Praktische Unterrichtskonzepte – Der Spracherfahrungsansatz von Brügelmann und Brinkmann

Es gibt zwei Sätze, die man stets miteinander, besser gesagt gegeneinander abwägen muss. Der erste basiert auf einem alten, arabischen Sprichwort:

„Ein Fährmann sagte einmal: Vertrau mir, ich mach das schon seit hundert Jahren. Aber: Man kann auch hundert Jahre lang etwas falsch machen!“

Auf einer pädagogischen Weiterbildung traf ich auf eine Reihe Grundschullehrerinnen, alle unterschiedlichen Alters und sogar unterschiedlicher Positionen. Neben praktisch tätigen Lehrerinnen waren auch Grundschulpädagogikausbilderinnen anwesend. Und eine von ihnen äußerte, angesprochen auf das Thema Lesen-Lernen ganz simpel: „Es gibt viele Modelle. Wir hatten bis in die siebziger Jahre hinein jahrelang nur ein Lernmodell. Und ab dann wechselten und scheiterten viele verschiedene Modelle, die der Reihe nach entwickelt und ausprobiert wurden. Ich aber sage: Der Erfolg gibt einem Modell Recht! Nicht die Theorie.“

Brechen wir es runter: Alle Anwesenden der Diskussion sprachen sich gegen die aktuell dominanten Modelle aus und verrieten mir unter der Hand, sie würden alle doch irgendwie „ihr Ding“ durchziehen.

Zunächst einmal vorweg. Der berühmte Ausdruck „Schreiben nach Gehör“ ist diffamierend. Denn die Methode, entwickelt von Jürgen Reichen heißt im Original „Lesen durch Schreiben“. Und dieser Ansatz ist eine Konsequenz aus einem wesentlichen Paradigmenwechsel in den deutschen Schulen. Weg vom Lehren, hin zum Lernen.

Der Lehrer als Lehrer ist obsolet geworden. Zumindest im klassischen Sinn. Denn wir müssen uns folgende zentralen Annahmen vor Augen halten:

  1. Kinder haben bereits Vorstellungen von der Welt. Sie beginnen schon irgendwo. Es gibt keinen Nullpunkt für den Unterricht und der Unterricht muss die Schüler da abholen, wo sie stehen. Grundsätzlich. Gleichgültig welches Fach, welches Thema, welcher Jahrgang, welche Schulform.
  2. Kinder sind kompetente Lerner und Sinnsucher. Der Unterricht ist deshalb keine Belehrung, sondern er wird praktisch, handlungs- und produktionsorientiert. Es geht um das aktive Aneignen durch Erkundung und Erprobung und die Erlaubnis, eigene Wege zu gehen, denn
  3. Lernen ist kein Transport von Wissen – landläufig bekannt unter der Formulierung ‚Nürnberger Trichter’ – sondern eine eigenaktive Konstruktion. Deshalb sind individuelle Wege wichtig und Fehler sind zu akzeptieren als ein Zwischenschritt. Wir müssen die Kinder ermutigen, ihre Fehler als Problemlösungsversuche zu verstehen, sie ernst nehmen und ermutigen, weiterhin kritisch die Ursachen zu hinterfragen von den Phänomenen ihrer Umwelt, die im Unterrichtsgeschehen zum Thema werden.

Der Unterricht, der diesen drei Prämissen gerecht wird, nennt sich wahlweise ‚offener Unterricht’, ‚schülerzentrierter Unterricht’ (als Abgrenzung zum lehrerzentrierten ‚Frontalunterricht’) oder ‚problemorientierter Unterricht’, je nachdem, von welcher Perspektive aus man das Konzept betrachtet.

„Wir gehen aus vom Lernen der Kinder und sehen die Aufgabe der Lehrperson darin, die Lese- und Schreibversuche des Kindes zu unterstützen, d.h. seine individuellen Zugänge zur Schrift aufzunehmen, zu erweitern und zu differenzieren.“ (Brügelmann und Brinkmann, S. 91).

Reichens Ansatz geht nun praktisch so vor, dass den Schülern zunächst das Schreiben, dann das Lesen vermittelt wird. Das Lesen wird erlernt, indem der Lehrer den Schülern zur Seite steht, die eigene Aussprache genau abzuhören und diese lauttreu zu verschriften. Als Werkzeug dient die berühmt berüchtigt gewordene Anlauttabelle. Mit dieser kann das Kind unbekannte Buchstaben suchen und finden. Die Kinder dürfen schreiben, was auch immer sie gerade wollen: ein Brief an die Mama, eine Zeitung, eine Rechnung, ein Schild für die Zimmertür, … Die Motivation liegt darin, dass man nur das schreibt, was einem auch selbst wichtig ist. Indirekt entdecken die Kinder, dass sie auch solche Wörter und Texte lesen können, die sie selbst nicht geschrieben haben.

