Mit meinem Kind über den Tod reden …

Was ist der Tod?

Ich erinnere mich noch daran, wie ich mir selbst zum ersten Mal diese Frage gestellt habe. Und wie ich mich auf die Suche gemacht habe, eine Antwort zu finden. Ich muss wohl so alt wie du gewesen sein. Nein warte, ein Jahr älter. Ich ging nämlich schon zur Schule. Und ich ging schon alleine auf dem Schulweg. Naja, alleine, ich meine mit anderen Freunden aber nicht mehr mit meinen Eltern. Es war auch kein besonders weiter Schulweg und es gab auch nur eine einzige gefährliche Stelle. Ich musste irgendwann auf die andere Seite der Hauptstraße. Aber wenn ich den langen Weg wählte, dann ging ich direkt auf die Hauptstraße zu, dort wartete zu Beginn des Schuljahres auch immer ein Schülerlotse und es gab eine Fußgängerampel. Dann über den hässlichen Marktplatz, der einfach nur hässlich war, weil es dort nichts gibt, was hätte schön oder hässlich sein können. Es gab dort aber einfach gar nichts und deshalb war der ganze Platz einfach und hässlich.

Dann über eine Treppe zur Spielstraße runter und der musste ich einfach nur folgen bis ich an den steilen Berg kam, an deren Sockel unser Haus stand.

Klingt nicht schwer, hab ich Recht? Und weil es die meiste Zeit bergab ging, machte der Rückweg von der Schule auch Spaß.

Ich erinnere mich, dass eines Tages aber meine Eltern mit dem Auto vor der Schule auf mich warteten und nach mir riefen. Ich hatte gar nicht mit ihnen gerechnet und eigentlich war ich sogar recht enttäuscht, dass ich nicht nach Hause gehen konnte. Ich rannte hin und wunderte mich nicht nur darüber, dass sie mich überhaupt abholten, sondern dann auch noch mit dem Auto. Ich meine, bei der kurzen Strecke hätten sie mich ja auch zu Fuß abholen können. Als ich dann auf dem Rücksitz Platz nahm, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Meine Mutter hatte ungewöhnlich rote Augen, mein Vater war sehr schmallippig. Er überließ meiner Mutter größtenteils das Reden und nach vielen unnötigen Worten, nach denen wir fast schon zu Hause angekommen waren, meinte er endlich: „Jetzt sag’s ihm lieber bevor wir zu Hause sind.“

Und dann sagte sie mir, dass heute Morgen meine Urgroßmutter gestorben wäre.

Nein, warte: Sie sagte nicht ‚gestorben’. Sie sagte ‚tot’. Und das war das erste Mal, dass ich jemanden kannte, dem dieses Wort gehörte.

Weißt du, eigentlich war ja jetzt unsere Familie kleiner geworden. Verstehst du. Gestern hatte ich noch eine Urgroßmutter und heute nicht mehr. Aber es fühlte sich nicht so an. Nein, es fühlte sich so an, als ob die Familie um den Tod größer geworden wäre. Ich hatte ja noch ein ziemlich lebhaftes Bild meiner geliebten Urgroßmutter im Kopf. Ich hatte sie jeden Tag an der Straßenecke erwartet und hatte ihr geholfen, über die Straße zu gehen, obwohl es hier in unserer Wohngegend so gut wie keinen Verkehr gab. Sie hatte mit mir immer Dreidel gespielt und mir immer die Pfennige im Spiel abgeluchst. Sie hatte mich ausgeschimpft, wenn ich zu nah mit meiner Nase an ihren Vitrinenschrank gekommen war, weil mir die orangefarbenen, halbdurchsichtigen Plastikrehe darin so gut gefielen.

Ich hatte noch diese ganzen Bilder in meinem Kopf drin. Und deswegen war meine Urgroßmutter nicht einfach fort. Sie war jetzt halt einfach nur tot. Und da war es. Der Augenblick, da ich meine Mutter fragte und was du mich eben gefragt hast: Was ist das eigentlich: tot?

Tot, der Tod, gestorben, nicht mehr am Leben. Nicht mehr bei uns. Im Himmel.

Sie brachte all diese vielen Dinge und dann erlaubte sie mir, dass ich sie sogar noch einmal sehen konnte. Wir gingen zu ihrer Wohnung und völlig unnötigerweise erzählte mir mein Vater auf dem Weg zu ihrem Haus, dass sie gestern Abend noch schön Geburtstag gefeiert hatte. Das war so unnötig, weil ich selbst am Vorabend ja noch auf der Geburtstagsfeier gewesen war. Ich hatte selbst mit gefeiert, hatte die dumpfe, muffige Luft, die voller Menschen und voller Geräusche und Gerüche war, in mich aufgesogen und war ganz spät erst ins Bett gekommen.

