Hotel Delphin (1)

Um die Unsicherheit zu überspielen, stand Benji auf und ging zum Bücherregal.

„Hast du eigentlich gehört, was die anderen vorhaben?“

„Wer?“, Lana sah nicht einmal von der Arbeit auf.

„Geht um den Streit zwischen Tobi und Nour.“

Sie ging nicht darauf ein. Statt dessen kritzelte sie weiter auf dem Blatt herum, nahm das Lineal, strich etwas durch. Dann lehnte sie sich endlich von der Arbeit zurück und sah zu ihm hinüber.

„Willst du mir was erzählen?“

„Lass mal.“, hörte er sich sagen. Daran waren wieder ihre Augen Schuld. Diese dunklen, stechenden Augen konnten ihn fertig machen. Denn sie machten aus einem Ja ein Nein. Und aus einem Plan ein Vielleicht. Sie zog die eine Augenbraue skeptisch nach oben.

„Was ist los, Benji?“

„Ich … hab einfach keine Lust mehr auf Mathe. Das ist alles.“

Ihr Blick verriet, dass sie diese Antwort für genau den ausgemachten Blödsinn hielt, der es war. Aber sie stimmte ihm dennoch zu: „Wir können ja eine Pause machen. Wir haben schon das meiste erledigt und“, ein Blick auf die Uhr, „wir liegen gut in der Zeit.“

Sie klappte nicht mal das Heft zu. Und den Stift legte sie auch nicht weg. Eigentlich bewegte sie gar nichts. Sie lächelte ihm zu. Immerhin das.

Benji erinnerte sich an das, was Tobi zu ihm gesagt hatte: „Ich rechne nicht mit euch, dass das klar ist. Dafür kenn ich euch beide zu gut. Vor allem, die Art, wie ihr miteinander redet.“

Das war nichts anderes als die nette Art, Benji einen Feigling zu nennen.

„Worum ging es bei dem Streit diesmal.“

„Ach, ist doch egal.“

„Wenn wir schon aufhören mit Mathe, dann muss jetzt auch eine gute Geschichte kommen, meinst du nicht?“, sie zog ihn gern damit auf, dass sie so komplett unterschiedlich waren. Sie, die Naturwissenschaftlerin und er der, der Geschichten mochte.

„Es ist albern.“

„Ok. Wie du meinst.“

„Sie haben um das beste Essen gestritten. Nichts weiter. Und … egal.“

Vielleicht wäre das Leben ganz einfach gewesen, wenn in diesem Augenblick nichts passiert wäre. Wenn sie es einfach akzeptiert hätte, dass er das wirkliche Thema verschwieg und er es akzeptiert hätte, dass der einmal gefasste Plan sich wegen einer einzigen Frage nicht umsetzen ließ. Aber Tobi hatte ein viel zu gutes, fast schon diabolisches Timing. Er schickte genau in diesem Augenblick die SMS ab. Und das Handy lag natürlich eingeschaltet auf dem Tisch neben Lana.

Benji machte ihr nicht einmal einen Vorwurf, dass sie den Kopf drehte und auf das Display blickte. Weil der Klingelton wirklich aufdringlich war, wenn Tobi ihm etwas schrieb.

Und wenn man schon draufblickte, dann las man auch. So einfach war das.

„Benji? Was geht da vor?“, sie nahm sein Handy und hielt es ihm entgegen.

Er spürte, wie die Verlegenheit ihm ins Gesicht schoss.

„Scheiße.“, sagte Benji.

Lana stand auf, ging auf ihn zu und bedrohte ihn mit ihren dunklen Augen.

„Schieß los. Was sollst du mich fragen?“

Das Handy signalisierte eine zweite Nachricht von Tobi. Diesmal: „Lass mich raten, sie hat natürlich nein gesagt. Mach dir nichts draus, Alter. Sie weiß halt auch, dass du ein Feigling bist.“

„Hältst du mich für einen Feigling?“, fragte Benji.

Die dritte Nachricht war ein kurzes Video: Ein Baby, das mit dem Finger auf einen zeigte und sich vor Lachen nicht mein halten konnte.

Dann begann Benji zu erzählen. Aber ganz anders, als er es sich in den letzten Tagen vorgenommen hatte.

