Keine faulen Kompromisse! Es geht um unsere Kinder.

Meines Erachtens haben die Autoren von „Wer nicht schreibt, bleibt dumm“ zwei verhängnisvolle Fehler gemacht. Der erste folgt einem Zeitphänomen: Es wird nicht nüchtern argumentiert, sondern sehr viel emotionalisiert und emotional Argumentiert. Dabei gerät die eigentliche Diskussion oft ins Polemische und ich gestehe, dass ich zu Beginn wirklich kämpfen musste, den Ausführungen der Autoren zu folgen. Viel zu oft machte mich der Stil einfach nur wütend, weil mich das Thema wirklich interessierte und nicht, welche Gefühle das Thema bei einer anderen Lehrerin auslöste, die zudem den passenden Lösungsansatz erst nach ein paar Kapiteln vorzutragen gedachte. Emotionen habe ich selber, dachte ich und zwang mich zum Weiterlesen.

Der zweite Fehler ist ein konsequentes und leider basales Missverstehen von einem grundlegenden didaktischen Konzept.

Das offene Unterrichtsmodell wird angegriffen, ohne die zentrale Frage zu untersuchen: Liegt das in Deutschland wahrnehmbare Scheitern des Schreibenlernens an dem Lernkonzept oder an der mangelhaften Umsetzung des Konzepts. Also ist die Theorie Schuld oder die Praxis? Diese Frage wurde noch nicht einmal gestellt, geschweige denn untersucht.

Dass ein Scheitern vorliegt, belegt die Autorin anhand diverser Schriftproben und selbst durchgeführten, stichprobenartigen Ergebnisanalysen. Zugleich mache ich selbst in meinem Umkreis die Erfahrungen, die deckungsgleich sind mit den von den Autoren benannten Phänomenen: Kinder haben eine immer schlechtere Schreibschrift, Rechtschreibkompetenz ist unfassbar stark auf einem Abwärtsweg. Kaum einer beherrscht noch eine grundlegend ordentliche Rechtschreibung, kaum noch einer hat ein Verständnis dafür, weshalb Rechtschreibung überhaupt noch relevant sind.

Gemeint ist nicht, ob ein Neuntklässler „abrupt“ richtig schreiben kann. Gemeint ist, ob überhaupt noch jemand einfachste Wörter schreiben kann wie „und zwar“, „anders“, „nämlich“, etc.

In einigen Abiturarbeiten waren diese Beispiele konsequent falsch geschrieben: „unzwar“, „anderst“, „nähmlich“. Und diesen vielleicht noch auf dialektale Unsicherheitsfaktoren zurückzuführenden Beispiele folgen zahllose Beispiele einfachster Worte, die keiner Regelmäßigkeit zu Grunde liegen.

Die Ausführungen der Autoren bemühen einen Zusammenhang zwischen der Schriftführung und der Schreibleistung aufzustellen, was teilweise tatsächlich glaubwürdig ist. Die Linienführung bei der grundsätzlich von oben durchgeführten Druckschrift im Unterschied zu der von unten durchgeführten Schreibschrift, die Tatsache, dass eine Orientierung an Hilfslinien die Schrift nicht „springen“ lässt, sondern eben und gleichmäßig erscheinen lässt, dass eine gleichmäßige Schrift zu einem ökonomisch erstellten und zum Lernen wiederverwertbaren Werkzeug führt, ist genauso einsichtig, wie das Argument, dass eine ungeübte und nicht-automatisierte Schrift von mir ein ständiges Innehalten im Denkprozess erfordert, was mir die Energie raubt, um mir dann auch noch Gedanken über Rechtschreibung zu machen.

Die Autoren geben selbst zu, dass die Theorie der offenen Unterrichtspraxis im Bereich des Schreibenlernens einen Lösungsansatz parat hat, nämlich jenen, dass die Schüler sich in den Grundschulen selbst ihre Schriften gegenseitig vorlegen könnten, um zu überprüfen, ob diese Lesbar sind und dadurch eine Gruppe für sich selbst Qualitätsmerkmale einer guten, lesbaren und brauchbaren Schrift zu erstellen.

Wie die Autorin meines Erachtens richtig anmerkt, ist diese Übung nicht nur Zeitaufwändig sondern auch fragwürdig. Nicht jedes Qualitätsmerkmal einer guten Handschrift lässt sich zuverlässig von Kindern selbst entdecken lassen. Das Selbstentdeckenlassen hat also, und damit nähern wir uns dem eigentlichen Hauptkritikpunkt der Autoren endlich an, das Selbstentdeckenlassen hat Grenzen!

