Frust

Demnächst erscheint mein Debütroman. Um uns die Wartezeit zu versüßen, folgen demnächst endlich mal wieder ein paar kurze Horrorstories. Folgt mir auf Instagram, wenn ihr mehr wissen wollt… Mit einem lauten Schrei verschaffte Naveen sich Platz und raste in die Jungentoilette der Langenfeldschule. Er musste sich dazu zwingen, den Sturm in seiner Brust zu beruhigen. Auf gar keinen Fall wollte er es zulassen, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Die zitternden Hände aktivierten den Wasserhahn, dann steckte er den Kopf unter das eiskalte Wasser, schloss die Augen und rang sich dazu durch, tief zu atmen. Das Wasser versiegte irgendwann automatisch. Seinem Sturm hatte es nicht wirklich Einhalt geboten. Als er in den Spiegel sah, blitzte ihm ein dunkles Augenpaar entgegen. „Ich hasse dich“ fauchte er sein verdammtes Spiegelbild an. Ich hasse, was aus dir geworden ist! Sein Vater sagte, dass jedes Scheitern eine Lektion sei. Lektionen im Besserwerden. Naveen war erst siebzehn, bei weitem nicht halb so alt wie sein Vater. Aber er wusste, dass dieses Lamentieren über Lektionen ein ausgemachter Bullshit war, der seines Gleichen suchte. Was ließ sich schon daraus lernen, wenn Josefine Hennings nach einem verdammt glücklichen halben Jahr mit einem Schluss machte und dabei sogar so entsetzlich ehrlich war, ihm den offensichtlichsten aller Gründe dafür zu nennen: „Wenn doch nur …“ Unter dem Druck der Erinnerung schrie Naveen noch einmal. Aber diesmal war es so laut, dass er sich einbildete, die Kabinentüren hinter ihm würden in den Angeln erzittern. „Wenn doch nur alles wie früher wäre.“ Die Zähne knirschten, weil er sie nach dem Satz so fest aufeinanderpresste wie er nur konnte. Am liebsten wären sie ihm im Mund geborsten. Das machte auch nichts mehr. Eine ungewöhnliche Variante von Morbus Bechterew, ein überdurchschnittlich rapider Verlauf einer sich ausbreitenden Verknöcherung und Verkrümmungen. Die eigenen Knochen als Lektionen ohne Lehre. Alles hatte sich geändert. Er hatte sich geändert. Lektionen im Besserwerden, dachte er voller Zorn. „Du machst Schluss wegen eines Rollstuhls!“, hatte er ihr auf den Kopf zugesagt. Sie war nicht zurückgetaumelt. Hatte nicht halb so entsetzt reagiert, wie er das gerne gehabt hätte. Josefine Hennings, die Meisterin der Moral, der Offenheit und Ehrlichkeit. Sie hatte es nicht einmal geleugnet. Weil es stimmte. Die Zähne knirschten. Er schob die Oberlippe zurück und sah im Spiegel, wie sein Gesicht dunkler wurde und bösartig. Eine Fratze des Hasses. Die Kabinentüren zitterten wirklich. Er konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie sich Risse über das Holz zogen. Aber er wagte nicht, den Blick von dem Ding abzuwenden, das ihm aus dem Spiegel entgegensah. Ein Gesicht, das viel breiter grinste, als es ihm selbst möglich war. Das mehr Zähne besaß. Viel mehr Zähne. Eine nie enden wollende Phalanx aus bleichen, gierigen Beißerchen. Zwischen ihnen krochen Worte hervor, die den Spiegel von der gegenüberliegenden Seite zum Beschlagen brachte. „Jedes Scheitern ist Lektion“, die Worte zischten durch den Raum. Das Licht über Naveen flackerte. Die Risse in den Kabinentüren waren nicht wirklich. Jetzt durchschaute er die Illusion. Weil jeder Riss sich weiter nach oben zog als die Türen hoch waren. Es waren Risse im Spiegelglas. Das Ding ihm gegenüber, das längst nicht mehr aussah wie Naveen Simh, griff mit krallenbesetzten Fingern nach den Rissen, zerrte an ihnen und öffnete das Glas wie einen straff gespannten Vorhang. Es klang, als würden Mullbinden zerreißen. Das Ding schälte sich vom Jenseits der Spiegelwelt zu ihm hervor und stieg über ihn und seinen verfluchten Rollstuhl hinweg. „Hey, ist alles ok?“ Tom Levitz steckte den Kopf zu ihm herein. Naveen zuckte wie aus einem Albtraum zusammen und sah ihn an. Das eiskalte Wasser war ihm längst aus den Haaren gelaufen und tropfte nur noch träge in seinen Schoß und in sein Genick herab. „Alles ok“, wiederholte Naveen dumpf. Sein Gehirn fühlte sich taub an. Die Gedanken waren verschwommen. Langsam rollte er aus der Toilette heraus. Flüchtig musste er an seinen Vater denken. Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit. Ein kaum spürbares Rumoren im Bauchraum. Als würde jeden Augenblick etwas Schlimmes passieren.

Was sagt ihr dazu?