 

Bei Tarek und Mira war es einfacher.

Vor allem, weil sie es war, die auf Tarek zukam. Sie war der Ansicht, dass man immer schnell zum Punkt zu kommen hatte. Dieses ewige um den heißen Brei herum Tänzeln war nicht ihre Art. Sie setzte sich zu Tarek aufs Bett und wartete nicht mal darauf, dass er von seinem Konsolenspiel aufsah.

„Ich will ne Nacht mit dir verbringen.“

„Klingt geil.“, natürlich sagte er das. Was sonst. Welcher Typ sagt daraufhin schon „Oh, Moment mal, da muss ich in meinen Kalender schauen, wann es gehen könnte.“

Er grinste schief. Die Konsole blieb am Laufen, sein Blick auf den gefräßigen Ball konzentriert, der die ganze Welt auffressen wollte.

„Du bist also dabei? Sehr gut.“

Und dann stand sie auf und gesellte sich zu Tareks Katze auf die Fensterbank.

„Bei dir oder bei mir?“, fragte Tarek plötzlich. „Weil meine Eltern das bestimmt nicht so geil finden wie ich, weißt du. Sie mögen dich. Aber sie trauen mir nicht. Die denken, wir würden schlimme Dinge anstellen.“, sein Grinsen wurde viel breiter.

„Wir werden schlimme Dinge anstellen.“, sagte sie einfach. „Aber mach dir keine Sorgen. Ist alles schon geplant.“

„Willst du mir einen Antrag machen, oder was?“, jetzt sah er doch kurz zu ihr herüber. Es dauerte immer länger, bis Tarek merkte, dass etwas in der Luft lag. Und auch jetzt: erst als sie gar keine Antwort mehr gab, drückte er auf Pause, warf den Controller aufs Kopfkissen und kam zu ihr.

„Wovon redest du da eigentlich? Was ist geplant?“

„Weder bei dir noch bei mir.“, sagte Mira. „Willst du dich überraschen lassen?“

Tarek hasste Überraschungen. Aber mehr als das würde er die Wahrheit nicht mögen. Sie grinste.

„Wir treffen uns Freitag Abend. Ich schick dir die Adresse am besten aufs Handy. Ich würd sie dir ja jetzt schon geben, aber ich kenn dich. Du würdest es vergessen und dann steh ich allein da und werde richtig enttäuscht sein. Deshalb schicke ich dir die Adresse erst am Freitag Abend.“

„Warum spielst du immer diese Spielchen, Mira?“

„Ich dachte, du liebst Spiele?“, ihr Blick fiel an ihm vorbei auf den Fernseher mit dem eingefrorenen Bild. „Und ich will doch nicht, dass du dich mit mir langweilst.“

 

Tobi erhielt die Bestätigungen der anderen noch am selben Abend. Von Benji war er ehrlich überrascht worden. Weder war Benji der spontane noch der mutige Typ. Und diese Beziehung mit Lana war nichts anderes als ein Förderprogramm für lahme Eigenschaften. Es gab ja Frauen, die das beste aus einem herausholen konnten. Aber Lana war anders. Sie verkörperte das beste, was Benji je hätte sein können und deshalb hatte er es nicht nötig, stark und unabhängig zu werden. Statt dessen übernahm Lana die Rolle der Bestimmerin und Benji war seit einem halben Jahr nichts besseres geworden als ein lästiger Fußabtreter für die mittelmäßigen Launen dieser Streberqueen.

Die Nachricht enthielt entsprechend einen größeren Anhang. „Wir sind dabei“, war der kurze Teil, der Nachricht, wohl der, den Benji selbst geschrieben hatte. Was dann kam, war eine größere Packliste. „Wenn wir uns aufteilen“, schrieb Lana, „haben wir nicht unnötig alles doppelt dabei.“

„Verrückt“, meinte er, während er die Liste überflog.