Wäre der offene Unterricht, wie er in den ersten Kapiteln skizziert wurde, tatsächlich nichts anderes als die These, Kinder könnten die ganze Welt selbst entdecken und kämen dabei garantiert immer wieder zu richtigen Ergebnissen, dann wäre das Konzept tatsächlich höchst fragwürdig.

Nur sieht dieses Konzept diese Hauptthese gar nicht vor!

Und jetzt wieder zu meiner oben gestellten, leider nicht beantworteten Frage: Wenn nun die Autoren Maria-Anna Schulze Brüning und Stephan Clauss diesem Missverständnis zur offenen Unterrichtspraxis unterliegen, könnte es nicht auch sein, dass dieses Missverständnis viele andere Lehrer in Grundschulen ebenfalls zuteil geworden ist und von daher rein praktisch die Unterrichtspraxis krankt?

Grundschullehrer selbst geben gern zu, dass man den bedenklichen Trend beobachten kann, dass sobald ein neues pädagogisches und didaktisches Konzept auftaucht, man sich sofort darauf stürzt und es versucht, im nächsten Jahr in die Tat umzusetzen. Ständig ist in den letzten Jahrzehnten von neuen Theorien die Rede gewesen. Neue Lehrbücher stürzen auf den Markt wie Hagelkörner. Und Brüning und Clauss geben selbst zu, dass es in Deutschland in den letzten dreißig Jahren sage und schreibe VIER neue SCHRIFTARTEN (!) in den Schulen gegeben hat: Die lateinische Ausgangsschrift, die vereinfachte Ausgangsschrift und die Schulausgangsschrift. Und nun gibt es neuerdings auch noch die Grundschrift, welche der Druckschrift die Fähigkeit geben soll, dass man auch sie als Verbundschrift schreiben zu können. Bei so vielen neuen Theorien, die immer wieder versucht sind, auf Fehler vorheriger Theorien und Konzepte zu reagieren, wäre es da ein Wunder, wenn ohnehin unterbezahlte und zeitlich überforderte Lehrer in einer Zeit wachsenden Lehrermangels an Grundschulen, während zugleich immer mehr Kinder in die Schulen kommen, weil man auf dem Land vor ein paar Jahren die hälfte der Schulen geschlossen (!) hat, wäre es tatsächlich ein Wunder, wenn neue Konzepte nicht durchdacht und verstanden wären? Oder sie aus rein systemischen Gründen nicht ordentlich umsetzbar sind?

Offene Konzepte benötigen deutlich mehr Zeit als geschlossene. Der lehrerzentrierte, lineare Unterricht ist für den Lehrer die ökonomischste Variante. Man nimmt das Buch, erklärt eine Regel anhand eines darin vorkommenden Beispiels, lässt üben, bearbeitet Aufgaben im Buch, bespricht die Ergebnisse, Hausaufgabe zum Vertiefen; nächster Tag: nächste Seite. Ganz einfach.

Der offene Unterricht ist ein prozessorientierter und am Schüler orientierter Unterricht. Hier wächst alles organisch aus der Gruppendynamik und der Einzeldynamik heraus. Wenn ich eine Klasse habe, worin alle Schüler schon perfekt ihre Namen schreiben können, arbeite ich an anderen Aufgaben als in einer Klasse, worin nur ein einziger Schüler überhaupt Deutsch kann. Und wie sieht es erst in real existierenden Klassen aus, wo beide Fälle heterogen durchmischt sind?

Der offene Unterricht kostet allein mich, z.B. in der Gymnasialen Unterstufe, zwei Wochen Vorbereitungszeit mit geschätzt 30 Stunden Bürozeit, zwei bis drei Wochen Durchführzeit und anschließend erneut ca. 30 Stunden Nachbereitungszeit. Das Beispiel orientiert sich nun aber an einem absehbar kurzen und abgeschlossenen Thema. Wie sieht das erst aus, wenn man einen offenen Unterricht beim Schreibenlernen mit einem linearen vergleicht.

Eine Kollegin erzählte mir, sie habe früher drei Monate gebraucht um mit der linearen, geschlossenen Methode allen Kindern das Schreiben beizubringen und die Grundlagen gelegt zu haben. Drei Monate. Das ist für den offenen Unterricht meines Erachtens reichlich utopisch und auch in der Realität sieht man, dass am Ende des zweiten Schuljahres man davon ausgeht, dass man nun eine zweite Schrift lernen kann, nämlich die Schreibschrift.

Realistisch und motivierend klingt das nicht unbedingt. Denn in der Grundschule gibt es nicht nur das Fach Deutsch „Schreiben lernen“. Und das Kind möchte ich sehen, das gerne zwei Jahre lang in die Schule geht und von der Gesellschaft immer wieder zu hören bekommt: „Wie du kannst immer noch nicht …?“

Die Erwartungen sind einfach andere und die Frage berechtigt: Ist das sinnvoll, so lange dafür zu brauchen, wenn es auch schneller geht?

