Marie Mallarmé – Kapitel 5

Collis Schuhe klackten auf den Fliesen.

Er folgte ihr.

Die Sohlen hörten sich an, als ob sie aus Holz gemacht wären.

Manchmal schloss er die Augen, um sich besser auf ihre Geräusche konzentrieren zu können.

Bei einer Verfolgung muss man klüger sein als der Verfolgte. Nicht unsichtbar, klüger! Unsichtbar kann man nämlich nicht werden.

Seine Hände steckten in den Hosentaschen. Er hatte gegen die Wand in einem Schatten gelehnt und gewartet, bis Colli die Mensa verlassen wollte. Als er gesehen hatte, dass sie auf die Glastür zukam, hatte er sich aus dem Schatten gelöst und war losgegangen.

Bei dieser Verfolgung ging der Verfolger voraus!

Thomeo achtete darauf, dass Colli ihn nicht sehen konnte. Und das war erstmal kein Problem. Der Flur führte zehn Schritt geradeaus und machte dann einen Linksknick. Da es keine Alternative gab, konnte er vorgehen und dann musste er nur darauf achten, dass sie sich noch hinter ihm befand und er schnell genug um die nächsten Ecken huschte, damit sie ihn nicht sehen konnte.

Und er musste hören können.

Richtig gut hören.

Colli brummte ein paar unverständliche Sätze.

Das half. Sie hatte nämlich einen eigentümlichen Bass in ihrer Stimme, wenn sie Selbstgespräche führte. Aber am meisten halfen ihre klackenden Schuhe. Hässliche, schwarze Schuhe. Aber laut.

Collis Weg orientierte sich stark an der linken Wandseite.

Thomeo bog an der nächsten Stelle links ab. Es hätte auch geradeaus weitergehen können. Ging es aber nicht.

Am Ende des Flurs war das Treppenhaus. Als er durch die schwarze Tür gegangen war, hielt er inne. Wieder die Augen schließen. Colli trat in den Flur, der auf das Treppenhaus zuführte. Sie ging wieder nahe an der linken Wandseite.

Thomeo öffnete die Augen. Links ging es die Treppen runter. Rechts ging es hoch.

Hastig aber ohne sich groß anzustrengen sprang er also die Treppen nach unten. Es war wichtig, das Timing zu halten und nicht aus der Puste zu kommen. Wenn der Puls stieg, konnte man nicht mehr gut hören. Der Puls durfte nicht in den Ohren klopfen oder rauschen. Man musste immer die Ruhe bewahren.

Die Frage war nur: wie viele Stockwerke nach unten.

Als er nach der ersten Stockwerkhälfte um die Ecke gebogen war, öffnete sich oben die Tür und Colli folgte dem Weg, den er vorhergesehen hatte.

Lautlos huschte er weiter.

Das Stockwerk mit den Behandlungsräumen und den Badezimmern.

Collis Schritte verrieten, dass sie in der Mitte der Stufen ging.

Thomeo folgte dem Treppenhaus noch ein Stockwerk weiter und Colli blieb hinter ihm.

Sie waren immer ein halbes Stockwerk voneinander entfernt. Und immer blieb Thomeo an der Seite der Treppe, wo sie ihn nicht sehen konnte.

Erdgeschoss.

Thomeo schloss für eine Sekunde die Augen.

Dann noch ein Stockwerk weiter nach unten. Dort unten waren die Krankenflügel, Vorratsräume, die Krankenzimmer, die Lagerräume, Werkstätten.

Um die Tür hier so zu schließen, dass sie nicht donnerte, brauchte es Feingefühl und ein wenig Zeit. Letzteres hatte er nicht. Thomeo sprang fast vollkommen lautlos die letzten Stufen nach unten und zog die Tür nur so weit auf, dass er in die Dunkelheit dahinter durchschlüpfen konnte. Dann zog er die Tür sanft zu.

Es gab hier unten keinen Lichtschalter.

Wenn er sich zu hastig bewegte, würde ein Bewegungsmelder überall die Lampen einschalten. Er musste sich jetzt also so schnell es ging langsam bewegen. Genau gegenüber von der Treppenhaustür gab es noch eine Tür. Der Flur lief nach links und nach rechts.

Als Colli die Tür öffnete, knisterte das Licht über ihr an. Die Neonröhren flackerten und blitzten behäbig, als hätte man sie aus tiefstem Schlaf gerissen. Sie wandte sich nach links und hinter donnerte die Tür ins Schloss. Als sie den Flur komplett durchschritten hatte, schlüpfte Thomeo wie ein Geist hervor.

Wenn man jemanden verfolgt, muss man klüger sein als der Verfolgte. Nicht unsichtbar, klüger! Unsichtbar kann man nämlich nicht werden.

Aber man kann so tun als ob.

Im Unterschied zu Colli hatte Thomeo jetzt aber ein anderes Ziel. Er nahm eine andere Tür. Und dann wartete er, bis das Licht im Flur wieder einschlief. Und er wartete, bis eine halbe Stunde später Colli wieder zurückkam. Diesmal war sie nicht allein. Thomeo sah nicht, wer bei ihr war. Aber er hörte Colli sprechen: „Die Kinder dürfen nichts wissen. Das ist ja wohl klar. Und wir müssen Vorkehrungen treffen. Ich fürchte, dass wir keinen guten Zeiten entgegengehen.“

Die andere Stimme sagte: „Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, wie man Handeln kann.“

„Nein.“, widersprach Colli so energisch, dass ihre Stimme schrill wurde. „Manchmal gibt es das nicht. Jetzt gibt es so was nicht. Wir werden still sein. Wir müssen -“ und dann donnerte die Tür.

Als der Flur wieder in Finsternis fiel, schlüpfte Thomeo aus seinem Versteck. Und er bewegte sich so leicht durch die Dunkelheit, dass kein Licht erwachte und er sich dem düsteren Geheimnis nähern konnte.

Seine Hand lag auf dem Türgriff.

Für einen Augenblick hielt er inne.

Er lauschte nach jedem Geräusch. Vor allem nach denen, die zwischen dem Säuseln der Heizungsrohre zu hören waren.

Was sagt ihr dazu?