„Benji hat zugesagt?“, fragte Nour. Sie lag erschöpft von ihrer Joggingtour einmal quer ausgestreckt auf der Wohnzimmercouch seiner Eltern. Wenn sie da gewesen wären, hätten sie vermutlich synchron mit der Nase gerümpft. „Man riecht immer, wenn du deine Freundin hier hattest.“

„Weil sie direkt vom Sport kommt. Sie würde ja direkt duschen, aber …“

„Nicht bei uns.“, das war beschlossene Sache. Nour durfte nur das Gästebad benutzen. Inzwischen hatte Tobi gelernt, sie rechtzeitig und ohne viel Gespräch aus dem Haus zu schaffen, bevor seine Eltern nach Hause zurückkamen. Er hatte einfach keine Lust mehr auf das Gespräch, das sonst definitiv auf ihn zukäme.

„Du klingst genauso überrascht wie ich.“, stellte Tobi fest.

„Das ist jetzt ja eine ganz neue Seite von Lana.“, sie grinste ihn diabolisch über die Rückenlehne der Couch an. Ihr verschwitzter Oberkörper drückte sich fest in den Stoff der Rückenlehne hinein und das verschaffte Tobi eine gehörige Portion Genugtuung, die ihm wie von kleinen Stromschlägen ausgelöst zwischen den Rippenbögen Funken schlug.

„Sie hat sogar einen Teil der Planung übernommen. Irre, was?“

Nour lachte.

Sie strich sich mit der flachen Hand über die feuchte Stirn. Tobi tat so, als würde er weiter die Nachricht auf seinem Handy lesen. In Wahrheit schielte er aber zu ihr hinüber und als sie mit genau derselben Hand ein Kissen pflückte, um es sich unter zu legen, konnte er es geradezu hören, wie der alte, trockene Blümchenstoff die losgelösten Schweißtropfen von ihrer Hand aufsaugte.

„Ich bin sogar irgendwie erleichtert, dass sie mit dabei sein wird. Ich mag sie irgendwie lieber als diese Mira. Die ist mir zu … ich weiß nicht … irgendwie so unpersönlich. Mit der werde ich einfach nicht warm. Erinnerst du dich -“, überrascht brach sie ab, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass er sich ausgerechnet jetzt über sie beugen würde. Ganz lautlos war er zu ihr gekommen und legte sich jetzt auf sie.

„Hey, du weißt schon, dass ich gerade vom Sport komme?“

„Das war dein Aufwärmprogramm.“, ohne weitere Vorwarnung, fiel er mit seinen Lippen auf ihre und erstickte jedes weitere Wort.

Er war richtig aufgedreht. Als ob von jetzt auf gleich in ihm ein Schalter umgelegt worden und sie jetzt nicht einfach nur noch die verschwitzte Freundin war.

Das Handy vibrierte in seiner Hand direkt über ihrem Kopf. Aber anstatt inne zu halten, warf er das Handy einfach hinter sich.

Als sie endlich wieder Luft bekam und die Chance etwas zu sagen, hatte er sie bereits halb ausgezogen.

„Ich fühl mich grad nicht besonders sexy, Tobi. So voller Schweiß und -“

„Doch.“, sagte er einfach nur. Und er nahm eine Wolldecke – die Lieblingsdecke seiner Mutter – und warf sie über sie beide.

Jetzt lagen sie dunkel. Sie wehrte sich nicht, aber es war nicht perfekt. Auf einmal roch alles so schrecklich intensiv nach dem Parfum seiner Mutter. Tobi schnaubte und stöhnte außerdem dabei wie ein waidwundes Tier. Er war grob und heftig. Alles war schnell vorbei. Danach stand er auf, küsste sie und ließ sie erst mal allein im Wohnzimmer seiner Eltern.

Eine Zeit lag sie einfach nur stumm da und starrte an die Decke. Dann zog sie sich ganz mechanisch wieder an. Er kam zurück. Sie setzten sich an den Küchentresen, aßen noch eine Kleinigkeit und sprachen über das anstehende Projekt. Immer wieder versicherte er ihr: „Wart nur ab. Das wird alles verändern.“ Und als sie nicht reagierte, nahm er sie endlich in den Arm und dann flüsterte er ihr ins Ohr mit einer ganz anderen Stimme, einer viel sanfteren, eine, in die man sich hätte wirklich verlieben können: „Ich verspreche es dir, Schatz.“

Das brachte sie zum Lächeln. Und für ein paar Tage würde sie ihm das Versprechen wohl glauben.

