Die zwei Juden (Auszug aus meinem Hannah Arendt Projekt)

„In Königsberg lebten einmal zwei Juden.

Die waren wie Brüder. Sie hatten eine gemeinsame Kindheit, also viele Abenteuer zusammen erlebt. Sie waren aber tatsächlich aus ganz unterschiedlichen Familien. So unterschiedlich, wie du dir es kaum vorstellen kannst. Der eine, er hieß meinetwegen Solomon, war ganz streng erzogen worden. Nach alter Sitte, wie man vielleicht sagt. Denn die Familie von Salomon war ursprünglich aus dem Osten zu uns in die Stadt gekommen. Und durch diese Reise hat Solomons Familie gelernt, wie wichtig es ist, sich immer an dem Festzuhalten, was man ist. Länder können wechseln wie das Wetter. Aber das Herz in der Brust schlägt immer im gleichen Takt. Und deshalb, so hatte man Salomon immer gesagt, deshalb ist es wichtig, dem eigenen Herzschlag zu folgen und nie seinen Takt zu verlieren.

Deshalb sprach Salomon zum Beispiel kein Deutsch. Er konnte es auch nicht lesen. Er war ein Tora-Schüler wie sein Vater es einmal gewesen war und der Vater vor ihm. Und deshalb las er auf Hebräisch und sprach auf Jiddisch. Er kleidete sich wie schon seine Großväter vor ihm. Und er trug seinen Bart und seine Locken.

Es gab damals ganz viele Juden wie Salomon. Und deshalb konnte man durch Königsberg gehen und man konnte sagen: „Sieh mal, da hinten geht ein Königsberger. Und sieh mal da, da geht ein Jude.“, obwohl beide Familien vielleicht schon seit Ewigkeiten hier lebten.

Der andere allerdings, Salomons allerbester Freund, nennen wir ihn doch Daniel, da war die Familie anders. Auch wenn Daniels Familie Schulter an Schulter mit der Familie von Salomon gereist war, sie die selben Wetter wechseln gesehen hatten und so viele verschiedenen Zelte und Häuser ihr Heim genannt hatten, so fühlten sie doch ganz anders. Daniel sprach Deutsch. Denn seine Familie waren ein Teil der Haskalah. Die Haskalah-Juden wollten Deutsch lernen, wollten die Bücher lesen, die hier geschrieben worden waren – ja sie lasen viel mehr als nur die Tora. Der Erfinder der Haskalah hatte sogar die Bibel der Christen ins Hebräische übersetzt. Und es gab Zeitungen im Haus von Daniel, mit denen man langsam versuchte, die beiden Kulturen zusammen zu führen. Der eigene Herzschlag ist ein Rhythmus, nicht wahr, ein ganz eigener Takt. Aber warum sollte man den inneren Takt nicht mit dem Rhythmus der Welt um einen herum verbinden? So dachte die Familie von Daniel. Und wenn man ihn auf der Straße sah, dann hätte man nicht sagen können: Sieh mal, da geht ein Königsberger und da geht ein Jude. Man hätte höchstens sagen können: Da geht ein Königsberger Jude. Verstehst du? Das ist etwas anderes.

Und deshalb ist es auch ein Wunder, dass Salomon und Daniel sich lange so gut verstanden. Natürlich gab es immer mal wieder Streit. Streit darum, dass Daniel sich dafür verteidigen musste, ein Deutscher zu sein. Nicht einfach nur, weil er deutsch sein wollte, sondern weil er einer war. Aber das ist jetzt zu kompliziert nicht wahr? Ich will lieber bei der Geschichte bleiben.

Und in jeder guten Geschichte geht es entweder um Liebe oder um Freundschaft, hab ich Recht? Sonst ist es keine gute Geschichte.

Ich will dir aber eines noch sagen: Jedes Leid auf dieser Welt kann man besser ertragen, wenn man eine Geschichte darüber erzählt. Und manchmal glaube ich, das Judentum ist immer voller Leid.

Eines Tages kam durch das Judentor eine neue Familie in die Stadt. Und diese Familie hatte eine Tochter. Die war so wunderschön, dass sich Salomon und Daniel noch im ersten Augenblick in sie verliebten. Und verliebte junge Männer fangen meist direkt damit an, dem Mädchen zu imponieren.