Dann sagte mein Vater: „Sie hat noch nicht einmal alle Geschenke geöffnet gehabt. Ein paar hat sie sich nämlich für heute Morgen aufheben wollen.“

„Die wird sie nie wieder öffnen.“, murmelte meine Mutter, so als ob sie vergessen hätte, dass ich, ein kleiner Junge, der eigentlich überhaupt keine Ahnung hatte, was da alles um ihn herum passierte, dass ich neben ihr ging.

In meinem Kopf kreiste diese Tatsache herum: Sie hatte noch nicht alle Geschenke geöffnet.

Und um diesen einen Satz kamen noch viel mehr Sätze hinzu und reihten sich an ihn an.

Wir standen wenig später im Schlafzimmer und standen an ihrem kleinen Bett und sahen auf ihren zerbrechlich dünnen, blassen, toten Körper.

Und ich, der ich mir vorgenommen hatte, ganz genau hinzuschauen, weil ich wissen wollte, was es denn jetzt hieß, dass sie tot sei, ich stellte fest, dass sie nicht mehr atmete. Und dass sie die Augen nicht öffnete. Und nicht aufstand und lachte und redete und mich bat, noch ein wenig mit ihr um die Pfennige in ihrer Spieldose zu spielen.

„Sie ist tot.“, sagte ich. Und war mir selbst nicht sicher, ob das jetzt eine Frage war oder nicht. Und meine Mutter sagte: „Ja, Schatz.“ Und dann einen dieser Sätze, den Erwachsene immer sagen: Jetzt ist sie im Himmel. Sie ist an einem besseren Ort. Alles ist gut. So einen Satz, weißt du?

Ich saß später draußen im Garten, weil die Erwachsenen Erwachsenenkram zu tun hatten und ich hatte eine ganz einfache Sache, die in meinem Kopf gewachsen war. Offensichtlich war jeder traurig, dass meine Urgroßmutter jetzt tot war. Weil ich niemanden traurig machen wollte, nahm ich mir vor, dass ich nicht sterben wollte. Also musste ich etwas gegen den Tod machen. Und das schien mir unfassbar einfach. Inzwischen war ich alt genug, um zu begreifen, dass Erwachsene manchmal die einfachsten Dinge nicht verstanden. Und wenn meine Eltern mir beigebracht hatten, dass jeder irgendwann einmal sterben musste, dann hatten sie einfach nur noch nicht den einfachsten Trick der Welt gefunden, wie man am Leben bleiben würde.

Man musste, so nahm ich mir vor, einfach niemals aufhören zu atmen. Es war so simpel.

Ich versuchte es.

Ich atmete tief ein und wieder aus. Ich konzentrierte mich, übte mich im Atmen, bis ich ganz bewusst die Luft ein und aussog. Und das machte ich, bis man mich rief, bis wir zu Hause waren, bis mir schwindlig wurde, bis ich feststellte, dass ich seit Stunden nicht geredet hatte und bis ich schließlich Panik bekam, weil mein Herz schmerzte, meine Lungen brannten und ich einfach nicht aufhören konnte, mich auf mein eigenes Atmen zu konzentrieren.

Ich lag im Bett, starrte in die Dunkelheit und wusste, dass ich einschlafen musste, weil morgen Schule war und ich wusste, dass ich nicht würde einschlafen können, weil ich mich im Schlaf ja nicht mehr auf das Atmen konzentrieren können würde.

Da kam mir die zweite Erkenntnis: Meine geliebte Urgroßmutter war im Schlaf gestorben. Es erschien mir so selbstverständlich, dass ich auf einen Schlag hellwach war. Natürlich war sie im Schlaf gestorben. Sie hätte, wenn sie wach gewesen wäre, ja einfach weiter atmen können.

Bestimmt hatte auch sie ein Leben lang das Atmen immer wieder geübt, jeder Mensch tat das wahrscheinlich. Weil kein Mensch je sterben wollte. Und dann, wenn man schläft, dann bringt einem die beste Übung nichts. Man verliert die Konzentration, verliert die Kontrolle. Man träumt, dass man über eine Blumenwiese läuft, vergisst, dass man im Bett liegt, dass man eigentlich atmen sollte und zack, war alles vorbei und alle Menschen waren traurig.

Ich dachte angestrengt nach. Ich brauchte ganz schnell eine Lösung. Wie um alles in der Welt konnte man sicher gehen, dass man am nächsten Tag auch wieder aufwachte und der Körper nicht einfach mal eben kurz das Atmen eingestellt hatte.

