Vom Festhalten und Loslassen … und dem Hunger nach Realität (Essay)

Ich erinnere mich noch gut an meine Entscheidung, Facebook beizutreten. Ich erinnere mich, weil ich das Prinzip der sozialen Medien verstanden zu haben glaubte und für mich nicht als sinnvoll erachtete. Es war nämlich so: Ich dachte, auf Facebook agiert man grundsätzlich als großer Brüller. Man setzt sich hin und wirft in eine sogenannte Timeline hinaus, was man gerade eben an Meinung hatte. Jetzt bin ich zwar ein Mensch, der grundsätzlich Meinungen hat, aber das bedeutet ja noch lange nicht, dass meine Meinung auch andere interessiert oder auch nur ansatzweise sinnvoll ist, aus dem Fenster in die Welt gebrüllt zu werden. Ich begann also nicht mit Meinungen, sondern damit, kleine Anekdoten über mein Leben zu posten. In der Freundesliste waren nur Leute, die ich auch wirklich kannte, mit denen ich sonst schwer Kontakt halten konnte – weil ich kein großer SMS-Schreiber und erst Recht kein Mail oder Briefeschreiber bin. Und dann uferte alles nach ein paar Jahren aus.

Machen wir es kurz: Am Ende hatte ich einen Account bei Facebook, Instagram, Twitter und alles war Rund um eine eigene Homepage organisiert, auf der ich meine in die Welt hinausbrüllte. So lange es wenige Leser waren (wenige. Sind da weniger als hundert damit gemeint?) ist es wohl eher ein Flüstern denn ein Brüllen gewesen. Und je mehr Accounts ich hatte und mich umblickte, je mehr ich hörte, dass Leute sich auf Facebook, Instagram, Twitter und so fort, grundsätzlich völlig anders benehmen, umso mehr hatte ich einen ganz anderen Eindruck: Eigentlich ist alles ziemlich ähnlich.

Und: ich hatte mich in Teilen geirrt. Es geht nicht einfach nur darum, eine eigene Meinung in die Welt hinauszubrüllen, in der Hoffnung, irgendwie gehört zu werden. Es geht darum, dass man Teile von sich selbst einfach festhalten und nichts loslassen möchte.

Von meiner Kindheit und Jugend existieren nur eine handvoll Fotos. Ich weiß, dass damals niemand einen Fotoapparat dabei hatte und niemand von uns auf die Idee gekommen ist, im größtmöglichen Abenteuer „Stop!“ zu rufen. „Bleibt mal genau so stehen, ich will das festhalten.“ Und ich weiß, dass ich manchmal zwar denke, dass es schade ist, kein Foto mehr von ein paar Leuten aus der Vergangenheit zu haben, aber andererseits habe ich auch gar keine Zeit mehr, mir all diese Fotos anzusehen.

Ich habe nicht mal die Zeit mir all die Dinge anzusehen, die ich in den letzten Jahren in die Welt gebrüllt habe. Ich habe jede Menge festgehalten in diesen sozialen Netzwerkjahren. So viele kleine Anekdoten über meine Kinder und mich über lustige Begebenheiten, dass ich mich schon gar nicht mehr an die festgehaltenen Dinge erinnern kann. Es ist so viel geworden, dass „festhalten“ und „loslassen“ ein und das selbe sind.

Vor kurzem gab es noch diesen Ausdruck im Netz „picture or it didn’t happen.“ – Schick ein Foto davon, oder es ist nicht passiert. Als ob eine Erinnerung kaum mehr so viel Wert ist wie der Schaum in der Badewanne.

Mark Doty schrieb mal die wunderbare Definition für „Erinnerung: die Vergangenheit neu geschrieben in Richtung Gefühl.“ Wahnsinnig poetisch, nicht wahr? Wir brauchen eigentlich gar keine Sozialen Netzwerke, um uns auszudrücken. Wir schreiben längst in unsere Erinnerung die erlebte Realität hinein. Alle wichtigen Anekdoten werden dort festgehalten und bilden ein Narrativ, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen, damit wir wissen, wer wir sind. Wenn wir Freunde treffen und uns austauschen, dann erzählen wir diese Anekdoten und stellen damit sicher, dass unser Bild, das wir von uns selbst haben, auch nach außen getragen wird. Ich erzähle etwa, wie ich im Winter einem jungen Mann dabei half, das von der Straße gerutschte Auto wieder zum Fahren zu bringen. Aber ich verschweige die Geschichte, wie ich eine Stunde davor beim Einsteigen ausgerutscht bin und mir das Steißbein geprellt habe. Weil ich lieber der treue Held als der Tollpatsch sein möchte, verschweige ich die letzte Geschichte sogar vor mir selbst, bis sie mir irgendwann selbst entfallen ist. Dann habe ich nur noch die eine Geschichte und nur noch das eine Narrativ und stecke es in meiner Seele in die große Bibliothek meines Lebens.

Aber mit der Kopplung im Internet wird alles etwas zu viel. Ich poste mein Leben täglich, flüstere, brülle, singe, krakeele wer ich bin und weiß unterbewusst, dass wenn ich etwas aufschreibe, ich es ruhig vergessen kann. Genau wie die Einkaufsliste. Statt mir zehn Produkte zu merken, die ich noch kaufen muss, schreib ich es auf und habe Platz in meinem Kopf für andere Gedanken. Und wenn ich durch’s Leben gehe, kann ich ruhig vergessen, dass ich der Held dieser Welt bin, weil ich es bereits online dokumentiert habe.

„In gewissem Sinne wurden alle Erinnerungen vergessen. Erinnerungen gründen auf Verlust: Erst durch den Akt des Erinnerns holen wir diese vergessenen Erfahrungen aus dem Vergessen zurück. Sie bedürfen dieser Rettung, weil sie ihren normalen Weg gegangen sind. Diese Erfahrungen sind vollständig und wurden dem Gedächtnis anheimgegeben. Oder anders gesagt: Erinnern heißt ins Gedächtnis zu rufen, was wir vergessen haben, aber es ist nicht so, dass unsere Erinnerungen über Jahre durch Wind und Regen verblasst sind wie Namen und Lebensdaten auf einem Grabstein; sie sind vielmehr voller Lücken und Verzerrungen, denn das Gedächtnis ist von Natur aus selektiv.“ (Patrick Duff: From the brink of Oblivion)

Um die Lücken zu füllen, können wir uns „Spickzettel“ machen, Fotos von Dingen, die wir für wichtig halten. Heute will niemand mehr, dass diese Lücken da sind. Wir halten fest, nein: wir krallen uns fest. Posten und klammern, fotografieren und schreiben und bilden im Sekundentakt unser Narrativ, als wären wir süchtig danach, als wäre jede Lücke ein Feind unserer Selbst-Werdung.

Wenn ich eine Woche lang nichts online setze, werde ich sofort im Ton der Ermahnung von der Software erinnert, meine Freunde würden nichts mehr von mir hören. Als ob ich nur existieren würde, wenn man mich hört.

Und so brülle ich wieder.

Brülle eine Meinung, eine Anekdote und hoffe, dass dieser eine Satz, den ich da schreibe nicht ungehört bleibt, nicht verblasst.

Je mehr ich festhalte und mich schreibe, umso unsichtbarer werde ich. Mit jedem Klick wird mehr von mir gesehen, als in mir da ist. Ich vergesse, was ich aufschreibe, weil es ja geschrieben steht. Ich werde blasser, je konkreter mein Avatar im Internet wird. Mein Avatar. Meine Herabkunft in die Welt des Brüllens.

Was sagt ihr dazu?