Die Brosche (5)

Anfang verpasst?
Hier geht es zu Teil (1)
Hier geht es zu Teil (2)
Hier geht es zu Teil (3)
Hier geht es zu Teil (4)

Und hier nun das Ende der Geschichte:

 

Alessia wartete bereits auf ihn. Sie lehnte mit angewinkeltem Bein und dem Fuß an der Wand neben seiner Wohnungstür.

„Ich hab Bier dabei“, sagte sie. Und dann taten sie beide so, als ob er sie nur deshalb überhaupt rein lassen.

„Du siehst noch mieser aus als letztens.“, meinte sie. Darauf hatte er keine Antwort. Sie saßen in seiner Küche, bei offenem französischen Fenster und hörten dem Regen zu, der den Sommer Genuas wie einen schwermütig machenden Vorhang überdeckte.

„Wieder die Zeit des Jahres, hm?“

Er nickte.

„Wie geht’s dem Alten?“

„Er wird immer kleiner.“

Sie nickte. Sie hatte auch damals, als sie beide noch ein Paar gewesen waren, seinen Vater nie kennen lernen wollen. Krankheiten würden ihr Angst machen. Es sei schon schlimm genug, dass man Genua beim jahrhundert alten Zerfallen zuschauen könne, da müsse man das nicht auch noch beschleunigt bei einem Menschen machen.

„Klingt komisch“, sagte sie jetzt. „Aber kranke Menschen machen einem immer irgendwie bewusst, dass man auch nur einer ist. So einer mit einer immer älter und schwächer werdenden Hülle, weißt du.“

„Niemand lebt ewig, Alessia.“

Mein Vater hat immer gesagt, dass nur die Seele ewig lebt.“

„Als ob du an eine Seele glaubst.“, er schnaubte über den Flaschenhals hinweg und sah ein paar Schaumspritzer sich quer über den Tisch verteilen. Es war oft so, dass man mit Alessia mehr schwieg als sprach. Aber diesmal zerplatzten winzig kleine Bierschaumbläschen auf der Tischplatte und das machte das Schweigen diesmal extrem unerträglich.

„Was willst du, Alessia? Warum bist du hier?“

„Wollte nach dir sehen.“

„Als ob.“

„Kann ich doch nichts dafür, dass du in deiner Einsamkeitslaune bist. Kannst dich ja zurückziehen, hier in dein Loch, und so tun, als wärst du der unglücklichste Mensch der Welt.“

Er trank fast die halbe Flasche in einem Zug, ehe er sagte: „Wenn du das alles in meinem Gesicht sehen kannst, warum bist du dann überhaupt hier? Hättest ja nicht mit reinkommen können. Es einfach machen, wie jeder normale und anständige Mensch und sagen: Oh, ist jetzt nicht der perfekte Zeitpunkt. Ich komm morgen wieder vorbei. Oder lass uns einfach telefonieren, wenn dir danach ist, ja?“, die letzten Sätze hatte er mit einer gespielten Frauenstimme geträllert, was fast so schlimm klang, als ob er versucht hätte, ein Lied zu singen.

„Vielleicht hab ich mir einfach nur Sorgen um dich gemacht und gedacht, dass Einsamkeit jetzt nicht das beste ist, was du dir antun kannst.“

„Dann lieber dich.“, knurrte er. Das Bier schmeckte schal. Er stand auf und als er sich mit den Händen über den Kopf strich, merkte er erst, dass er vom Regen klatschnass war und dass ihm eigentlich fror.

„Ich geh unter die Dusche.“, sagte er kurzerhand.

Das Wasser brauchte in der Regel zehn Minuten, um warm zu werden. In der Zeit, in der das Wasser kalt und milchig aus dem verkalkten Duschkopf floss, suchte er sich frische Kleider heraus und legte sie übertrieben sorgfältig auf den Elektroheizkörper. Durch das quadratische, kleine Fenster kam nur übertrieben wenig Luft.

Er stand gerade ein paar Minuten unter der Dusche, als Alessia zu ihm kam. Er hatte ganz vergessen, wie sie aussah, aber wie die Körper sich zueinander verhielten, lag nicht eine einzige Sekunde zwischen dem Jetzt und dem Damals. Es war so vertraut, wie sich ihr Körper zwischen seinen Händen anfühlte. So normal, wie sie sich bewegte. Sie presste ihre kalten Lippen an seine, sie vergrub ihre Nase an der weichen Stelle zwischen Hals und Schulter. Ihr Atem rasselte ganz leise. Er konnte sie riechen. Konnte sie ein- und wieder ausatmen. Konnte sie heben und sie so fest an sich drücken, dass er sie in seine Brust hineinzog.