Mein Blick irrte unsicher durch das ganze Zimmer. Irgendwo musste es doch etwas geben, was mir eine gute Idee bringen würde. Ich sah meine Bücher, meine Spielsachen, sah die orangefarbenen Glasrehe meiner Urgroßmutter auf dem Tisch, ich sah durch Tränen hindurch meine mit Sand gefüllten Wasserflaschensammlung, sah mein Sparschwein und dann zuckte es leuchtend hell durch meinen Verstand. Ich hatte eine Idee. Mein Sparschwein hatte die Idee ausgelöst. Ausgerechnet etwas so vollkommen absurdes wie dieses grüne Ding, das mich immerzu angrinste und fett und glücklich jeden beim Dreideln gewonnenen Pfennig in seinem Bauch sicher verwahrte.

Ich musste Atem einfach in ein Sparschwein legen, das war meine Idee.

Das klingt dumm? Warte ab, gleich wirst du verstehen.

Wozu braucht man ein Sparschwein? Na? Man wirft Geld hinein, das man hat um es zu sammeln für den Tag, an dem man es braucht. Na, verstehst du jetzt? Nein? Immer noch nicht? Dann pass auf:

Ich setzte mich aufrecht ins Bett und konzentrierte mich wieder auf mein Atmen. Diesmal sah ich aber auf die Uhr. Und ich beobachtete mit dem Sekundenzeiger, wie oft ich so in welcher Zeit atmete. Das war mein normales Atmen. Jeder Atemzug war der, den ich gerade jetzt fürs Leben brauchte. Dann begann ich zwischen jedem gebrauchten Atemzug noch einen zusätzlichen, unnötigen Atemzug einzufügen. Verstehst du jetzt? Obwohl ich jetzt nur 1 – 2 – 3 – 4 Atemzüge gebraucht hätte, atmete ich absichtlich zwischen der 1 und der 2 einen zusätzlichen und dann einen zwischen 2 und 3 und einen zwischen 3 und 4. Ich atmete also: 1 – A – 2 – B – 3 – C – 4 – D und hatte dadurch vier Atemzüge zu viel geatmet. Wenn ich jetzt also im Schlaf das Atmen vergessen würde, so dachte ich, würde ich diese vier zusätzlichen Atemzüge in meinem Atemspeicher, in meinem Luftholschweinchen, in meinem Reservetank hinter meinen Lungen, einfach hervorholen und ich würde genau vier Atemzüge länger leben können als normalerweise.

Ich hatte dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Ich hatte ihn reingelegt. Sie alle! Alle, die nicht wussten, wie man aufhören konnte zu sterben.

Ich saß also mitten in der Nacht in meinem Bett und atmete unfassbar schnell ganz viel, bis mir so richtig schlecht wurde, ich aufspringen und mich übergeben musste. Aber natürlich war durch das zu schnelle Atmen mein Gehirn ganz duselig geworden, ich stolperte über den Flur, stieß gegen den Spiegelschrank, gegen meinen überraschten Vater und übergab mich vor seine Füße auf den Boden.

So war das also mit meinem ach so klugen Plan.

Ich war überzeugt, dass die Idee genial war und dass man so den Tod überlisten konnte, aber andererseits hatte die Natur wohl etwas dagegen, dass man das so einfach macht.

Ich verstand in dieser Nacht zum ersten Mal, dass meine Eltern vielleicht doch Recht hatten, wenn sie mir sagten, dass jeder eines Tages einmal sterben musste. Vielleicht im Schlaf, vielleicht weil er einfach die Konzentration verlor und zu atmen vergaß.

Ich verstand, warum es hieß, dass sich jemand „totlachte“. Weil man beim Lachen ja auch die Konzentration verlor. Ich verstand, dass es einen verdammt einfachen und guten Trick geben musste, um den Tod zu überwinden. Aber ich wusste auch, dass ich ihn noch nicht gefunden hatte.

Vom vielen Atmen war mir noch lange ganz schlecht. Wenn man einmal damit begonnen hat, sich auf das eigene Atmen zu konzentrieren und man einmal begriffen hat, wie wichtig das Atmen fürs Überleben ist, dann kann es passieren, dass dieses Gefühl von Panik beim Atmen einfach völlig unvorbereitet über dich kommt. Du sitzt in der Schule und BÄMM erwischst du dich dabei, dass du dich aufs Atmen konzentrierst und du erwischst dich, wie du denkst: Ist das jetzt der Augenblick, wo ich fast gestorben wäre, wenn ich nicht rechtzeitig ans Atmen gedacht hätte?

Ich bekam einige Zeit später sogar Herzstiche von dem Ganzen. Und das alles nur, weil ich viel darüber nachdachte und immer wieder nachts zu meiner Urgroßmutter betete und sie fragte, ob sie mir nicht irgend einen Tipp geben könnte, wie man das Sterben im Leben überspringen kann.

