Hinter der unsichtbaren Ziellinie

Ab einem gewissen Erfahrungsschatz fühlt es sich an, als habe man eine unsichtbare Ziellinie erreicht. Du musst dich jetzt nicht mehr verändern, denkst du. Du kannst von jetzt ab dein Leben einfach auslaufen lassen. Du weißt, es gibt Leute, mit denen du klarkommst und Leute, die nicht mit dir klarkommen. Du brauchst dich nicht mehr so intensiv zu verändern. Du hast dein Leben gefunden. Das nennt sich das Wahre Leben, die Erfüllung. Träume sind nur noch für den Schlaf reserviert. Im Radio läuft seichte Popmusik, an der Wand hängt ein Sprüchekalender. Jetzt kann einen nichts mehr aus der Bahn werfen.

Und während dieser Fahrt ignorierst du völlig, wie geil es damals war, als du in der Pubertät noch gedacht hast, du könntest die Welt aus den Angeln heben.

Du ignorierst, dass Leben bedeutet, sich verändern zu können.

Weil in deiner ganzen Nachbarschaft niemand mehr über sich hiauswächst, hörst du dich den selben Witz zum hundertsten Mal erzählen.

Und schlimm genug: findest ihn sogar immer noch witzig wie am ersten Tag.

Denn hinter der unsichtbaren Ziellinie für diese Art Mensch jeder Tag der gleiche Tag ist.

Sie sind seit zwanzig Jahren auch immernoch der gleiche Mensch.

Was sagt ihr dazu?