Das Wasser floss nicht ab. Es stieg über den Rand der Duschwanne und ließ sich von dem schwarzen Vorleger aufsaugen. Sie hinterließen nasse Fußabdrücke auf dem Weg zurück in die Küche, wo ihre Kleider lagen. Dort saß sie und rauchte, nur ein dünnes Handtuch lose um die nassen Haare gewickelt.

„Wo hast du deine Zigaretten?“

„Hab keine mehr.“, sagte er. „Ich fand es zu lächerlich, eine danach zu rauchen.“

Sie grinste breit. Er nicht.

„Was schaust du denn so Ernst? Hab ich dir nicht gesagt, dass es besseres gibt als Einsamkeit?“

„Weshalb?“

„Weshalb was?“

Er starrte sie nur an.

Endlich gab sie auf: “Hast du es noch?“

„Hab ich was noch?“

„Die Brosche? Das kleine Schmuckstück. Die kleine Geldfee.“

„Darum geht’s dir?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?“, fragte sie.

„Du weißt, wie man Frauen nennt, die es für Geld tun.“

Er sah, dass ihre Hand sich zu einer Faust ballte. Aber zum Glück standen sie sich nicht direkt gegenüber, sonst hätte er sich eine Ohrfeige eingefangen gehabt. Für mehr als ein ruckartiges Aufstehen und sich anziehen, reichte es nicht. Aber sie gab sich genug Mühe, dass es zornig und unerbittlich aussah.

Als sie angezogen war, sah sie, dass er sich eine Zigarette angezündet hatte. Sie sagte: „Du Schwein.“

Und er antwortete nicht.

Er ließ sie einfach nur gewähren. Wenn sie eine andere Art von Frau gewesen wäre, dann hätte sie jetzt getobt, Tassen geschmissen oder ihm etwas ins Gesicht geschleudert. Frauen mit weniger Rückrad und mehr Temperament.

Er erinnerte sich wieder daran, was er beim letzen Mal über sie gedacht hatte, als sie ihn abserviert hatte. Dass sie Eiswasser statt Blut in den Venen hatte.

Sie reagierte nie impulsiv.

Sie lächelte nur, nahm ihren Rucksack und fragte:

„Warum bist du so?“

Er sagte wieder einfach nur nichts.

„Es ist ein gewaltiger Batzen. Selbst wenn deine Käuferin nicht mehr auftaucht, -“

„Sie wird garantiert wieder auftauchen.“

„- ich hab ein paar Connections. Wir können auf einen Schlag einen Haufen Probleme aus der Welt schaffen.“

Uboldo zog lang anhaltend an der Zigarette.

„Du weißt, wie man Männer nennt, die Frauen so behandeln.“, ein schwacher Versuch, seine Stimme zu imitieren. Und natürlich war es das letzte, was sie sagte, ehe sie ging und die Tür hinter sich schloss. Betont leise. Damit die Stille in seiner Einsamkeit noch lauter klang.

Uboldo sah zur Badezimmertür hinüber, wo eine kleine Wasserlache unter dem Türspalt hervorkam. Und dort drüben waren noch ein paar nasse Fußabdrücke. Schlanke Füße, die schnell verdunsten würden.

Und dabei sah er ihnen zu. Die Zigarette verwandelte sich in Rauch. Alessias Abdrücke in nichts als Stille.

Draußen hörte es zu regnen auf.

Der Tag hörte aber auch auf.

Und dann gab es auf einmal einen unbekannten Ton, ein kurzes Pling von der Ablage hinter ihm. Da lag Alessias Handy, das sie wohl vergessen hatte bei ihrer Flucht. Gedankenverloren nahm Uboldo es auf und las die letzte SMS, die auf dem Display zu lesen war, ohne den Pin eingeben zu müssen: „Hab das Angebot noch mal geprüft: 24.000€ für die Brosche. 50% wenn ich es in die Auktion schicken soll. Dort ist mehr drin.“ Dann noch zwei Worte eines unvollständigen Satzes. Der Rest der Nachricht hinter der Pin.

Es war nicht schwer zu erraten, wer der Absender sein konnte.

24.000. Das war deutlich mehr als der erste Schätzpreis der Kröte. Aber das war Uboldo ja von Alessia gewohnt, nicht wahr? Dass hinterm Rücken alles viel größer und wuchtiger wurde, dass sich hinter dem Schweigen eine Kraft aufzubauen verstand, die durch ihre Beziehung sich hindurcharbeiten konnte wie eine Armee von blutgierigen Bergarbeitern. Raubbau, das kannst du, Alessia, nicht wahr? Dich durch das Leben anderer hindurchwühlen. Und immer brav saugen und saugen und saugen. Bis du dich an dem anderen bereichert hast.

