Die Zukunft des Menschen – Essay

Virtuelle Identitäten sind keine echte Identitäten. Oder etwa doch?

Ich erinnere mich an diese eine Anekdote. Ein deutscher Showmaster verkündete in einem Interview, dass er Twitter für Überbewertet halte. Die Reaktion eines Menschen, der das ganz anders sah, war so genial wie niederträchtig und entlarvend. Er ging in die sozialen Netzwerke und legte dort unter dem Namen eben jenes Entertainers eine neue virtuelle Identität an. Aus dem Internet besorgte er sich ein nettes Profilbild. Dann verknüpfte er das neu geschaffene Profil mit den Fernsehanstalten, in denen der Showmaster anzutreffen war. Und für ein gutes halbes Jahr postete der Identitätdieb harmlose kleine Sätzchen, die der Entertainer gesagt haben könnte, die so luftleer und inhaltstrübe waren, dass sie sich ebenso zu keinerlei Provokation eigneten, genau wie auch die Aussagen des Originals.

Eben weil der „echte“ Showmensch auch nicht provokant oder aggressiv war, weil ihm kein Skandälchen je anhaftete, er so alltäglich aussah und so sympathisch lächelte wie einer jener Menschen, die man nun mal flüchtig zu kennen pflegt und von denen man immer wenn man sie sieht denkt: ach, eigentlich würd ich den gern besser kennen, eben drum versammelten sich recht schnell viele Follower auf dem gefakten Profil. Mit der Summe an Followern wurde das Profil sogar glaubwürdiger. Die Identität wurde dem Dieb geradezu geschenkt und ihre Glaubwürdigkeit vergrößert.

Um dieser Geschichte eine lehrreiche Pointe zu geben, wechselte unser Dieb nach einer für Stabilität sorgenden Zeit den Ton. Sagen wir, es dauerte ein Jahr. Dann schrieb er mit einem Mal etwas gegen Ausländer, etwas gegen Frauen, ein klein wenig Würze aus der Chauvinistenecke, gewürzt mit politisch einseitigen und zu weit zur Seite gekippten Meinungsmacherbildern. Er schrieb auch Werbetextchen, kurz: er missbrauchte den gestohlenen Namen, das gestohlene Bild, die virtuelle Identität und ruinierte damit gleichermaßen die echte Identität, die analoge.

Medien schimpften, Fans empörten sich, Anwälte winkten und Messer wurden gewetzt. Der Tisch des Entertainers wurde gefüllt mit Hassbriefen statt mit Fanpost.

„Die Identität wird in Zukunft das wertvollste Gut der Bürger sein, und sie wird vor allem in virtuellen Medien existieren.“, schreiben Eric Schmidt und Jared Cohen in „Die Vernetzung der Welt“, zwei Führungspersönlichkeiten aus dem Hause Google.

„Die Online-Erfahrung wird mit der Geburt beginnen, oder vielleicht sogar schon früher. Die Vergangenheit eines Menschen lässt sich nicht mehr verändern und kann problemlos für alle sichtbar gemacht werden. In Reaktion darauf werden Anbieter im Internet neue Instrumente zur Kontrolle der Information entwickeln, mit deren Hilfe die Nutzer beispielsweise den Zugang zu ihren Daten auf einen festen Personenkreis beschränken können.“ Die beiden amerikanischen Visionäre skizzieren virtuos ein Utopia der Virtualität. Und sie achten darauf, dass es reziprok zugeht. Es gibt eine Technik in der Mitte, die angeblich für den Menschen gemacht ist und es gibt einen Staat auf der anderen Seite, der dafür sorgt, dass die Technik nicht gegen den Menschen eingesetzt wird. Von Anfang an, geben sie zu, ist unsere Kommunikationstechnologie auf einen Eingriff in unsere Privatsphäre aufgebaut. In Datenbanken werden unsere biografischen Daten gesammelt. Und wenn ein Staat nicht regulierend diese Datensammlung überwacht und die Art, wie darauf zugegriffen wird, sind wir „Freiwild für Arbeitgeber, Zulassungsstellen von Universitäten und Klatschbasen. Wir sind, was wir tweeten.“

Das ist Descartes 2.0, oder nicht?

Ich denke, also bin ich. Das war der Grundpfeiler unserer Identität und unserer Existenz. Wir haben einen Körper und eine Seele. Und dass wir Handeln können und nicht einfach nur uns „verhalten“, das macht uns zu „Menschen“, das ist die Quintessenz dessen, das wir eine Willensfreiheit haben. Ein Hund verhält sich, er plant nicht, er reagiert, schnell, präzise, nicht immer richtig (im moralischen Sinn), aber er verhält sich auch nicht moralisch (im faktischen Sinn). Einem Hund können wir nie einen Vorwurf machen, wenn er etwas tut, denn es ist ein Verhalten, keine Absicht. Wir dagegen Handeln. Alle unsere Daten sind Ergebnisse unserer Taten, die Ergebnisse unseres Entscheidens, welches Ergebnis unseres Denkens, welches Ergebnis unserer Erfahrungen ist. Das ist mehr als Instinkt und Intuition.