Salomon traf das Mädchen bei einem großen Fest. Es war ein Willkommensfest für die von Weit gereisten. Es gab festliches Essen für den Körper, angenehme Reden für die Seele und gute Musik für die Herzen. Der junge Salomon beeilte sich, mit dem Mädchen in einem Chulu zu tanzen. Immer im Kreis geht es da. Und man geht aufeinander zu und sieht sich in die Augen. Und das Mädchen war ganz angetan. Weil man gerade beim Tanzen spürt, dass man jeden Schritt kennt. Und da sieht man, dass in jedem Land ein Stück Heimat für einen steckt; fühlt man sich da nicht gleich überall wie zu Hause? Geborgen? Aufgenommen in einen freundschaftlichen Teil der Gesellschaft.

Und dann, am nächsten Morgen, wenn man aus dem Fenster blickt in die Straßen dieser fremden Stadt, dann ist einem alles ganz kalt und die Wärme vom Tanz ist fort. Man spürt wieder, dass der eigene Herzschlag einen ganz anderen Takt schlägt als der Takt dieser Fremde. Unbekannte Gesichter, unbekannte Straßennamen, unverständliche Sprache. Eine Welt, in der jeder einen festen Platz hat und man selbst eben nicht.

Und als das Mädchen mit diesem Gefühl am nächsten Tag das Haus verließ, wartete Daniel auf sie. Und er bat sie, mit zu kommen. Nahm sie bei der Hand. Führte sie durch das große, fremde Gewirr in den Straßen hinein in einen kleinen, modrigen Schuppen.

Da hingen merkwürdige Kostüme von der Decke, so dicht beieinander, dass es einem vorkam, als würde man hindurch schwimmen. Und es roch nach fremdem Staub. Es war zugig und kalt. Die beiden wühlten sich hindurch, fanden einen Weg zwischen den alten Kleidern vorbei und standen plötzlich auf der Hinterbühne eines alten Theaters.

Und da wurde ein Stück gespielt, das das Mädchen noch nicht kannte. Es war ein deutsches Theaterstück, überhaupt nicht jüdisch. Überhaupt nicht bekannt. Und doch war es auf Jiddisch. Und das Mädchen setzte sich wie gebannt neben ihn auf eine alte Requisitentruhe. Sie saßen da unscheinbar am Rand. Wie zwei verlorene Stück Treibhölzer im Meer. Sie folgten mit glänzenden Augen der Handlung und als die Szene kam, in der der Held kurz davor war seine große Liebe zu küssen, da hörte sie auf einmal sein Flüstern ganz nah an ihrem Ohr. Und er flüsterte ihr die Worte die der Held gerade sagte auf Deutsch zu. Er flüsterte in einer völlig unverständlichen Sprache. Aber sie spürte einen kalten Schauer über den Rücken. Hörte die Reime und den Klang und den Rhythmus und da war es ihr … Ja, da war ihr, als ob ihr eigener Takt, ihr eigener Herzschlag schneller wurde. Und nun, wie das halt so ist, wenn zwei Herzen ganz nah beieinander schlagen, dann passen sich die beiden Herzen aneinander an. Das eine Herz wird schneller, das andere langsamer. Bis beide im gleichen Takt schlagen: das Herz des Mädchens und das Herz dieses neuen Landes.

Und du merkst schon, Hannah, dass ich nicht mehr ‚fremdes’ Land gesagt habe. Ich hab ‚neues’ Land gesagt. In diesem Augenblick fühlte dieses Mädchen sich nämlich nicht mehr als Fremde.“

„Und wer von den beiden Männern hat das Mädchen am Ende gekriegt?“

„Gekriegt?“, ihr Großvater brummte, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass ihm die Wortwahl der Enkeltochter nicht gefiel. „Sie hat sich für Daniel entschieden. Und Daniel hat sich für sie entschieden. So ist das. Die beiden haben geheiratet.“

Sie waren kurz davor, zu Hause zurückzukehren, als Hannah noch ein Gedanke kam, den sie einfach nicht mehr zurückhalten konnte:

„Bist du es?“, wollte sie wissen. „Bist du dieser Daniel gewesen? Und Oma dieses Mädchen?“

„Es hätten auch ganz andere sein können. Ganz viele sogar.“, sagte er geheimnisvoll. Und dann traten sie ein.

Was sagt ihr dazu?