Der Rote Pirat hasste Weihnachten.
Schon seit Jahren hatte er kein Weihnachten mehr gefeiert. Um genau zu sein: seit er mit seinem Schiff, der „Wetterleuchte“, unterwegs war. Die Wetterleuchte war ein großer Neunmaster. Das bedeutet, dass es Sage und Schreibe neun Masten gab, an denen neun riesengroße, schlohweiße und nicht an einer einzigen Stelle geflickte Segel hingen. Auf jeder Mastspitze gab es ein Krähennest, also ein runder Korb, worin je ein Pirat zu sitzen hatte, um den Horizont nach fremden Ländern oder fremden Schiffen abzusuchen, die man hätte überfallen können. Jeder Mast war so dick, dass gerade einmal der fette Langarm-Jack sie hätte umarmen können. Aber Piraten umarmen keine Masten. Und deshalb prahlte der fette Langarm-Jack einfach nur damit, dass er der einzige wäre, der das gekonnt hätte.
Und das prahlte er jeden Tag, genauso wie jeden Tag neun Piraten in den Krähennestern saßen und genauso wie jeden Tag das Deck geschrubbt wurde, die Kartoffeln geschält oder mit dem halsstarrigen Schielaugen-Jim darüber gestritten wurde, ob die goldene Gallionsfigur am Kopf des Schiffes jetzt eine Meerjungfrau sei oder einfach nur eine junge Frau, die sehnsüchtig das Meer absuchte. Wissen tat das keiner der Piraten so genau. Denn bis jetzt hatte keiner die Wetterleuchte jemals außerhalb des Wassers gesehen. Und da unten im Wasser, da hätte man sehen können, ob die goldene Figur jetzt Beine hatte oder einen Fischschwanz.
Jeder Tag der Piraten lief gleich ab. Außer die Tage im Dezember natürlich. Denn im Dezember – vor allem den paar Tagen bevor es auf dieses vermaledeite Weihnachten zuging – war das Leben auf der Wetterleuchte ganz und gar widerlich und verdorben.
Das Meer, in dem die Wetterleuchte tagaus, tagein unterwegs war, pflegte komplett zu zugefrieren. Und deshalb fuhr man nicht vorwärts. Deshalb saß auch niemand in den Krähennestern, die neun Segel waren nicht gesetzt und wenn sich ein Schiff nicht vorwärts bewegt, dann hat auch keiner aus der Mannschaft noch Lust, zu streiten. Lieber setzte man sich hin, zündete jeden Sonntag brav eine Kerze mehr an und man sang unheimliche Lieder. Die Lieder waren deshalb so unheimlich, weil nicht ein einziger Ton ganz dunkel und tief sein durfte. Und der kahlköpfige Operetten-Luis mit der hohen Fistelstimme musste die Lieder immer erst einmal ansingen, damit die anderen sich an die hohen Töne anpassen konnten. Der Schiffskoch, den alle den Rübli-Bübli nannten, war der stummste von allen. Er hatte eine Engelsgeduld. Deshalb musste er im Dezember immer in dem kleinen Vorraum vor der Kapitänskabine stehen und die Arme ausstrecken. Einen ganzen Monat lang. Wann immer einer der Piraten etwas Glitzerndes fand, wurde es dem Rübli-Bübli an die ausgestreckten Arme gehängt. Oder an die Ohren oder die Nase. Und nach vierundzwanzig Tagen, das kann man sich ja wohl vorstellen, sah der Schiffskoch aus wie ein blitzender, glänzender Weihnachtsbaum. Oben auf den Kopf bekam er an die ewig schmutzige Schiffskochmütze sogar einen Stern gepappt. Das machte Schielaugen-Jim. Er sagte: „Da. Ein Meerjungfrauenstern. Den hab ich der Prinzessin aus dem Haar gepflückt. Ist ’ne Ehre, den Stern an der Mütze zu tragen.“
Und der Schiffskoch sagte nichts dazu, sondern grinste nur schäl und schielte mit einem fragenden Blick zu dem Kapitän hinüber, der von Tag zu Tag verständlicherweise immer brummiger geworden war. Ja, je mehr Kerzen auf der Rehling der Wetterleuchte angezündet wurden, desto dunkler wurde das Gesicht vom Roten Piraten. Umso mehr Rübli-Bübli dekoriert wurde – und umso weniger gutes Essen auf seinem Abendtisch serviert wurde – desto schlimmer wurde seine Laune.
