Lichternte

 

Über der Stadt hing ein Zementhimmel.

Es regnete nicht. Aber wenn man genau hinsah, dann hingen dünne, lose Fäden von dem Himmel herab. Und an jedem kondensierte die Luft zu silbrig-grauen Tropfen.

Wenn man darunter stand und hochblickte, dann musste man schon sehr genau hinsehen. Man musste so gute Augen haben wie nur wenige. Einer von diesen Wenigen war der Herr mit dem weißen Hut, der auf seinem Weg zur Arbeit bei dem kleinen Zigaretten- und Zeitschriftenhäuschen immer kurz verweilte. Dort lehnte er sich an die alte Holzwand, auch wenn es dort immer etwas muffig war. Und dort drehte er den Kopf so, dass es ihm angenehm war. Er musste nämlich zwischen ein paar sehr eng beieinander stehenden Dächern vorbei nach oben blicken. Und dann musste er sich noch konzentrieren. Man sah die Details dort oben nicht immer auf Anhieb. Oft musste man sich ganz exakt im rechten Winkel hinstellen und man musste vor allem geduldig den Blick auch lange auf nur einen Punkt gerichtet lassen. Dann konnte es passieren, dass der Flug eines Vogels, eines Blütenschirmchens oder gar der Flug von mikroskopisch kleinem Staub den Blick oder die Konzentration oder etwas dazwischen abzulenken vermochte. Es konnte sein, dass ein kaum wahrnehmbares Flirren in der Luft dazu führte, dass an diesem Tag der Herr im feuchten Grau des Firmaments nichts anderes erkennen konnte, als eben das: feuchtes Grau.

Die meiste Zeit jedoch schärften sich seine Augen. Die meiste Zeit suchten sie nicht nur, sie fanden die herabhängenden Fäden. Und damit war er einer der wenigen, der sie zu sehen bekam.

Das machte ihn stolz. Bis ihm eines Tages in den Sinn kam, den Himmel auch an anderen Stellen abzusuchen. Er folgte Unregelmäßigkeiten, die so hoch oben kaum einer sehen konnte.

Er dachte darüber nach, sich eine Karte zu zeichnen, eine Himmelskarte. Er dachte nämlich, so etwas gäbe es ja bereits vom Nachthimmel mit den Sternen. Weshalb nicht auch eine Himmelskarte für den Tag? Und die Schlieren, denen er folgte, waren durchaus zeichenbar.

Ihnen zu folgen, kostete Zeit. Oft stand er an Ecken, starrte einfach nur gen Himmel. Regte sich nicht. Ließ die Welt sich regen. Gab irgendwann auf, kehrte tags drauf zurück.

Und so kam er zur Passage: Es war wie eine Markthalle, ein Ort, an dem Händler ihre Waren feil boten. Aber nicht wie in gewöhnlichen Markthallen auf einer in alle Richtungen recht weit ausgedehnten Fläche. Sondern hier war es wirklich eine sehr lang gezogene Passage. Sicherlich war sie breit genug, dass Stände links und rechts flankieren konnten und man genug Platz hatte dazwischen entlang zu schlendern. Aber es gab eben nur diese eine Flussrichtung der Passanten. Man ging an unzähligen Läden vorbei. Da waren Bücherstände mit roten, ausgeblichenen Streifen in den Holzläden. Da waren einklappbare und wegfahrbare Stände, die aussahen, als wären sie hunderte von Jahren alt. Und man verkaufte Obst. An anderer Stelle Tiere. Da hingen Vogelvolieren und in kleinen Käfigen tobten kleine Hamster. Eine paar alte Damen verkaufte Kinderkleider. Ein anderer Laden Süßigkeiten. Da gab es einen Stand, an dem Papierdrachen an dünnen Stöcken verkauft wurden, mit denen die Kinder durch die Passage rannten und die Drachen über ihren Köpfen in der Luft flattern ließen.

Die Passage war mit einer Kuppel überdacht. Eine Kuppel aus gleißendem Licht. Gelb und flackernd. Grell und wunderschön.

Der Mann richtete seinen geschulten Blick in die Höhe. Bald schon musste er sich abwenden. Denn das Licht war ein anderes als das draußen. Es blendete und trieb Tränen in die Sicht. Da gab es auch nicht den gleichen Anreiz zum konzentrierten Dabeibleiben wie draußen. Denn es war ja nicht der richtige Himmel, es war ja eine Überdachung. Und so hätte er sich wahrscheinlich abgewandt, hätte diese Geschichte jäh enden lassen, wenn ihm nicht das gelegentliche Aufflackern, das Aufblitzen, man könnte sagen: das Sternen gesehen hätte in dieser auf den ersten Blick doch recht einheitlichen Lichtfläche. Es gab kleine, punktuelle Augenblicke des Verdunkelns. Ein kleiner Fleck nur, der erlosch und gleich darauf sich wieder entzündete.

Und das weckte seine Neugier, sodass er sich zur Seite stellte, zwischen zwei Bücherläden. Den Blick konzentriert nach oben gerichtet, starrte und wartete er.

Für gewöhnlich war es so, dass es ihm vorkam, als ob etwas ganz Magisches vor sich ging: Zunächst wurde ihm das Sehen unmittelbar hinter den Augen ganz stumpf. Dann war es, als stiege seine ganze Konzentration, seine Seele – wenn man so wollte – auf diesen Blick drauf. Und wie ein Zoom mit einer Kamera, wie eine Fahrt in einer Gondel, zog es ihn, seine Konzentration, seine Betrachtung, sein Ich, blickaufwärts wie an Seilen gezogen, zum Himmel.

