Die Eroberung der ganzen verdammten Welt – healing the world

Wir lagen nebeneinander. Mein Kopf lag auf ihrer Schulter. Ich fragte:

„Wenn dein Vater zu Hause ist, wann willst du wieder zu ihm?“

„Gar nicht.“, sagte sie.

„Er ist das ganze Jahr weg.“, sagte ich dann. „Und wenn er da ist, bist du weg.“

„Ja.“

Ich sagte wieder: „Kompliziert.“

„Ja. Vielleicht.“

Mir gefiel die Dunkelheit nicht, obwohl sie auf Marisols Gesicht ein grau-schwarzes Schattenspiel zeichnete. Aber es war eine zu schweigsame Dunkelheit.

Sie hatte ihre Hand auf meine gelegt. Ihre Finger spielten mit der weichen Haut zwischen den Fingern.

„Ich hab mich mit vielen unterhalten.“, erzählte ich ihr. „Über Liebeslieder und so. In Liedern und in Filmen klingt alles so, als ob es eigentlich gar nichts wirklich Kompliziertes gibt. Ich meine, natürlich läuft zwischendrin nie alles glatt. Aber am Ende, weißt du. Irgendwie geht es immer nur darum, dass sich alles irgendwann beruhigt. So als ob das eigene Leben wie ein Stein ist, der ins Wasser fällt. Das Wasser wird unruhig, es gibt Wellen und man sieht auf einmal vor lauter Unruhe den Boden nicht mehr. Aber am Ende ist doch alles wieder friedlich.“

„Hm.“, machte sie.

„Im Ernst. Egal ob Romeo und Julia oder Titanic oder … oder die Geschichten, die Onkel Renard so erlebt. Am Ende gibt es immer einen friedlichen Abspann. Die Namen laufen vorbei und alles war eben doch nur Kino.“

Jetzt drehte sie den Kopf doch zu mir um und wir sahen uns ganz ernst und gleichzeitig tief in die Augen. Was vollkommen komisch war. Weil ich nie gedacht hätte, dass man beim ernsthaften Reden romantisch sein konnte.

„Hast du ein gutes Lied über Liebe?“

„Klar.“

„Ich wette, dort ist es genauso.“

„Es heißt Piano Man. Und es ist das erste Lied, das ich spielen lernen wollte. Es klingt erstmal so, als ob es um einen Klavierspieler in einer Bar geht. Aber eigentlich geht es um die ganzen Leute, die in der Bar sitzen. Und alle haben ihre Probleme. Für jeden ist alles … irre kompliziert“, sie grinste mich herausfordernd an. Und jeder wünscht sich vom Klavierspieler ein Lied.“

„Alle das gleiche Lied?“

„Das kommt so nicht raus. Darum geht es auch nicht. Sie lieben die Musik, verstehst du. Es ist ein Liebeslied an die Musik. Weil das, was der am Klavier spielt, ihnen irgendwie die Probleme für einen Augenblick löst. Für den Augenblick, in dem er spielt, geht es ihnen gut.“

„Sie vergessen ihre Probleme.“

Son, can you play me a memory, I’m not really sure, how it goes. But it’s sad and it’s sweet and I knew it complete, when I wore a younger man’s clothes.“

„Das ist gut.“, sagte ich.

„Ich hab es von Anfang an gemocht. Das Lied ist wie aus einer anderen Zeit.“

„Ist es. Ich glaube nicht, dass es solche Bars noch gibt.“

„Selbst wenn. Es gibt diese Musik nicht mehr. Oder dieses Publikum. Früher hat Musik ne andere Bedeutung gehabt. Für meinen Vater“, sie zögerte eine Weile. „Für meinen Vater bedeutet Musik auch etwas. Er hat ganze Alben gesammelt. Und er hat die Alben immer rauf und runter gehört. Wir haben mal in einer anderen Wohnung gewohnt. Das ist lange her. Er hatte so einen alten Schallplattenspieler. Und ich habe auf dem Teppich davor gelegen und hab zugehört und kein Wort verstanden. Ich hab meinen Vater immer gefragt, wovon die da singen. Und er hat gesagt:“

„Vom Leben?“, riet ich.

Sie schüttelte den Kopf: „Er hat gesagt, jetzt singen sie gerade von … und gleich singen sie … oder eben haben sie doch soundso gesungen, jetzt ist es …“, sie machte eine Pause und ich bemerkte, dass sie in meinen Augen ein Bild aus ihrem eigenen Leben suchte.

