Lanista hatte seit über einer Woche Stürme vorhergesagt. Und dann, am Donnerstag, wurde das Wetter tatsächlich miserabel. Der Regen peitschte schräg von der Seite und es gab immer wieder Windschübe, die so stark waren, dass sie einem den Boden unter den Füßen wegzogen.
„Das sind keine Kampfbedingungen.“, hatte ich Lanista gesagt. Aber der wollte natürlich nichts von meiner Meinung wissen. Wenigstens ignorierte er mich und hackte nicht auf mir rum. Die Zeit war zum Glück vorüber. Denn eins muss man Lanista lassen: er war fair genug, nur die Neuen wie Dreck zu behandeln und uns alte Hasen – so viele gab es ja nicht mehr, unser Job erlaubt nicht unbedingt, dass man alt und glücklich wird – behandelt er wenn schon nicht mir Respekt, dann immerhin mit Anstand und Ignoranz.
Wir mussten raus in die Arena, auch wenn die Zeichen auf Sturm standen.
„Und wenn da draußen nur ein Furz sitzt, der Eintritt bezahlt hat, dann ist das wenigstens ein Eintritt, der es verdient, euch kämpfen zu sehen!“
Das sagte er, als ob er die Schuld komplett auf die Drecksäcke im Publikum abwälzen wollte. Wer war schon so dämlich, bei diesem Wetter Eintritt zu bezahlen um uns sterben zu sehen?
Rocko, der noch länger im Dienst war als ich, machte den altmodischen Witz, dass wir uns genauso gut „Lanistas Sturmtruppen“ hätten nennen können. Aber die meisten der Jungen verstanden den nicht und so blieb es bei einem mitleidigen, selbstgefälligen Kichern als Reaktion.
Als Lanista fort war, zog sich Rocko in meine Nähe und erleichterte seine Seele ein wenig mit dem üblichen Gemecker.
„Wann werden sie wenigstens das Essen besser würzen?“, fragte er und tat so, als schüttele er ein Salzfässchen über sich selbst aus. Er kicherte träge.
Noch am selben Nachmittag verlor Rocko zum ersten Mal in der Arena das Gleichgewicht. Er stürzte vor den Bestien, schlitterte über dem vermaledeiten Boden in die falsche Richtung und wurde ohne einen einzigen Schrei von sich zu geben, bei lebendigem Leib zerfleischt.
„Glückwünsch!“, sagte Lanista. „Jetzt bist du der Dienstälteste. Aber erwarte keine Sonderbehandlung.“
„Gibt’s wenigstens eine goldene Uhr?“
Lanista schnaubte verächtlich. Aber mal im Ernst, wenn man Lanista lange genug kennt, dann kann man fast glauben, in seinen Augen so etwas ähnliches wie abgestumpftes Leiden ablesen zu können. Er sagte:
„Jeder auf der Welt hat seinen Job. Jeder macht das, was er macht. Wir stecken halt hier.“
Ich legte die Hand an die Gitter meines Käfigs. „Und es ist ein geiler Job, Chef.“
Er sah mich prüfend an, dann nickte er.
„Androklus.“, sagte er und wir sahen uns gegenseitig in die Augen. „In einer scheiß Welt gibt es nur scheiß Jobs. Friss oder stirb.“
„Du meinst: Friss oder werd gefressen.“
Er nickte.
Die Jungen wären nie auf die Idee gekommen, dass Lanista ein netter Kerl hätte sein können. Aber ich konnte mir vorstellen, dass in einer anderen Welt oder einer anderen Zeit, wir uns an einem Tresen hätten nebeneinander begegnen können. Zu einer Zeit, in der man in Arenen höchstens Fußbälle getreten hätte und nicht Menschen.
Wir hätten nebeneinander am Tresen gesessen, gemeinsam über die Ränder unserer Gläser auf den Bildschirm gestarrt und für die selbe Mannschaft gebrüllt. Der fette Lanista mit den großen, roten Flecken auf seinen Wangenknochen. Er hatte diesen stechenden Blick, der einem Angst einflößen sollte. Wenn er zu uns sprach, dann immer viel zu laut und mit zu viel Bass in der Stimme. Wenn er zu dem Punkt gereizt wurde, an dem normale Menschen in seiner Position wirklich geschrien hätten, verwandelte sich seine Stimme in dieses Gurgeln, das ihn wie ein Vulkangott klingen ließ. Aber einer der erbärmlichen Sorte. Diese Erbärmlichkeit, die du nur siehst, wenn du schon lange genug bei dem Spiel dabei bist, um dich nicht mehr von ihm und seinem Geschrei einschüchtern zu lassen.
Rocko hatte mal gesagt: Es gibt Menschen, die verdienen Respekt. Es gibt Menschen, die müssen brüllen und Angst machen, um Respekt zu bekommen. Und es gibt unseren lieben Lanista, der brüllt und Angst macht und nichts dafür bekommt außer Blut und Schweiß. Wir würden ihn ja respektieren, hatte Rocko gestanden, wenn er uns nicht jeden Tag in den Tod schicken würde.
Vor lauter Kämpfen bleibt keine Zeit zum Respekt haben.
Im Unterschied zu Rocko hatte Androklus zwar das selbe Bild von Lanista, aber ein anderes Verhältnis zu ihm. Viele von den Jungen verstanden das nicht. Für sie war Lanista die Hand, die den Käfig jeden Tag zuschloss und jeden Abend noch einmal an den Schlössern rasselte, um zu überprüfen, dass auch alle sicher verwahrt waren. Sie übersahen, dass Lanista auch die Hand war, die ihnen das Essen reichte und die Waffen, ohne die man in der Arena keine Überlebenschance hatte.
