Lesen, Schreiben, Denken, Weltverstehen

Lesen- und Schreibenlernen bedeutet ein aktives Verändern des Denkens und betrifft die Entwicklung der Person insgesamt.

Kinder sind neugierig und sie sind Entdecker. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Wissenschaftler. Sie schaffen sich ihr eigenes Wissen. Am Anfang vertrauen sie auf uns Erwachsene und wir bieten ihnen Lernumgebungen. So funktioniert das grundsätzlich. Als ich in einem Haus wohnte, worin es viele Treppen gab, war meine Tochter die erste in der ganzen Kindergartengruppe, die problemlos größere Hürden überwinden konnte.

Der Kinderarzt und Dozent am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg Dr. med. Herbert Renz-Polster hat sehr spannende Bücher über Kindesentwicklung geschrieben und dabei nie die Perspektive des Besserwissers oder des Ideologen gewählt, sondern die des Anthropologen und Evolutionsforschers. An einer Stelle schreibt er „Dass Entwicklung ‚einfach so’ passiert, sehen Eltern jeden Tag. Wir müssen unseren Babys weder das Sehen noch das Hören beibringen, und selbst das Sprechen erlernen sie alleine. (…) Die kindliche Entwicklung kann also als zweigleisig angesehen werden. Das eine Gleis ist die Reifung – also das Ausschöpfen genetisch angelegter Potenziale. Solange keine Katastrophen dazwischenkommen und die Kinder eine artgerechte Umwelt vorfinden, bringt dieses Gleis alle Kinder dieser Erde an dasselbe Ziel. Reifung sorgt dafür, dass Kinder das ‚lernen’, was alle Kinder überall tun. Und sie lässt sich genauso wenig beschleunigen, wie man eine Rose zum Blühen bringen kann, indem man die Knospe aufbricht. Das andere Gleis ist die erfahrungsabhängige Entwicklung – dieses Gleis sorgt dafür, dass Kinder in ihrer jeweils unterschiedlichen Lebenswelt zurecht kommen. Es macht sie zu Überlebensspezialisten im Lianendickicht des Amazonasdschungels genauso wie in einem Beduinenlager in der Wüste Sahara oder im ewigen Eis der Antarktis.“ (Renz-Polster: Born to be wild; S. 402 ff.)

Wir haben einerseits eine genetische Disposition dafür, dass wir erfahrungsabhängige Entwicklungen durchführen können, andererseits ist das so zu deuten wie eine Arbeitsteilung im Entwicklungsprozess unserer Kinder. Gene können eben nicht alles alleine stemmen.

Wenn wir die Entwicklung von Kindern in afrikanischen Stämmen vergleichen mit den urbanen Entwicklungen von z.B. europäischen Kindern, sieht man, dass es in afrikanischen Stämmen deutlich länger dauert, bis ein Kind die Sprache beherrscht, andererseits kann es dort angeblich viel schneller den Kopf aufrecht halten, sitzen, krabbeln und andere motorische Fähigkeiten ausbilden. Grund für die unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten sind die Kontexte. Während wir viel mit unseren Kindern reden, weil wir eine Gesellschaft sind mit immer kleiner werdenden Familienkreisen und unsere Aufmerksamkeit viel gezielter und spezieller auf die Kinder ausrichten, hat das Kleinkind es nicht nötig, sich mit der physischen Entwicklung zu beeilen. Wo es in anderen Kulturen früh abgelegt wird, weil man sich um die Bewältigung des Alltags kümmert, sorgt das evolutionäre Programm mit dem Titel „bestmögliches Überleben“ dafür, dass das Kind das Projekt Sprache hintenan stellt, zugunsten von selbständig motorisch werden.

Was für das Große gilt, das gilt auch für das Kleine. Wer seinem Kind viel vorliest, der wird erleben, dass das Kind einen anderen Bezug zur Sprache entwickelt als wenn man das Kind vor einem Fernseher „parkt“ – um die klischeebeladenen Extreme einmal zu bedienen.