Und dann, am 23. Dezember verkündete der Rote Pirat beim unglaublich schlechten Abendessen: „Ich hasse Weihnachten.“
Die anderen Piraten hielten die Luft an und der Rote Pirat polterte weiter:
„Nichts ist normal! Das Meer ist geeist. Was ist das denn für ein Schiff, das im Wasser feststeckt? Was bringen uns neun Masten, wenn auf keinem die Segel gesetzt sind. Neun Krähennester haben wir und in keinem sitzt auch nur ein Pirat. Wir haben die Kammern voll Essen und die Suppe in den Tellern schmeckt wie Salzwasser. Nicht einmal wenn sich ein Pirat daneben benimmt, kann ich ihn dazu verdonnern, das Deck zu schrubben. Sonst würde das Wasser auf Deck ja sofort gefrieren und wir hätten kein Schiffsdeck mehr, sondern eine Schlittschuhbahn!“
Langarm-Jack, der es einfach nicht ausstehen konnte, wenn der Kapitän schlechte Laune hatte, versuchte zu trösten und sagte: „Aber bei dem kalten Wetter sieht man nachts wenigstens mal den Sternenhimmel ganz schön.“
Das brachte den Roten Piraten nur noch mehr zum Schimpfen: „Und was nützen uns Sterne, wenn wir doch nicht in ihre Richtung fahren können?“
„Na immerhin schneit es nicht auch noch.“, meinte Langarm-Jack eingeschüchtert von der holprig lauten Art des Kapitäns.
Draußen auf Deck begann in diesem Augenblick der Operetten-Luis ein besinnliches Weihnachtslied. Er sang so hoch, als wollte er mit seiner Stimme den Mond erreichen. Und die Augenbrauen des Roten Piraten rückten bei diesen hohen Tönen so tief nach unten, dass die blitzenden Augen gar nicht mehr zu sehen waren.
Knurrend stand er auf, dass ihm der Stuhl unterm Hintern nach hinten umfiel, stampfte aus dem Zimmer und schlug auf dem Weg in seine Kapitänskajüte hinter sich jede einzelne Tür so fest zu, dass Rübli-Büblis Schmuck ganz lieblich klingelte und bimmelte.
Während die Piratenmannschaft an Deck darüber nachdachte, was man denn jetzt tun könne, trampelte der Rote Pirat in seiner Kajüte stinksauer immer im Kreis herum. Er gab sich richtig Mühe dabei, dass man auch ja das Kreisgestampfe im ganzen Schiff hören konnte. Er war nämlich der festen Ansicht, dass es nichts brachte, stinksauer zu sein, wenn keiner an Bord etwas davon mitbekam. Selbst die Ratten in der Vorratskammer hörten das Getrampel und verkrochen sich ängstlich zwischen dem Käse und dem Schinken.
„Dieses dämliche Weihnachten!“, schimpfte er immer wieder. Die anderen Piraten fahren an Weihnachten immer in die warmen Meere und zogen sich an Land zurück, um dort Weihnachten mit ihren Familien zu verbringen. Und jedes Mal, wenn auf dem großen Novembertreff alle Piraten damit prahlten, auf welcher kleinen Pirateninsel sie ihr Fest feiern wollten, lästerte der Rote Pirat über sie, diese weichgespülten Heringspiraten, die allesamt nur 11 Monatspiraten waren. Aber nicht so wie er: ein hundertprozentiger 12 Monatspirat. Ein Ganzjahrpirat. Einer, der auch im Winter die Weltmeere unsicher machte.
Der selbst, wenn er zur Tatenlosigkeit verdonnert war, weil ihm das Wasser unter dem Schiffshintern festfror, immer noch böse und gemein und eben wie ein echter Pirat durch die Kajüte stampfen konnte, bis er zu müde wurde, um weiterzustampfen. Selbst im Schlaf schimpfte und donnerte, polterte und krakelte der Rote Pirat gegen das unsinnige Weihnachtsfest.
Und da war es am nächsten Morgen, als ihm die blasse Wintersonne zum Wecken ins Gesicht schien, gar nicht mehr wütend zumute. Im Gegenteil. Er fühlte sich so richtig gut, jetzt wo er eine ganze Nacht lang den ganzen Zorn aus sich herausgelassen hatte.
