ihm von Außen die Faust über die Brosche schloss. Das Haifischlächeln, das abgerieben und schäbig wirkte. Die Augen, die nicht mehr nur noch aus der Orientierungslosigkeit heraus flackerten, sondern auch aus der Haltlosigkeit einer viel zu klein verkümmerten Seele, die viel zu großem Körper vollständig hoffnungslos umherirrte und nach Licht suchte.

Was da vor ihm saß, war kaum mehr ein Mensch.

Aber es war Fleisch gewordene Ungerechtigkeit: Uboldo hätte alles dafür getan, wenn ihm die Erinnerung und das Erkennen des Vaters vom Hirnbrand geraubt worden wäre. Er hätte alles dafür getan, wenn ihm die Kindheit – und selbst die schönen Seiten – verloren gegangen wären. Statt dessen hatte das Schicksal entschieden, den Alten mit nichts als sich selbst zurückzulassen. Ein sich zersetzendes Stück Fleisch in einem Rollstuhl an einem leblosen Teich hinter meterhohen Hecken.

Uboldo zog die Hand mühelos aus dem Griff des Alten zurück und sagte: „Die Brosche ist deutlich mehr Wert als du ahnst, alter Mann.“

„Der Pudding wird dadurch auch nicht besser.“, sagte der und Uboldo sah, dass der Blick längst nicht mehr an der Realität haftete. „Der Pudding ist in diesen Hotels immer ekelhaft. Die machen das absichtlich. Ich weiß auch nicht warum. Wer weiß das? Wer weiß so was.“

Uboldo legte ihm die Hand beinahe liebevoll auf die Schulter. Aber er sagte: „Ich wünsche dir noch ein langes Leben.“

Und das war die grausamste Verabschiedung, die er jemals zustande gebracht hatte.

 

Seine Schwester wartete auf dem Parkplatz auf ihn.

Sie sagte: „Ich zieh mich von der Sache jetzt zurück.“

„Ganz offiziell?“

„Ja, es ist jetzt deine eigene Sache. Du bist von jetzt an sein Kind. Du kümmerst dich um die nächsten Operationen und die ganzen Kosten und …“

„Klar.“

„Ich mein es Ernst.“

Uboldo ging weiter Richtung Haltestelle. Sie stieg in ihren Wagen und fuhr ihm hinterher. Auf die Idee, ihn zu fragen, ob sie ihn mitnehmen könne, kam sie natürlich nicht.

„Ich hab dem Personal deine Daten gegeben.“

„Und meine Unterschrift?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die werden von dir fordern, was sie brauchen. Aber ich bin von allen Verantwortlichkeiten zurückgezogen.“ Als er nichts darauf erwiderte, schlug sie einen sanfteren Ton an. Einen, den er schon lange nicht mehr gehört hatte: „Papa ruiniert mir meine Ehe, Federice. Jede Rechnung ist wie eine Schlinge, die sich um uns legt. Wir haben schon so viele um uns, dass wir uns kaum noch bewegen können. Ich kann nicht dabei zusehen, wie … wie der Alte mir mein Leben versaut.“

„Ich auch nicht.“, sagte Uboldo. Und dann traf er eine Entscheidung. Es fiel ihm leicht, diesen einen Schritt zu gehen, weil sie ihn nicht direkt ansah und er nur über einen Blick in den Seitenspiegel einen Blick in ihre Augen erhaschen konnte. Die Augen waren so glasig und leer wie Augen niemals sein durften.

Uboldo sagte: „Alles gut. Ich übernehme die Verantwortung. Du kannst dir deine Ehe retten.“

Verblüfft sah sie zu ihm her. „Das meinst du nicht Ernst?“

„Doch.“, sagte er. „Ich hab da einen Verkauf am Start, … der könnte mir was einbringen für ihn.“

„Wirst du dich wieder umentscheiden?“

„Nein. Ich übernehme die Verantwortung für ihn. Mit allen Kosten.“

Nach einer endlosen Zeit, in der sie einfach nur in Schrittgeschwindigkeit neben ihm hergefahren war, fragte sie: „Und was mach ich jetzt?“

„Fahr weg.“

Sie blickte fragend auf.

„Nach Griechenland, oder so. Dort kennen sie keinen Regen, sagt man. Fahr mit Miro weg. Weg von dem Schlamassel und dem Ärger. Fangt neu an. Einfach neu.“

„Du wirst dich umentscheiden.“, mutmaßte sie. Aber ihre Stimme verriet, dass da jetzt genug Hoffnung auf einen Neuanfang vorlag. Und sie wollte nur noch einmal hören, dass er es ihr versprach. Nur ein einziges, letztes Mal.

Er sagte: „Nein. Ich steh zu meinem Wort.“

Und als sie davonfuhr, bemerkte Uboldo, dass er die ganze Zeit über die Brosche viel zu fest in seiner Hand gedrückt hatte. Als wollte sein Unterbewusstsein den kleinen Schatz zerbrechen.

Was sagt ihr dazu?