Und trotzdem tat es weh, als er das Handy zur Seite legte und er seinen Blick wieder auf die verschwundenen Fußabdrücke richtete. Es tat weh, weil es trotz allem Alessia und er waren. Zwei verlorene Fußspuren im heruntergekommenen Genua.

Von der Anrichte zog Uboldo ein kleines Preiszettelchen. Er schrieb sauber den neuen Preis darauf und heftete es dann mit einem dünnen Faden an die Öse der Brosche. Dann ging er endlich zurück ins Bad, um sich anzuziehen.

24.000. Das war nicht nur mehr als der Schätzpreis, es war mehr als Alessia Wert war. Mehr, als sein Vater Wert war und die Operationen und die Pflege, die anstand. Das war verdammt noch mal sogar mehr Wert als Uboldos ganzes bisheriges und zukünftiges Leben.

Der Gedanke an seinen Vater schmerzte bei Weitem nicht so sehr wie der Gedanke an Alessia. Vielleicht noch seine Schwester. Sich ihr halb erleichtertes, halb ausgebranntes Gesicht vor Augen zu rufen, tat bei Weitem am meisten weh.

Er hatte es verpasst, alle drei zu fragen, was sie denn tun würden, wenn sie das Geld hätten. Andererseits: wusste er es nicht längst? Sie würden es ausgeben, nicht wahr? Für eine gute Pflege. Im Altersheim, im Ausland oder in einer Kneipe. Am Ende war Geld immer nur für die Pflege des eigenen Lebens da. Damit es einem besser geht als wenn man einfach nur dahin vegetiert. Mit einem Körper, der gerade so zurecht kam und einer Seele, die sich von einem Augenblick zum nächsten hangelte.

Er rauchte noch eine. Diesmal spielte sein Finger mit der Brosche auf dem Tisch. Er ließ sie kreiseln. Ein letztes Tageslicht schien auf die Oberfläche, brach sich und hinterließ lustige Lichtflecke auf den nicht aufgeräumten Cornflakespackungen.

Die Lichtflecke brachten ihn auf einen Gedanken, der scheinbar gar nichts mit deren Anblick zu tun hatte: Dass das Leben einfach lief. Immer weiter und weiter. Und dass man selbst mitgeschoben wurde, egal, wie man sich entschied.

Und deshalb wusste er, was zu tun war. Er stand auf und ging hinüber, quer über den Flur, zu der anderen Tür.

Und als er anklopfte, hatte er wirklich das Glück, dass Solange ihm aufmachte und nicht ihr Bruder. Sie sah ihn fragend an, dann lächelte sie, aber bevor sie den Mund aufmachen konnte, um etwas zu sagen, sprach Uboldo:

„Du weißt, dass ich dich liebe, nicht wahr? Dass ich dich sofort heiraten würde, wenn es ginge.“, er beugte sich vor und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Als er sich wieder zurückzog und sie ihn völlig verdutzt anblinzelte, hatte sie eine glitzernde Brosche in ihre Handfläche gelegt bekommen.

„Sie ist nicht so schön wie deine Augen“, sagte Uboldo sanft. „Aber sie gehört dir, ok? Steck sie dir an, wenn du dich gerade einsam oder traurig fühlst. Stell dich vor den Spiegel und sieh dir an, wie schön du bist. Und wenn du das Licht darauf scheinen lässt, dann macht sie lustige Flecke an die Wände. Kleine Regenbogenflecke.“

„Hey, Uboldo.“, ihr Bruder tauchte hinter ihr auf. Uboldo winkte.

„Was ist das?“, wollte er mit einem Blick auf die Brosche wissen.

„Hab ich im Laden gefunden. Geschliffenes Lupenglas. Aber wunderschön, nicht wahr?“

Er sah immer noch irritiert aus, also sagte Uboldo: „Mach dir keine Gedanken, ich bin gerade ein wenig am Aufräumen.“ Und dann winkte er zum Abschied, während Solange sich die Brosche ansteckte.

In seiner Jackentasche spielten Uboldos Finger mit einem nutzlosen, kleinen Preisschildchen, wie es die Touristenläden gerne an die falschen Antiquitäten hefteten.

Das gute an Solange: wenn er an sie dachte, musste er an niemanden sonst denken. Und wenn er dann auch nicht mehr an sie dachte, dann war da keiner mehr in seinem Kopf. Keiner, der ihn etwas anging.

Keiner.

Was sagt ihr dazu?