„Für ihn gab es nie ein einzelnes Lied, weißt du. Es gab immer die ganzen Alben. So als ob die Musik ihm eine Geschichte erzählt. Oder …“

„Oder?“

„Oder so als ob jede Platte ein eigenes Leben hätte. Und wenn man sie auflegte, dann konnte man an diesem Leben teilhaben. Das war total verrückt. Und das ist etwas, was wir heute so nicht mehr kennen. Die Musik ist unterwegs kaputt gegangen.“

„Unterwegs von unseren Vätern zu uns.“

„Ja, vielleicht sind auch wir kaputt gegangen. Und wir können das so einfach nicht hören. Aber weißt du, für mich klingen die meisten Songs heutzutage einfach nicht magisch. Sie klingen, ja, es ist gute Musik, aber es ist kein Leben.“

„Mein Vater hat gesagt, dass Musik ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist. Meinst du so was?“

„Ja. Vielleicht. Weil, weißt du, ich glaube, ich kann das selbe behaupten.“

„Musik hat dich gemacht?“

„Hat mein Leben gerettet.“, sie lächelte sanft, wahrscheinlich um die Wirkung des Satzes etwas abzudämpfen. Ich rückte ein kleines Stück näher an sie heran, vor allem mit dem Kopf. Ich wollte ihr näher sein, so nah, dass man nichts mehr deutlich und eindeutig erkennen kann. Ich wollte, dass unsere Konturen beim Ansehen verschmolzen. Alles sollte doppelt und schwummrig sein. Hauptsache, ich konnte ihren Atem in meinem Gesicht spüren und das Kribbeln auf meinen Lippen, weil sie sich fast, aber eben nur fast berührten.

Sie hauchte noch einmal: „Hat mir mein Leben gerettet.“

Und anstatt sie zu küssen, fragte ich nach: „Und wie?“

„Für jede gebrochene Seele gibt es ein Lied, mit dem die Seele sich selbst heilen kann. Glaubst du mir nicht?“

„Doch.“, sagte ich. Und wir küssten uns.

„Und was“, fragte ich sie atemlos, „was machen Musiker, wenn ihre Seele kaputt ist? Ich meine, das Publikum hört die Musik von Musikern. Aber der Musiker, der Piano Man, die Gitarristin? Was ist mit denen?“

„Die versinken noch tiefer, weil sie es ja sind, die spielen. Man kennt die Splitter der eigenen Seele ja am besten. Also kann man sie auch am besten umspielen.“

„Ich hab von Trommeln geträumt.“

„Welche Trommeln?“

„Ein ganz merkwürdiger Rhythmus. Ich kann ihn nur hören, wenn ich schlafe. Sie tauchen inzwischen in jedem Traum auf.“

„Du träumst sowieso viel, hab ich Recht?“

„Eigentlich jede Nacht.“

„Willst du mir den Rhythmus zeigen?“, sie griff zur Seite und zog die Gitarre ins Bett. Am liebsten hätte ich nein gesagt, weil wir uns jetzt aufrecht hinsetzen mussten. Sie klopfte auf den Holzkörper der Gitarre.

„Siehst du? Wie ein Schlagzeug. Also?“

Wir versuchten es gemeinsam. Es war nicht so einfach, weil ich nicht schlief und weil sie neben mir lag. Ich versuchte den Rhythmus erst selbst auf der Gitarre zu klopfen, dann sie. Ich musste korrigieren. Es war ein komplexer Rhythmus, der immer wieder durch ein Fingerschnippen unterbrochen wurde.

Die Gitarre hatte einen ungewohnten Klang. Die Saiten tönten nämlich mit, obwohl wir sie nicht mal berührten. Der Hohlraum klang tief und dumpf.

Als wir den Rhythmus gefunden hatten, begann Marisol zu singen, eine Melodie, die entfernt an den Piano Man erinnerte. Aber es war ihr eigener Text, denn im Refrain sang sie: „give us a song, you’re the guitar girl“

Als der Refrain zu Ende war, sagte ich ihr spontan den Text vor und sie sang ihn nach. Ich erzählte ihr, dass ein Stein ins Wasser fiel und den ganzen See unruhig machte. Dass am Ufer eine Gitarre lag, und dass die Saiten jetzt genauso schwangen wie die Wasseroberfläche. Ich sagte, dass sich das Wasser erst wieder beruhigen würde, wenn da jemand kommt und die Gitarre spielt. So lange werden die Wellen ans Ufer schlagen und der Boden wird nicht zu sehen sein und nicht einmal der eine Stein, der das alles verursacht hatte.

Sie antwortete mit dem Refrain: „Give me a song, said the guitar girl … and then I will healing the world.“

Was sagt ihr dazu?