Kapitän Borions Geburtsstunde

für Haerzenswort, die das fantastische Lied der Frauen aus Erea hier präsentiert:Das Lied der Frauen aus Erea

Es gab in Erea ein Lied, darin heißt es an einer Stelle: stell dir vor, man hat dir bereits vergeben.

Im Unterschied zu den Liedern, die an Bord der Corinne gesungen wurden, war das ein sehr langsames, wurde nur von Frauen gesungen und es erzählte, obwohl es mindestens schon hundert Jahre alt sein mochte, eigentlich Borions Lebensgeschichte.

In Erea läuft die Zeit eben anders herum.

Die Elfenbeinstadt war von großen Hügelläufen umgeben, die sich weit über die Strände hinweg beugten und über das offene Meer ragten. Es gab vier größere Felsvorsprünge, von denen sehr alte, rostige Ketten hingen. Gute zwölf Meter über dem Meer baumelten da vier Käfige. Ein jeder Käfig war gerade groß genug, dass ein groß gewachsener Mann wie Borion aufrecht darin stehen und sich einmal um die eigene Achse drehen konnte. Du lernst darin, wie man im Stehen schläft ohne sich gegen die Gitterstäbe vor dir zu lehnen. Denn wenn du das tust, neigt sich der Käfig leicht. Und du öffnest die Augen und blickst direkt nach unten in den Schlund des Meeres.

Du lernst darin, wie man die Sprache der Winde spricht. Der Wind heult nahezu ununterbrochen um dich und die anderen Käfige herum. In allen Käfigen siehst du andere wie dich. Du kannst an ihnen sehen, wie dein Bart wohl aussehen wird und deine Haare verfilzen. Du kannst erahnen, wie sich deine Augen mit Ringen aufwölben. Und wie deine Haut von der salzigen Luft allmählich verkrustet.

Du lernst in diesen Käfigen dich zu sehen ohne einen Spiegel zu benutzen.

Die Vögel umkreisen die hängenden Käfige und harren darauf, dass du die Konzentration fallen lässt, dann segeln sie sanft wie Engel zu dir herab, setzen sich dir in die knochigen Wölbungen deines Körpers und picken dir dein Leben aus den verkümmerten Resten deines Leibes.

Du kannst sehen, wie die anderen sterben, deren Namen du einmal gekannt hast und du lernst in diesen Käfigen, wie man Namen vergessen kann.

Du lernst, dass ein Tag länger sein kann als ein Leben.

Du lernst, dass die Nacht schwärzer sein kann, als die Tiefe des Meeres. Denn an den Küste Ereas gibt es Schwärme von Leuchtfischen, die von unten die Meeresoberfläche schwummrig beleuchten, so dass man von hier oben zu glauben geneigt ist, die ganze Welt stünde Kopf: Die Meeresoberfläche könnte der Himmel sein und der Himmel das Meer.

Du siehst die Wolken vorbeirauschen und sie könnten die Schiffe sein, auf denen du einst gesegelt bist.

Du lernst in den Käfigen, dich daran zu erinnern, dass du das Segeln einmal geliebt hast. Du lernst dich zu erinnern. Das könnte dich in eine dankbare Stimmung versetzen. Dankbar jenen Soldaten gegenüber, die dein Schiff eingeholt haben und an die dich deine Crew verraten und verkauft hat.

Du lernst, Geduld zu haben und Vögel aus dem Flug zu fangen.

Du lernst, wieder neu zu essen.

Du lernst, zu überleben. An einem Ort des Todes.

In diesen Käfigen wird der Tod in dir geboren.

In diesen Käfigen lernst du zu schreien, denn sie sollen deine Stimme nachts hören, wenn sie in ihren Betten liegen und zu schlafen hoffen. Sie sollen hören, dass du noch am Leben bist. Und sie sollen den Tod hören, wie er aus deiner Stimme vom Wind über die Meerengen in ihre Stadt hinein getragen wird. In den Ruinen Ereas hört man den Tod mit deiner Stimme kreischen, nachts, das ist doch was, oder?

Du lernst in diesen Käfigen, stolz zu sein. Du lernst, dass du länger leben kannst als sie alle.

Du bist ein toter Lebender.

Der Tod im Leib beginnt zu wüten. Er ist gewachsen und er ist stark. Er zerrt ein wenig an einigen Nerven und die immerzu wegknickenden Beine, die immerzu niederfallenden Augenlider, die immerzu weg brechende Stimme, das fort gleitende Bewusstsein … du stürzt auf, bäumst dich gegen den Wunsch der Natur, dem Tod zu folgen. Du spürst, wie schmerzhaft das Atmen sein kann und jetzt lernst du in diesen Käfigen, wie man von Panik langsam umkreist wird.

Der Himmel, das Meer, die Finsternis und das Licht. Sie schlagen wie stürmische Winde auf offenem Meer in dein Angesicht und dir läuft das Blut aus der Nase, dir läuft das Blut aus den Mundwinkeln. Du keuchst, stürzt, richtest dich jäh wieder auf und deine Hände umklammern die Gitterstäbe, an denen du zerrst und an denen du das Leben begehrst. Du schreist auf, forderst das Leben und schreist zum allerletzten Mal. Es ist Tag, es ist keine Nacht. Auch wenn es bereits dunkel ist, auch wenn die Sonne bereits hinter den Wellenhorizonten verschwunden ist. Der Wind schlägt nicht so heftig gegen die Gitterstäbe wie du. Deine Tritte sind mächtiger als die Hiebe der Winde.

Dein Gesicht schlägt gegen die Gitter und du hast gelernt, wie man den Verstand verliert, wie man tobt.

Deine Hände schlagen ins Leere.

Die Augen öffnen sich.

Du siehst, dass die Tür aufgeschwungen ist. Irgendwie hat das Schloss sich gelöst an diesen alten, verrosteten Gittern. Wie fest und wie lange hast du geschlagen und gewütet? Dir tut alles weh, aber das Gitter ist offen!

Du blickst in die Tiefe. Du bist frei.

Bist du es?

Keine Zeit, um darüber nachzudenken. Du schwingst dich aus dem Käfig, beginnst nach oben zu klettern und du lernst am Käfig, dass dein Körper heute nicht mehr stark genug ist, um diesen Kraftakt zu vollbringen.

Du lernst aber nicht das Fliegen.

Nur das Stürzen.

Du lernst das Stürzen. Wie es sich anfühlt, tot zu sein; darauf kannst du dich jetzt besinnen. Am Ende des Lernens findet die Prüfung statt. Die einzige Frage: Tod oder Leben?

Borions schlaffer Körper schlug ins Wasser.

Das Meer war der einzige Ort, wo ein Mann wie er hingehörte.

(…)

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