Ja, der Kapitän der Wetterleuchte pfiff sogar ein kleines Lied – aber mit dunklen Tönen – das ein wenig an das letzte Lied von Operetten-Luis erinnerte, mit dem er hatte den Mond erreichen wollen.
Der Kapitän verließ beschwingt seine Kajüte und war erst einmal irritiert. Denn der reich geschmückte Rübli-Bübli stand nicht mehr da, wo er hingehörte. Und überhaupt war alles irgendwie ganz komisch. Jetzt, da er den Kopf einmal schräg legte, konnte er die ungewöhnlichen Geräusche hören, die sich kreuz und quer durch das Holz der Wetterleuchte bewegten. Es klang, als ob an Deck hundert Männer mit den Fingernägeln über das Schiffsholz kratzten. Verwundert kratzte der Rote Pirat sich an den vor Neugier hochgezogenen Augenbrauen. Und dann trat er an Deck. Und er sah seine hundert Mann hin und her über das Holz schlittern.
Sie zogen ihre Bahnen, drehten sich im Kreis, machten lustige Pirouetten und Langarm-Jack hielt die Arme dabei so über den Kopf erhoben wie eine Ballerina. Selbst der reich geschmückte Rübli-Bübli, der aussah wie ein rauschend vorbeitanzender Weihnachtsbaum, grinste bis über beide Ohren und der Meerjungfrauenstern auf seiner Mütze glitzerte vergnügt, als wäre es der Stern von Bethlehem persönlich.
„Potzdausend.“, entfuhr es dem Roten Piraten. „Was ist denn hier los? Hat der Klabautermann die Kontrolle über das Schiff übernommen, oder was?“
Da trat Schielaugen-Jim mit einem Eimer Wasser um die Ecke und noch ehe er den Kapitän sah, schüttete er das ganze Wasser über Deck, so als ob er das Schiff schrubben wollte. Sofort gefror das Wasser und verwandelte diesen Teil des Schiffdecks zu einem Teil der Eislauffläche der Piratenmannschaft.
Dann sah Schielaugen-Jim, vor wessen Füße er das Wasser geschüttet hatte und lief verlegen feuerrot an.
„Oh Kapitän. Guten Morgen.“
Der Kapitän sagte nichts.
„Immerhin wären wir ohne Sie nicht auf diese Idee gekommen, Kapitän.“, meinte Schielaugen-Jim kleinlaut.
Das Auge des Roten Piraten zuckte nervös.
In diesem Augenblick schlitterte Operetten-Luis auf sie zu und klatschte mit vollem Schwung gegen den Mast. Er blieb wie eine Meeresschildkröte auf dem Rücken liegen und streckte alle Viere von sich. Mit einer heftigen Bewegung riss der Kapitän der Wetterleuchte Operetten-Luis die selbstgebastelten Schlittschuhe von den Schuhen.
„Schlittschuhe!“, brüllte der Kapitän und auf einmal sahen ihn alle seine Piraten mit großen Augen erwartungsvoll an.
Es war nicht zu erraten, welche Gedanken dem Kapitän hinter der Stirn durch den Kopf gingen. In seinem Gesicht sah es jedenfalls aus, als ob jeder Muskel wild zucken würde. Und dann schnauzte er Operetten-Luis an: „Noch nicht einmal ordentlich fahren kannst du!“, bei jedem Wort zuckte Operetten-Luis zusammen.
„Vielleicht liegt das daran, dass die Schlittschuhe gar nicht deine Größe sind, sondern meine.“
Ehe sich die Mannschaft versah, hatte der Kapitän die Kufen umgebunden und war losgefahren in Richtung Ruder.
„Schielaugen-Jim!“, rief er. „Mehr Wasser hierher. Hier ist das Eis ja so dünn, da ist es gar kein Wunder, dass man auf den Hintern fällt.“
Und während Schielaugen-Jim rannte, und der Kapitän immer wieder neue Kommandos hin und her schleuderte, amüsierte sich die Mannschaft der Wetterlicht in diesem Dezember zum ersten Mal so sehr, dass man fast hätte vergessen können, dass heute ja Weihnachten war.
Und dass der Kapitän Weihnachten eigentlich ja hasste. Aber nur eigentlich.
Wie hätte er denn jetzt auch aufstampfen können, mit Schlittschuhen unter den Piratenschuhen, auf einem Schiff, das Schielaugen-Jim in eine zauberhafte Schlittschuhbahn verwandelt hatte.
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