Wenn ich einen Wunsch gehabt hätte, dann der, dass ich in Entenhausen leben könnte. Das war eine Zeichentrickwelt, aber immerhin eine, in der nie irgendjemand älter wurde oder starb. Niemals.

Es dauerte ganz lange, bis ich wieder etwas Neues und ganz Einfaches über den Tod lernte. Ich war doppelt so alt geworden. So sechzehn, siebzehn rum. Da sah ich einen Film, der hieß Bandits. Und da gibt es eine Frau, die einmal etwas ganz wichtiges sagt:

„Der Tod dauert das ganze Leben. Und hört vermutlich auf, wenn er eintritt.“

Das ist ein auf den ersten Blick ganz schwerer Satz. Aber nur, wenn man ihn zu kompliziert liest. Wenn man ganz einfach drauf schaut, dann wird er auch ganz einfach. Der Satz sagt einfach nur, dass ich mich als Kind unglaublich geirrt hatte.

Jeder Tag unseres Lebens geht vorbei und mit jedem Tag werden wir älter. Wir verlieren unsere Kindheit und wir verlieren Stück für Stück etwas von unserem Leben. Nämlich unsere Tage, weißt du. Jeder Atemzug, den wir machen, wird immer auch begleitet von einem ausatmen. Wir holen nicht nur Luft in uns rein, wir geben auch immer wieder Luft ab. Wir leben nicht nur jeden Tag und sammeln ganz viele Erfahrungen und Wissen, Abenteuer und Erlebnisse, wir lernen nicht nur neue Freunde kennen, springen durch neue Regenpfützen. Nein. Die alten Regenpfützen trocknen auch aus. Alte Freunde verschwinden aus unserem Leben. Ein Lieblingsspielzeug geht auf einer Reise auf einem Parkplatz verloren. Ein Kinderbett wird zu klein. Du kommst in die Schule und dafür verlässt du den Kindergarten.

Du wirst nicht nur älter, du verlierst auch das Junge.

Irgendwann bist du so wie ich am Bett und es ist dein Kind, das vor dir liegt.

Du bist nicht nur am Leben, du bist eigentlich auch am Sterben.

Einatmen: Leben – Ausatmen: Sterben. Es ist ein und die selbe Sache, mein Schatz. Leben und Sterben sieht so ähnlich aus, dass wir Erwachsenen es jeden Tag miteinander verwechseln. Erst wenn der Tod da ist, hört das Sterben auf. Weil auch das Leben aufhört. Und das witzige daran ist: So ist das Leben.

Es tut mir Leid, dass ich dir das nicht anders sagen kann. Und es tut mir leid, dass ich dir nicht erzählen kann, dass ich als Kind doch noch die eine Idee hatte, wie man das Sterben aufhalten kann. Aber wenn du verstehst, was ich dir da erzählt habe, dann verstehst du auch, dass wenn man nicht sterben möchte, man auch nicht leben kann. Und Leben, mein Schatz, ist das unfassbar schönste, was es gibt auf der Welt.

Denn im Leben steckt die höchste Freude und der tiefste Schmerz. Das größte Glück und die unfassbare Trauer. Wir stecken voller Gefühle und jedes Gefühl ist so atemberaubend toll, dass wir es einfach genießen sollten – indem wir uns darauf konzentrieren.

Du darfst nur nicht diesen einen Fehler machen: Du darfst nur keine Angst vor dem Tod oder vor dem Leben haben. Angst hilft dir nur dabei, deine Konzentration zu verlieren. Und wer seine Konzentration verliert, der taumelt durch seine Gefühle hindurch wie ein Blinder durch die stockdunkle Nacht.

Ob ich auch schon mal durch meine Gefühle getaumelt bin?

Schon oft. Schon viel zu oft.

Meistens vergisst man dann, was wichtig ist. Man ist sich unsicher, wen man liebt und was man möchte. Und dann ist es wichtig, ganz kurz anzuhalten und sich zur Seite zu stellen und sich ganz tief auf sich selbst zu konzentrieren und auf seine Gefühle.

Deine Gefühle werden dir immer sagen, was richtig ist. Da bin ich mir sicher. Du hast nämlich verdammt gute Gefühle. Richtig professionelle Gefühle sogar. Profigefühle.

Und jetzt schlage ich vor, du legst dich hin … und du machst deine Augen zu … denkst an alle Menschen, die du lieb hast … und die dich lieb haben … spürst ein wenig die Wärme, die von diesen Menschen ausgeht und lächelst. Weißt du warum? Weil man nur mit einem Lächeln auf den Lippen so richtig verdammt gut schlafen kann.

Nacht, mein Schatz. Hab dich Lieb.

Was sagt ihr dazu?