 

Lana wollte mit Benji unbedingt vorher einmal zu dem Haus fahren. Aber nicht hinein natürlich. Was sie sich davon versprach, es einmal von außen zu sehen, verriet sie ihm nicht.

„Hier also?“, fragte sie.

Sie standen vor dem Delphin-Hotel. Es war ein schmuckloser, blauer Kasten mit ausgeblichenen, gelben Balkonen. Das Delphin war in den 60er Jahren bei einem spontanen Touristenboom aus dem Boden gestampft worden und noch nicht mal je eröffnet worden. Es war ein sperriger, hässlicher Klotz, der zu allem Elend auch noch am Stadtrand und mutterseelenallein stand. Die umliegenden Grundstücke waren tatsächlich nie bebaut worden. Nur auf der linken Seite hatte es für einen Bauzaun und ein paar Gerätschaften gereicht. Größtenteils war hier aber alles vermüllt. Sogar ein uralter schwarzer Mercedes ragte in der Mitte des Nachbargrundstücks aus einem Sandhügel hervor. Das machte alles irgendwie noch surrealer und dystopischer.

„Was soll das heißen?“, fragte Lana.

„Das Gegenteil von einer Utopie. Also kein traumhaft schöner, perfekter Ort. Sondern im Gegenteil. So wie in Planet der Affen. Da steht doch auch diese Freiheitsstatue im Meer und man sieht nur den oberen Teil. Das hat so eine ganz entsetzliche Weltuntergangsstimmung.“

Weil er sich beobachtet fühlte, sah er zu ihr. Sie lächelte.

„Planet der Affen? Echt jetzt?“

„Naja, es sieht halt so aus … und es ist so ein starkes Bild, das jeder kennt, auch wenn man den Film nicht gesehen hat und …“

„Ich meinte, weil Tobi vorhat, hier … du weißt schon.“

„Es läuft halt nicht mehr so gut zwischen den beiden. Er dachte, wenn er ein Wochenende hier mit ihr verbringt, so als ein kleines Abenteuer, dann wird das mit Nour wieder besser.“

„Du meinst im Bett.“

Benji stammelte etwas vor sich hin.

„Schon gut.“, wehrte sie ab. „Sagen wir einfach, dann wird es zwischen ihnen wieder besser.“, sie lachte ihn dafür aus, dass er sich so schnell schämte. Aber immerhin war es kein bösartiges Lachen. Sanft legte sie ihre Hand in seine. So standen sie da und betrachteten das Hotel Delphin.

„Hier hat noch nie jemand geschlafen?“

„Es ist nie eröffnet worden.“, bestätigte Benji.

„Weißt du warum?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Du bist doch sonst immer so auf Geschichten fixiert.“

Er zuckte nur mit den Schultern.

„Auf mich wirkt das Haus jedenfalls gar nicht sexy.“

„Es ist ein Hotel und es ist kostenlos.“, erklärte Benji. In Wahrheit hatte er auch keinen Plan, wie sein Freund auf diese Idee mit dem Hotel-Abenteuer gekommen war.

„Mira und Tarek sind jedenfalls auch dabei.“, sagte Benji. „Drei Pärchen. Dann braucht keiner Angst zu haben. Vor Geistern oder so.“

Es hatte ein Scherz sein sollen. Aber Lana lachte nicht.

Dann gab sie ihm ein Zeichen, dass sie wieder gehen konnten.

„Aber glaub ja nicht, dass wir alle im gleichen Zimmer schlafen werden oder so. Ich mach da nicht mit, weil … ich meine, ich steh nicht auf irgendwelche komische Spielchen.“, ihr Blick bohrte sich in ihn hinein. „Das ist klar, oder?“

„Klar.“, sagte er. „Keine Spielchen. Und überhaupt: Nur eine einzige Nacht. Nur Freitag auf Samstag. Die andern können machen, was sie wollen.“

Damit hatte er genau ihre Worte wiederholt und das beruhigte sie. Sie küsste ihn sanft, dann gingen sie einkaufen. Es waren noch ein paar Sachen von Lanas Liste zu besorgen.

 

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