So kam ihm das Unten abhanden. Er verlor die Beachtung, dass er zwischen Buchläden stand. Verlor die Geräusche sogar der Mitmenschen, die sich um ihn herum und an ihm vorbei zwängten, um an die Auslage zu gelangen. Er entrückte dem Treiben in der Passage, stieg an den Staubkörnern, dem Flirren und Flimmern der Luft, dem Rauschen, den vorbeiflatternden Drachenschwänzen aus Papier vorbei. Er stieg aufwärts in dieses Licht hinein, das sich nach und nach regelrecht ausdifferenzierte. Sprich: Es zeigte sich, dass das Licht in dieser Halle gar nicht einfach nur Licht war. Nein, es war auch nicht eine einzige, ganze Fläche, wie er gemeint hatte. Es waren vielmehr Lampen. Lampen aus Papier. Unzählige an der Decke schwebende Lampen, nahm er wahr. Sie hingen hier, übereinander, aneinander, kreuz und quer, in allen möglichen Farben sogar. Sie strahlten alle, bewegten sich kaum, weil es hier oben keinen Wind gab. Aber dann

Aber dann erlosch auf einmal eine Lampe und das war es wohl, was er vorhin als eine Art kurzes Abflackern wahrgenommen hatte. Ein kurzer Sternen. Nur umgekehrt. Statt eines hellen, weißen Lichtpunktes im Nachtschwarz, war es eine schwarz und dunkel gewordene Laterne im Lampenmeer.

Sofort, als wäre es das Licht gewesen, das sie leicht gemacht hätte, sank die finstere Lampe herab. Die helleren zwängten nach oben in den freigewordenen Platz hinein.

Noch während sie langsam und federleicht herabglitt, regte sich Neues. Da wurden Leitern ausgefahren von den Seiten. Von irgendwoher trieb auf einmal auf merkwürdigen Geräten, halb Fahrrad, halb Flugzeug, halb auf diesen da gehaltenen Leitern wie auf Schienen rutschende Fahrzeuge. Und in ihnen saßen Männer, die sich hastig bemühten, dem erloschenen Licht nahe zu kommen. Sie packten mit einer langen Stange, an deren Ende ein silberner Haken war, eine Kordel, die an der erloschenen, sinkenden Lampe hing und zogen sie zu sich herüber. Ein anderer hatte inzwischen eine leuchtende zu sich herangezogen, griff mit einer sehr großen behandschuhten Hand hinein und förderte damit einen darin enthaltenen Lichtball hervor. Es war nur ein Teil des Lampenlichtes. Denn diese erlosch nicht. Und kaum war sie losgelassen, glitt sie wieder an ihren alten Platz über den Köpfen der Arbeiter zurück.

Die Laternenarbeiter fügten den geernteten Lichtflecken in die erloschene Lampe zurück und gaben ihr einen sanften, gut meinenden und doch geschäftigen Stoß. Er trudelte das neu entfachte Lämpchen an der Stelle, drehte sich, dann stieg es aber doch. Und kaum stieg es, wurden die Fahrzeugchen wieder zurückbewegt, die Leitern eingezogen, alles bewegte sich wieder zurück.

Das Lichterdach strahlte wieder uneingeschränkt. Aber es war doch sehr weit und noch weiter, dass es an einer anderen Stelle bereits wieder eine Lampe gab, die in ihrer papiernen Hülle wieder erlosch. Das geschäftige Treiben setzte an anderer Stelle wieder ein und nun war zu sehen, wie an so vielen Stellen hier oben fleißig gearbeitet wurde. Ein immerwährendes Trieben war das, beinah geschäftiger und regsamer als unten auf der Erde.

Das hätte er ewig betrachten können, weil das Licht so gleißend war, die Arbeit so unaufhörlich und so perfekt; weil der Anblick dieser unfassbar vielen Lampen so ganz anders war als der natürliche Zementhimmel, den er so kannte.

Und wer weiß, wie lange er da stand und wie lange er gestanden hätte, wäre ihm ein Papierdrachen nicht unmittelbar vor den Augen vorbeigezogen worden. Das löste ihn von seiner Konzentration. Es war, als fiele er in sich selbst zurück. Und ja: zunächst war er geblendet und konnte kaum das Kind sehen, das ihn da zurückgeholt hatte. Er sah nur Dunkelheit auf der Erde.

Und als das sich wieder gelegt hatte, als ihm die Markthalle wieder vor Augen war, als er wieder mit beiden Beinen auf der Erde stand, es ihn nach Hause zurückzog, da fühlte er sich schwer. Bleischwer.

Er ging Heim. Er zündete, weil es draußen dunkel wurde und die ersten Sterne aufkamen, ein Licht an. Eine kleine, gar nicht so gute Kerze. Er setzte sich ihr gegenüber.

Und dann erzählte er der Flamme von dem Markthallenhimmel. Von der Lichternte. Von Papierlaternen.

Während ihm die Kerze beim Erzählen niederbrannte und es im Zimmer dunkel wurde, war ihm, als sinke sein Haus auf den Grund des Bodens zurück. Und dass kein Lichternter ihm durch das Fenster etwas hereinreichen würde, was ihm das Heim jemals wieder leicht machen konnte.

Er sank.

Bis er den untersten Grund dieser Erzählung endlich erreicht hatte.

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