Man beißt nicht die Hand, die dich füttert.
Androklus hatte sein Lebtag nicht einmal nach Lanista ‚gebissen’. Im Gegenteil. Alles, was Lanista ihm je angeboten hatte, war auf den Ausdruck tiefster Dankbarkeit gestoßen. Selbst als er ihn direkt nach Rocko in die Arena orderte, um den ‚Dreck zu beenden’, hatte er „Danke, Lanista“ gesagt. Und dann war er eingetreten unter das kaum durch den Sturm dringende Johlen und Kreischen eines spärlichen Publikums.
Für diesen dreckigen Rest bist du gestorben, Rocko, dachte er bitter.
Sie hatten schon für ein größeres Publikum Großartigeres vollbracht. Vielleicht dreißig oder vierzig Personen saßen im steinernen Halbkreis, starrten auf ihn herunter.
Und Androklus packte die Lanze fester, ehe er sich auf die hungrige Meute stürzte. Durch den peitschenden Regen hindurch, schlitternd über diesen gefährlich schmierigen Untergrund, rammte er dem ersten die Lanze durch den Schädel und verschaffte sich und dem noch zuckenden Leichnam Rockos mit weit ausholenden Bewegungen mit dem Lanzenstil ein wenig Luft.
Er sah zu Rocko hinab: „Erinnerst du dich noch, wie ich dich gefragt habe, ob man sich je daran gewöhnen kann. An den Anblick dieser … Dinger?“
Er wusste noch, was Rocko geantwortet hatte: „Du gewöhnst dich an nichts. Aber du vergisst, dass es einmal Menschen waren, die da vor dir stehen. Du siehst nur noch ihre gefletschten Zähne, die dich in der Luft zerreißen wollen, siehst nur ihre Blasen schlagende Haut und riechst ihren süßlichen Atem des Todes. Sie stinken, als ob sie ihre Gesichter in die Scheißegruben der Hölle persönlich getunkt hätten. Und du wirst irgendwann so angewidert von ihnen sein und so stolz darauf, dass du verdammt noch mal immer noch am Leben bist, dass du deinen Arsch zusammenkneifst und den dümmsten Job der Welt erledigst.“
Androklus nickte.
Das Ding, das vielleicht irgendwann einmal ein Mensch gewesen war, stürzte auf ihn zu und riss kreischend den Mund weit auf, als könne es Androklus mit einem Mal verschlingen. Und Androklus erledigte den dümmsten Job der Welt für den nutzlosesten Applaus im sinnlosesten Regel um stumpf wie ein Holzmesser wieder zurück in den Käfig zu kriechen und sich von Lanista einen Eintopf servieren zu lassen.
„Danke, Lanista.“, sagte er brav.
„Halt’s Maul.“, antwortete Lanista wie immer.
Als der Sturm in den folgenden Tagen stärker wurde, blieb zum Glück auch das große Geld aus. Die Stimmung in den Käfigen unter der Arena war so lange gedrückt, bis man begriff, dass es so schnell keine Show mehr geben würde. Dann entspannten sich alle und trieben ihre Scherze über Lanista und was man alles mit ihm anstellen würde, wenn man nur könnte.
Androklus hielt sich zurück. Er war zu alt, um diesen Spott mitzumachen oder ihn lustig zu finden. Lanista kam um die Mittagszeit zu ihnen und diesmal war er zum ersten Mal seit langem nicht allein. Die anderen waren ausgelassen genug, laut zu grölen, gegen die Gitter zu schlagen und „Frischfleisch!“ zu rufen.
„Haltet’s Maul!“, rief Androklus. „Seht doch hin! Verdammt!“
Aber es half nicht. Sie lärmten, um den Neuen einzuschüchtern. Und das gelang ihnen so verdammt gut. Der Neue brach nämlich in Tränen aus. Ihm versagten die Knie und er stürzte auf den Boden, so dass er von Lanista an den Ketten über den Boden geschleift werden musste.
„Der Neue!“, rief Lanista. „Einer geht, einer kommt.“, so lautete die Regel. Rocko hatte einem neuen Gladiator Platz gemacht. Aber verdammt, Lanista!
Er schloss Androklus Tür auf und stieß den Neuen zu ihm in die Zelle.
„Bring ihm alles bei. Er geht zur nächsten Show raus.“
Androklus stürzte an die Käfigtür und bekam Lanistas Arm zu packen. Überrascht sah der Fette zu ihm hinab.
„Das kann nicht dein Ernst sein!“, sagte Androklus.
„Du kennst doch die Regeln. Einer geht, einer kommt.“
„Ja, aber … er ist noch ein Kind. Wie alt ist er? Sieben?“
„Er ist neun. Sagt er jedenfalls. Alt genug, findest du nicht? Alt genug, um in einem Käfig heutzutage am Leben gehalten zu werden und gefüttert zu werden. Oder soll ich ihn etwa rauslassen, wo diese … Monster … frei herum laufen? Und er keine Waffe bekommt.“
Androklus ließ los.
Widerwillig starrte er Lanista hinterher. Er musste ihn gehen lassen.
Auch wenn der Junge sich jetzt aus seiner Starre löste, zu ihm an die Käfigtür stürzte und laut um Gnade brüllte.
Ein kleiner Junge, also, dachte Androklus.
Willkommen in der Arena.
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