Die Kinder lernen eigenständig und unter Aufsicht den Aufbau der Schrift kennen. Das selbständige Verschriften schafft die Einsicht in die Parallelität von Schriftkette und Lautfolge. Sie sammeln sukzessive Buchstabenkenntnisse: Buchstaben werden in ihren Formvarianten erkannt und verschiedenen Lauten zugeordnet: ein b ist kein d, obwohl die beiden doch recht ähnlich aussehen. Und mit nur einem kleinen Dreh erhalten wir die weiteren Buchstaben p und q. Alle vier sehr ähnlich, und doch so verschieden. Die Lautanalyse schließlich wird von Reichens Ansatz natürlich ebenso abgedeckt: Sprachlaute können unterschieden, ausgegliedert und verbunden werden.

Fast noch wichtiger als das didaktisch-methodische Prinzip ‚Lesen durch Schreiben’ ist das Modell Werkstattarbeit von Reichen. Hier darf ein m. E. gängiges Missverständnis nicht wiederholt werden: Die Werkstattarbeit steht nämlich nicht alternativ zur Methode ‚Lesen durch Schreiben’, sondern ergänzend. „Denn seine Vorstellung vom Lese- und Schreibunterricht gewinnt eine besondere Qualität erst durch die Einbettung in eine pädagogische Konzeption, die die Selbständigkeit von Kindern als Ziel und Prinzip des Unterrichts in den Vordergrund rückt. Insofern ist das, was die Kinder fachlich lernen (sollen), immer auszubalancieren mit dem, was sie an Grundqualifikationen wie (Mit-)Verantwortung, Fähigkeit zur Verständigung und Zusammenarbeit, Kritikfähigkeit usw. erwerben.“

Die Werkstattarbeit hat im Kern den Gedanken, dass jeder Unterricht ein Sachunterricht ist. Das bedeutet, im Mathematikunterricht geht es nicht um simples rechnen von Zahlen und dem steten Wiederholen von Rechenprozeduren. Es geht um Sacheinsicht und Sachkenntnis. Also um eine Anwendungsorientierung. Die Schüler, die ein „Einkaufspiel“ etwa spielen und vom Lehrer nie mit passendem Geld ausgestattet werden, müssen das Rechnen konkret anwenden und lernen so die Grundrechenregeln nicht durch modellhaftes Wiederholen, sondern über den kontextbasierten Transfer. Sprachunterricht wird dementsprechend kontext- und kommunikationsorientiert. Reichen unterscheidet drei Unterrichtsformen: der dominierende Werkstattunterricht, darin eingeschlossen den zweifelsohne erforderlichen Instruktionsunterricht und den ergänzenden Projektunterricht. Der Instruktionsunterricht erfolgt in der Regel frontal. Hier werden die Systematiken geklärt. Meist handelt es sich um Einführungen, Orientierungsphasen, Regelklärungen, etc.

Ganz im Gegensatz dazu schafft der Projektunterricht ein größtmögliches Maß an Offenheit und Handlungsfreiraum. Die Verantwortung für Planung, Durchführung und Präsentation liegt soweit möglich in völliger Schülerverantwortung.

Der Werkstattunterricht ist ein vom Lehrer gestelltes, offenes Setting mit einem Angebot an Materialien, Lernsituationen, Methoden, Werkzeugen, etc. Die Schüler haben hier die Möglichkeit selbstverantwortlich sich aus dem Pool an Aufgaben und Materialien zu bedienen. Lehrergesteuert sind das Thema und das Angebot an Aufgaben. Offen ist das Modell, insoweit es den Schülern überlassen ist, wie schnell und in welcher Reihenfolge die Aufgaben er- und bearbeitet werden. Oft verknüpft wird die Werkstatt mit Laufzetteln, worauf der Lehrer abhaken kann, wann was erledigt wurde und ob die Ergebnisse korrekt oder fehlerbehaftet sind.

„Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg. Je mehr die Lernanstrengungen eines Schülers zu Erfolgen führen, desto eher ist er auch bereit, sich neuen Lernanforderungen zu stellen.“ (Reichen: Sachunterricht und Sachbegegnung: Grundlagen zur Lehrmittelreihe; S. 23.)

Brügelmann und Brinkmann kritisieren Reichens Ansatz nicht, aber sie kritisieren dass dieser Ansatz in seiner Effektivität einige Bereiche des Sprachlernens nicht abdeckt. Mit Hilfe einer didaktischen Landkarte werden die acht Punkte aus dem vorherigen Kapitel noch einmal konkretisiert. Neben Aufbau der Schrift, Buchstabenkenntnis und Lautanalyse, welche Reichens Methode durchaus abdeckt, gibt es aber auch noch fünf weitere Kompetenzfelder in der didaktischen Landkarte:

  • Zeichenverständnis
  • Funktionen der Schriftverwendung
  • Gliederung in Bausteine (Hier zählt das Silbenschwingen mit hinein, das Reichens Methode landläufig ergänzt)
  • Sicht-Wortschatz (die Fähigkeit, häufige Wörter rasch zu erkennen und ‚blind’ zu schreiben; Aufbau von Automatismen)
  • Verfassen und Verstehen von Texten (Schrift als Informationsquelle und Darstellungshilfe wahrnehmen)

Reichens berühmter Ansatz nimmt den Schülern gegenüber immerhin eine positivere Haltung ein. Sie werden nicht als „zu Belehrende“ wahrgenommen, sondern als selbständige Entdecker.