Die ersten Bücher, die wir unseren Kindern zeigen sind gewöhnlich Bilderbücher. Und dort bringen wir unseren Sprösslingen einen wesentlich ersten Zugang zu „Büchern“ bei. Wir zeigen ihnen Bilder und lehren sie, dass das, was in Büchern auftaucht, Abbildungen der Wirklichkeit sind. Das Bild eines Apfels entspricht einem Apfel. Das Bild eines Kinderstuhls – Kinderstuhl. Wir lehren die Kinder früh eine konkrete Welt-Konstruktion in ihrem Kopf vorzunehmen. Wir lehren sie Drehbücher: etwa die ewig wiederkehrende Strategie beim Einkaufen: Alles in den Wagen, ab an die Kasse, aufs Band legen, bezahlen, bedanken, verabschieden, gehen. Die Kinder spielen das Drehbuch zu Hause nach, um es zu verstehen und sie lernen durch Try-and-Error. Etwa wenn sie dem Erwachsenen zwei Dosen mit Eiern verkaufen wollen und der Erwachsene sagt: „Eier sind aber in Kartons. In Dosen gibt es zum Beispiel Erbsen.“ Oder wenn das Kind nach dem Dosenverkauf sagt: „Vielen Dank und hier ist dein Geld.“ Und der Erwachsene korrigiert: „Wenn du mir die Dosen verkaufst, dann muss ich dir das Geld geben.“

Lernprozesse in den Kinderköpfen ist ein ständiges Abgleichen, ein teilweise sogar absichtliches spielen mit den Realitäten, ein Ausprobieren á la „Wie wird er wohl reagieren, wenn ich den Einkaufswagen kaufen will?“ Kleine Verschiebungen im Drehbuch und die anschließende Reaktion im Spiel zeigen dem Kind die Bedeutung der einzelnen Bedeutungseinheiten. Keine Reaktion heißt entweder „richtig gemacht“ oder „irrelevant“. Und auch dieser Unterschied wird im Spiel ausgetestet.

Warum sollte schreiben lernen anders laufen?

Das Kind hat eine Vorstellung von Sprache, die wir ihm beigebracht haben. Brügelmann und Brinkmann bringen das schöne Beispiel von Eveline (5), die sagt: „Jetzt weiß ich endlich, warum ich so viele Kämme in meinem habe!“ Sie schreibt alle ‚E’s in ihrem Namen jetzt mit sehr vielen Zinken und stellt sich vor, dass jedes E ein Kamm ist. Das ist für sie logisch, weil sie lange Haare hat und jeden Morgen über die Ungerechtigkeit der Welt jammert, weil das Kämmen so lange dauert und sie vom Spielen abhält.

Wie denkt Eveline? Sie denkt Sprache in der von ihr erfolgreich angelernten Bilderbuch-Logik. Sprache ist etwas in Büchern. In Büchern sind Abbildungen der Wirklichkeit. Ihr Name hat viele ‚E’s, wenn sie die zeichnet, sehen die wie Kämme aus. Und für sie ist ein E mit drei Zinken genauso richtig wie ein E mit hundert Zinken. Wäre es nicht sogar logischer, wenn das E immer mehr Zinken hätte, je mehr Haare sie hat?

Das Hauptproblem ist, dass Sprache für Kinder immer so funktioniert, dass jedes Wort mit einer Weltkonstruktion zusammen hängt. Und das Wort „Sprache“ selbst bedarf ebenfalls einer solchen. Wir haben für jeden Begriff eine Vorstellung im Kopf, was dieser Begriff bedeutet. Aber was „Sprache“ ist, das ist wesentlich, dass es zuerst gelernt wird. Sprache muss also als Konzept verstanden werden und das ist recht kompliziert. Denn das Kind muss begreifen:

  • Schrift trägt eine Bedeutung. Jede Schrift ist ein Zeichen. Es handelt sich nicht um schmucke Bilder, sondern um komplexe bedeutungstragende Elemente. Kinder verwechseln anfangs gerne „Zahlen“ und „Buchstaben“. Beides ist für sie identisch. Wie sollte man auch den Unterschied kennen? Es funktioniert doch recht ähnlich. Nur das Bedeutungskonzept ist verschieden. In dem einen Fall kann man lesen, in dem anderen nicht. Und sagen wir Erwachsene nicht auch solche Sätze wie „Bald wirst du die Uhr lesen können.“ ? Wie verwirrend.
  • Schriftzeichen sind nicht ikonische Abbilder. Sie geben Lauthinweise. Das war Evelines ‚Fehler’. Sie begreift Buchstaben genau wie die Zeichen in Kinderbüchern als ikonische Abbilder. Sie hätte eine Menge Spaß an Wortspielbilder, etwa jene von Ernst Jandl. Zeigt man einem Kind das Wort „Regenwurm“ und das Wort „Maus“ und zeigt man ihm dann je ein Bild von den beiden Tieren, würden wir dem Kind einen Vorwurf machen, wenn es die Bilder den Worten richtig zuweisen würden, weil es errät, dass das längere Wort dem längeren Tier gehört und das kürzere Wort dem kleinen, zierlichen Nager? Dieser Denkprozess ist aus Kinderperspektive durchaus naheliegend.
  • Die Kinder müssen herausfinden, welche Einheiten der Schrift mit welchen Einheiten der Sprache korrespondieren. Denn gerade in schnell gesprochenen Alltagssätzen, selbst wenn sie in lupenreinem Hochdeutsch gesprochen werden, ist es nicht immer eindeutig, wo die Wortgrenzen liegen. „Geht Theo weg?“ Ein Kind, das gerade dabei ist ein Konzept von Sprache zu entwickeln hat keine Ahnung was das Wort „Wort“ bedeutet. Und wenn wir sagen „Hör mal genau hin!“, wieso sind wir dann irritiert, wenn das Kind „Geh Te O weg“ schreibt. Brinkmann und Brügelmann schreiben es nicht, aber noch schwerer stelle ich persönlich es mir für französische Kinder vor, weil mir das Französische immer als eine fließende und alle Wortgrenzen überschreitende Sprache vorkam. Aber machen wir uns nichts vor: auch wir lassen gerne Wortenden weiterklingen beim nächsten Wort oder verbinden zwei Wörter miteinander. Unser selbstverständliches Reden verdrängt diese Hürde.
  • Kinder müssen erkennen, dass die Raumlage, Reihenfolge und Richtung der Buchstaben bedeutungsvoll sind. Das klingt zunächst banal und offensichtlich. Und es erscheint uns recht nebensächlich. Wenn das Kind nun mal von rechts nach links schreibt, dann muss man es halt eben immer wieder sagen. Hier liegt ein motorisches Problemfeld vor. Nun, nicht ganz. Die Erkenntnis, dass das LAGER etwas anderes bedeutet als das REGAL ist da deutlich komplexer. Amüsanter aber ist eine Anna, die voller Stolz sagt: „Ich weiß, dass in meinem Namen zwei ‚A’ vorkommen. Also schreib ich die mal zuerst hin. So: AA und jetzt fehlen noch zwei ‚N’“ und für Anna ist es völlig richtig zu schreiben AANN.

Noch spannender wird diese Lernhürde, wenn wir dem Kind dann noch sagen müssen, dass es jeden Buchstaben zweimal gibt: einmal als Großbuchstaben und einmal als Kleinbuchstaben. „Derselbe Laut wird durch zwei verschiedene Zeichen dargestellt. Lassen wir die Kinder in der ersten Zeit in Steinschrift, also in Blockbuchstaben (mit der Hand) ‚drucken’, räumen wir ihnen die Schwierigkeit dieser Doppelzeichen und damit ein ganzes Päckchen von Schwierigkeiten aus dem Weg.

  • Kinder müssen erkennen, welche Lautmerkmale bzw. –unterschiede in ihrer Sprache überhaupt bedeutungsunterscheidend – und damit sogar bewusst zu vernachlässigen sind. Hier wird ein ganzes Fass an Rechtschreibregeln geöffnet, angefangen von der Tatsache, dass ein ‚S’ stimmhaft und stimmlos sein kann, ein ‚o’ nicht immer gleich klingt, kurze Vokale mit einer folgenden Konsonantenverdoppelung markiert werden, etc. Die meisten dieser Regeln erscheinen aus Kinderperspektive völlig widersinnig.
  • Die Kinder müssen lernen, dass die Beziehung zwischen Schriftzeichen und Laut willkürlich ist. Warum sieht ein A wie ein Dach aus? Ein E hat immer drei Zinken. Lässt man den unteren weg, hat man ein F. Gibt es da einen Zusammenhang zwischen E und F? Nein. Völlige Willkür oder historisch ableitbar, aber völlig sinnlos aus Kinderperspektive. Das muss akzeptiert und schlicht gelernt werden.
  • Die Kinder müssen aus konkreten Schriftbeispielen abstrahieren, welche grafischen Unterschiede die Identität einzelner Zeichen bestimmen und welche unwesentlich sind. Diese Hürde ist auf den ersten Blick unfassbar banal, wird aber spätestens relevant, wenn das Kind auf verschiedene Schriftarten stößt. Ein A ist ein A, wenn das Dach einen Querstrich hat. Es ist gleichgültig, wo dieser Querstrich ist, etwas höher oder etwas tiefer. Aber ein O verwandelt sich mit nur einem kleinen Schleifchen am Fuß zu einem Q und wandert das Schleifchen nach oben rechts, geschieht mit dem O nichts. Es gibt also bedeutsame Details auch bei Buchstaben, so wie es bedeutsame Details beim Einkaufdrehbuch gibt.
  • Die Kinder müssen lernen, dass selbst die Beziehung zwischen abstrahiertem Sprachlaut und idealisiertem Schriftzeichen nicht eindeutig ist.