Wenn jemand meinen Namen ausspricht, dann spricht er nicht über ein Ding, er spricht über mein Ich. Er sagt meinen Namen und meint damit all das, was er von mir hält. Wenn ich mich daneben benehme, gegen die Gesellschaft agieren, wird mein Name aufgeladen werden mit all den Dingen, die man Reputation nennt.

Es gibt extrem konservative Gesellschaften, in denen die soziale Schande schwerer wiegt als bei uns, behaupten die beiden amerikanischen Visionäre und sie nennen die große Gefahr einen „virtuellen Ehrenmord“.

Das haben wir doch heute schon. Wird der Personaler nicht aufmerksam, wenn er im Internet so gar nichts über einen findet? Wird er nicht denken, hier hat jemand etwas zu verbergen, vielleicht sogar aktiv etwas verborgen?

Und was denkt er, wenn er die virtuelle Identität mit der realen vergleicht? Auf Facebook sah er so nett aus, in der Realität ist er garstig. Auf Tinder hätte ich sie gemocht, in Büro nebenan ist sie mir zu laut und zu schrill.

Der Trend geht aber weiter in die Virtualität.

Wir können unsere virtuellen Ichs für uns arbeiten lassen. Ich twittere, facebooke, tindere, What’sAppe, Google, Wikipediae, … ich virtuelle, also bin ich.

Der weltweit umstrittene Präsident der Vereinigten Staaten, der auch für seine Twitter-Präsenz berühmt ist, wurde vor nicht allzu langer Zeit Opfer eines Anschlags. Ein gekündigter Mitarbeiter bei Twitter beschloss, seinem Ärger Luft zu verschaffen, indem er die virtuelle Identität des ewig zwitschernden Präsidenten vom Netz nahm. Für sage und schreibe sechs Minuten war der Präsident also ermordet worden. Nach diesen sechs Minuten wurde er wiederbelebt, eine Sache, die nicht nur vielen anderen Politikern vor ihm verwehrt war, weil ein analoger Tod eben nicht vergleichbar zu sein scheint mit dem virtuellen. Zum anderen erinnert das an die Dystopie Otherland von Tad Williams, worin ein reicher, machthungriger Mann beschließt, durch seine virtuelle Identität unsterblich zu werden. Kontrastiert wird dieser virtualisierte Unsterblichkeitswahn mit der ägyptischen Mythologie und dem immer wieder kehrenden Bild der mystisch aufgeladenen Pyramiden und der Mumien.

„Die Online-Identität wird als Währung derart wertvoll werden, dass ein Schwarzmarkt für echte und falsche Identitäten entstehen wird.“, prophezeien derweil Cohen und Schmidt. „Es gibt bereits Unternehmen, die vor Identitätsdiebstahl schützen.“, erklären sie. Sie erklären die Vor- und Nachteile davon, wenn Identität als Währung präsenter wird. Was wird es alles geben? Identity-Manager, die sich um eine saubere Reputation bemühen, angefangen von der perfekten E-Mail-Adresse bis hin zum optimalen Profilbild. Identity-Security, die sich um die Sicherstellung von Profilreinheit kümmern. Identity-Securance, bei denen man seine Identität versichern kann.

Stewart Brant, Gründer und Herausgeber des Whole Earth Catalogs, wird der Satz zugewiesen: „Information will frei sein.“ Das wird als Trost angeführt, dass auch die virtuelle Identität sich nicht ein stabiles Fake-Truth schaffen kann. Die Wahrheit kommt immer ans Licht. Es wird aber auch als Drohung angeführt: Wir können uns nicht davor verschließen, den Informationen den Fluss in den großen Datenstrom zu verwehren. Das Web 2.0 ist längst real, heißt es. Unter Web 2.0 versteht Stephan Münker, Privatdozent am Institut für Medienwissenschaft der Uni Basel: „ganz allgemein den Trend, Internetauftritte so zu gestalten, dass ihre Erscheinungsweise in einem wesentlichen Sinn durch die Partizipation ihrer Nutzer (mit-)bestimmt wird.“ (Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien 2.0.)

Jetzt darf man sich selbst fragen, was es für den Präsidenten der USA oder den anfangs erwähnten Showmaster bedeutet, wenn ihre Identitäten entsprechend virtuelle Identitäten 2.0 sind: das Profil der Zukunftsmenschen wird im wesentlciehn Sinn durch die Partizipation der Rezipienten (mit-)bestimmt. Die Aktivität ist eine ganz andere als in der analogen Welt. Ebenso die Konsequenz, dass ihr wertvollstes Gut zu einer dauerhaften Währung geworden ist, die frei sein will.

Der Descartes der Zukunft wird haben: Leib und Seele, damit eine Existenz und eine Essenz. Und darüber stülpt er sich selbst ein zweites Leibchen aus Daten. Wie eine russische Puppe, nicht wahr? Avatar, Leib und Seele, die hoffentlich nicht so tief verborgen sein wird, dass sie keine Ahnung mehr hat, wie schön das Tageslicht der Realität aussieht.

 

Quellen:

Eric Schmidt; Jared Cohen: Die Vernetzung der Welt – Ein Blick in unsere Zukunft; Rowohlt; 2013.

Stefan Münker: Emergenz digitaler Öffentlichkeit. Die Sozialen Medien im Web 2.0; edition unseld 26; 2009.

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