Nicht wie im Einsatz von Fibeln. Das lineare Lernen wird heutzutage immer weiter aufgeweicht und man möchte fast unterstellen: aus kapitalistischen Gründen. Denn die lineare Theorie verträgt sich nicht mit der offenen und doch sind viele Fibeln linear konzipiert und fordern eine häufige Unterbrechung der linearen Unterrichtsstruktur durch offene Unterrichtsmodelle. In dieser Situation wird der offene Unterricht nicht als Prinzip verstanden sondern als Methode in das lineare implementiert und als Kompromiss verkauft. Das ist Kategorienfehler und scheitert nicht allein daran, dass Lehrer, wenn sie sich an den linearen Lernaufbau von Fibeln halten, überhaupt keine Zeit für offene Stundenkonzepte haben, insbesondere, weil die offene Unterrichtskonzeptuierung viel mehr Zeit in Anspruch nimmt als die geschlossenen, linearen Formen. Wenn man den Ansatz von Brügelmann / Brinkmann verstehen will, eignen sich die folgenden Zitate, mit denen sie sich vom traditionellen Fibelunterricht abgrenzen wollen:

„Lehrgangsautoren

  • schätzen die Lehrbarkeit von Lesen und Schreiben höher ein als wir, die wir Anregungen, Herausforderungen und Unterstützung der Kinder durch die Lehrperson und das Material für möglich und für notwendig halten, eine Steuerung des Lernens aber für nicht möglich (und auch nur in engen Grenzen für wünschbar);
  • machen oft einen Unterschied im Lernen von leistungsstarken und leistungsschwachen SchülerInnen, den wir nicht teilen, weil sich nach empirischen Studien die Wege von schnellen und langsamen LernerInnen als grundsätzlich gleichartig (aber erheblich zeitversetzt) erwiesen haben;
  • sehen in Fibeln und Lehrgängen eine Stütze und Stärkung der LehrerInnen, wo wir eher eine Einschränkung und eine Verführung zur Unselbständigkeit wahrnehmen.“ (S. 98 f.)

 

Der Erfolg gibt einer Methode Recht.

Nicht alles, was wir seit hundert Jahren machen, muss auch richtig gewesen sein.

Richtig.

Was bedeutet das? Was bedeutet das, wenn es ums Lernen und Lehren geht?

Wir müssen berücksichtigen, wo die Schüler stehen, damit das Unterricht anknüpfen kann an die Lebenswelt und die Konzepte der Schüler. Jeder von uns konstruiert sein eigenes Weltkonzept und da muss Sprache natürlich auch seinen Platz haben.

Ich persönlich halte es für fatal, wenn wir aber davon ausgingen, dass indivuelle Weltkonstruktionen zu einer pluralistischen Beliebigkeit führen. Es ist nun mal nicht so, dass jeder sein eigenes Konzept hat und jeder automatisch Recht hat und eine ultimative Beliebigkeit zu akzeptieren, ja sogar zu fördern ist.

Sprache ist die Schnittmenge unserer Konstruktionen. Mit dieser Kommunizieren wir miteinander. Wir nutzen sie als MEDIUM, als zwischen uns liegendes Werkzeug der Kontaktaufnahme unserer Konstruktionen. Sprache ist das, was in der Schnittmenge sein sollte zwischen all unseren Konstruktionen.

Und hier entsteht das Problem: Man darf meiner Ansicht nach den offenen Unterricht nicht in der Praxis als ein freies, beliebiges Laufenlassen wahrnehmen.

Brügelmann / Brinkmann führen einige Beispiele an, in denen zum Beispiel das berüchtigte „Fehlerkorrigieren“ von Kindern zu ganz schlimmen Folgen geführt hat. Die schlimmste Folgen: Demotivation und Resignation.

Wir werden im folgenden Kapitel sehen, dass gerade die Forderung nach „Fehler stehen lassen“ inzwischen sehr stark implementiert ist. Hier reiben sich die Gemüter, hier erhitzt sich die Debatte. Fehler stehen lassen. Hürden aus dem Weg räumen.

Wir würden einen großen Fehler machen, wenn wir diese beiden Aspekte, an denen sich in der Praxis meiner Theorie nach die eigentlichen Kritikpunkte der Spracherwerbspraxis festmachen lassen, als wesentlich für die offene Unterrichtspraxis verstünden. Offener Unterricht soll, das betonen Brinkmann / Brügelmann eine Haltung gegenüber den Kindern sein. Welche Haltungsschäden jedoch entstehen könnten, das wird uns in den folgenden Abschnitten noch beschäftigen.

Was sagt ihr dazu?