Was die Autoren unter dem letztgenannten Punkt meinen, kann ich nicht sagen. Trotz mehrfachen Lesens erschließt sich mir dieser Aspekt nicht. Daher werde ich hier einfach zitieren, was sie darüber sagen und hoffen, dass im Umkehrschluss mir vielleicht jemand mit einem Beispiel diesen Punkt erklären kann. Ich bin ratlos:

„Denn das Lautprinzip unserer Schrift wird überlagert von grafischen Markierungen, z.B. der Wortverwandtschaft (Wald-Wälder), die die Sinnentnahme erleichtern sollen. So muss das Kind die gerade mühsam erworbene Unterscheidung stimmhaft-stimmlos wieder über den Haufen werfen, weil die verschiedenen Zeichen im Auslaut nicht unterschiedlich ausgesprochen werden. Manche Kinder ziehen daraus den Schluss, dass ihre vorhergehenden Ordnungsversuche falsch waren, und werden unsicher.“ (S. 44)

 

Sprache erlernen ist ein höchst komplexes Feld. Das wussten wir auch vorher. Wenn wir uns die Frage stellen, wie wir unseren Kindern helfen können, Schreiben zu lernen und was wir von diversen didaktischen Modellen zu halten haben – etwa den derzeit berüchtigten Schreibtheorien in vielen Grundschulen – dann ist die Herangehensweise der Autoren Brügelmann und Brinkmann im höchsten Maße wichtig und bedeutsam. Wir müssen verstehen, was Kinder leisten müssen, welche Hürden sie zu überwinden haben und einer Sache stimme ich den Autoren auf jeden Fall zu: Jedes Kind hat eine andere Weltkonzeption in seinem Kopf, wenn es damit beginnt, Schreiben und Lesen zu lernen. Während einige mit Büchern aufwuchsen und sich vorstellen können, wofür Buchstaben überhaupt da sind, haben andere schon ihren Namen geschrieben und ein paar Punkte der obigen Liste begriffen, andere dagegen halten vielleicht zum ersten Mal einen Stift nicht nur zum Ausmalen in der Hand. „Wir müssen die Kinder da abholen, wo sie stehen“, so hieß die eine Regel aus der Pädagogik. Allen einfach vorauszusetzen, dass sie gleich weit entwickelt sind, ist fatal; davon auszugehen, dass alle zudem das gleiche Weltkonzept im Kopf haben ist gravierend fatal. Und hier geht es um die Arbeit an einem sehr großen Konzept. Sprache ist keine Banalität.

Bei meinem ersten Kind hatte ich noch die Idee, ihr nicht einfach nur das Wort „Blume“ beizubringen, sondern „Das ist eine Rose“ oder „Das ist eine Tulpe“ zu sagen. Denn die „Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. Je mehr Wörter in meinem Besitz sind, umso detaillierter sind meine Weltwahrnehmung und mein Weltkonzept. Man vergisst nur allzu gern, dass auch „Sprache“ ein Wort ist, wofür ich ein Konzept benötige.

Doch es gibt noch einen zweiten Punkt und von dem ist hier nur an einer Stelle die Rede gewesen: ich muss nicht nur wissen, von wo ich ausgehe. Ich muss auch immer wissen, wo ich hin will.

Bei Punkt 4 hieß es, die Verwendung von Groß- und Kleinschreibung schafft neue unnötige Hürden. Ich wage zu widersprechen. Es wird keine Hürde geschaffen. Es ist eine vorliegende. Wenn wir den Kindern mit Großbuchstaben die Hürde zur Seite legen, ist die Hürde nicht weg, sie ist verschoben. Wir müssen uns bewusst sein, dass Hürden zum Spracherwerb dazugehören. Wir müssen die Hürden angehen, wenn wir wollen, dass unsere Kinder sich souverän in der Sprache zurecht finden. Sonst haben wir am Ende frustrierte Menschen, die sich von der Sprache abwenden und keine Probleme damit haben, politische Unkorrektheiten von sich zu geben. Sprache hat auch etwas mit Sprachsensibilität zu tun. Und damit ist Sprache ein Teil eines emotional wirkenden Weltkonzepts.

Was sagt ihr dazu?