Brüning und Clauss antworten konsequent mit einem „Nein“ und begründen dies leider ausschließlich damit, dass manche Konzepte eben nicht gelernt, sondern gelehrt werden müssen.

Der offene Unterricht sieht aber das „Lehren“ gar nicht als absolutes Tabu vor!

Das Missverständnis ist einfach zu lösen: Kinder sind nicht dumm. Und manche Konzepte sind nicht überintellektuell überfordernd. Ein Kind in der ersten Klasse kann durchaus nachvollziehen, dass es Dinge selbst entdecken kann, sich zugleich aber auch an festgelegten Regeln orientieren muss. Das weiß es in der Regel nämlich auch zu Hause. Im Elternhaus durfte es auch das ganze Wohnzimmer entdecken, die Steckdosen aber nicht mit den Fingern befühlen. Es wäre albern gewesen, solcherlei Sachen das Kind selbst entdecken zu lassen. Regeln sind notwendig, das weiß tatsächlich jedes Kind.

Und nebst Regeln gibt es auch Strukturen und Modelle, die in der Welt angewandt werden. Etwa beim Backen, wo es relevant sein kann, in welcher Reihenfolge man Dinge miteinander verrührt. Oder beim Fahrradfahren, wo es relevant sein kann, auf bestimmte Verkehrsregeln zu achten. Manche Dinge sind in dieser Welt einfach gegeben und haben keinen organisch entdeckbaren Zusammenhang: ein Vorfahrtsstraßenschild mag aussehen wie ein Spiegelei, hat aber damit nichts zu tun.

Kinder können Strukturen und Modelle dennoch entdecken! Allein, wenn es am Straßenrand steht, kann es durch Beobachtung erkennen, dass Autos sich an STOP Schildern anders verhalten als an Vorfahrtsschildern. Man kann mit dem Kind die Situation besprechen und zu Hause selbst für die Eisenbahn neue oder real existierende Verkehrsschilder erfinden. Kein Problem.

Und genauso ist es kein Problem und auch kein fauler Kompromiss, wenn die offene Unterrichtspraxis sich mit diversen Aufgaben an den Ergebnissen orientiert, die Brüning und Clauss haben möchten.

Nein, die Schreibschrift wird nicht „entdeckt“, aber man kann Wellen malen lassen, die sich später als der Buchstabe „Schreibschrift-s“ herausstellen – welch Überraschung bzw. Entdeckung: „Ich kann ja schon einen Buchstaben schreiben!“

Selbst die Autoren haben die Idee, „Girlanden“ zu malen, aus denen später die Buchstabenfolge „UuUuU“ oder „LLllLLllLLll“ werden. Auch dies kann entdecken sein. Auch dies kann motivierend sein. Auch dies kann ein offener Unterricht sein, der kombinierbar ist mit den Ideen von Brügelmann und Brinkmann.

Die Sache ist nämlich die: bei einem pädagogischen Konzept wird weniger von Aufgaben als vielmehr von Aufgabentypen und der Implementierung der Aufgabe in den Unterricht gesprochen, oder um es einfacher zu sagen: von einer Vorstellung, was Unterricht und was Schüler genau sind.

Der offene Unterricht lehnt Übungsphasen überhaupt nicht ab.

Genausowenig lehnt er ab, dass es bestimmte Automatismen gibt, die eingeübt werden müssen.

Ein Argument von Brünung und Clauss hat mich allerdings tatsächlich überrascht und überzeugt: Die Vor- und Nachteile der verschiedenen Schriftarten und wie die Nachteile einer konkreten Schriftart ihre Auswirkung haben kann auf „Körperhaltung“, „Nützlichkeit des Endprodukts“ aber auch „Denkleistung während des Schreibens“. Die Analysen der verschiedenen Schriftarten ist ausgesprochen lesenswert und aufschlussreich und mündet in der Feststellung, dass die lateinische Ausgangsschrift die Schriftart sein sollte, die in Schulen gelehrt werden sollte.

Wenn behauptet wird, diese könne man nicht mit der offenen Unterrichtsmethode unterrichten, behauptet man etwas widersprüchliches: Die offene Form stellt keine „METHODE“ dar, sie ist ein Paradigma des Lehrens und Lernens. Und als solche muss sie dazu im Stande sein, auch wirklich alles unterrichten zu können. Ein Paradigma, das an einer konkreten Schriftart scheitern würde, wäre tatsächlich höchst fraglich.

 

Was sagt ihr dazu?