Roxxy Foxx (3/3)

Hier ist Teil 1
Hier ist Teil 2

Und hier ist das Ende:

Für einen Sekundenbruchteil dachte sie wirklich, also nicht aus dem Schock heraus, sondern tatsächlich von dieser Tatsache überzeugt, dass das, was sie da vor sich sah, nur ein Spiel sei. Sie dachte: Das gehört zur Show. Es ist Show.

Und dann sah sie den Fleck, der sich auf Teds Hose ausbreitete und dieser dunkle Fleck hatte mehr Realität als alles andere.

Er macht sich in die Hose!, schoss es ihr durch den Kopf. Es war so vollkommen absurd, Ted, der große Saubermann, Ted, der große, starke Beschützer, der Ritter in der weißen Rüstung, er saß da vor ihr, nur durch eine dicke Glasscheibe von ihr getrennt, Strom wurde durch ihn durchgeschickt, ließ seine Muskeln tanzen und seine Blase entleeren.

Weder Ted noch Roxxy schrien.

Er verdrehte die Augen wild in alle Richtungen und die Augenlider flatterten. Und sie hatte beide Hände gegen die Scheibe gepresst und konnte nicht aufhören zu starren bis der Schalter endlich nach oben schlug und Teds Körper erschlafften.

Sie war sich sicher, dass er nun tot war. Aber wie ein Ertrinkender, der nach endlosen Minuten mit dem Kopf durch die Wasseroberfläche stieß, nahm Ted hastig Luft. Er röchelte und hustete, ohne dass ein Geräusch bis zu ihr drang. Und dann hörte sie den Motor und die Holzwand senkte sich wieder. Jetzt erst schrie sie und tobte, aber natürlich konnte nichts in dieser Welt verhindern, dass sie wenig später wieder in der Kopie ihres verdammten Studiozimmers saß und auf eine Holzwand starrte.

„Ihr Schweine!“, sagte sie endlich.

Als ob die nur darauf gewartet hätten, dass sie etwas sagte, flammte von einem Projektor an die Wand geworfen jetzt eine Digitaluhr auf, die selbstverständlich rückwärts lief: Fünf Minuten.

„Nein!“, sagte sie. „Nein, nein, nein! Das ist nicht euer verfickter Ernst! Ihr Schweine! Ihr Hurensöhne. Ihr …“, sie hielt inne.

Bevor Ted gekommen war, hatte sie in einer Welt der Finsternis gelebt, eine Welt, die nur danach getrachtet hatte, sie zu zerstören. Sie war von Männern verprügelt worden, auch eingesperrt. Sie hatte die Jobs gehabt, die niemand hatte haben wollen und sie hatte die Arbeitslosigkeit gehabt, die aus einem Jemand ein Niemand zu machen versteht. Wenn man in der Finsternis einmal gelebt hatte und sie überstanden hatte, dann war man nicht mehr der Typ für Panik. Im Gegenteil.

Wenn die Finsternis wieder kommt, ist das Aufflammen von Panik nichts anderes mehr als der Einschalter für genau den Teil des Verstandes, der dich wieder weiterbringt.

Ihr Verstand raste, wie schon seit Jahren nicht mehr.

Langsam begann sie sich einmal um die eigene Achse zu drehen und dabei jede auch noch so kleine Information in sich aufzunehmen und zu verarbeiten.

Sie flüsterte zwar noch viermal „Ihr Schweine.“ Aber sie hörte sich selbst nicht mehr.

Die Sache war nämlich im Grunde ganz einfach: Sie saß hier fest und auf der Wand gab es einen Countdown von fünf Minuten. Was auch immer dann passierte, wenn die Uhr auf Null ankam, musste sich verhindern lassen, wenn sie das Spiel spielte, das man von ihr erwartete. Und was passieren würde, wenn da vorne Null stand, da brauchte es nicht viel Fantasie. Aber mit Sicherheit würde die Holzwand sich wieder bewegen.

Nach einer Minute und zwanzig Sekunden hatte sie einmal den kompletten Raum gescannt.

„Das erste ist klar!“, rief sie. „Nämlich: so lange ich hier drin bin, spiele ich euer Spiel. Und wenn ich draußen bin, drehen wir einmal am Rad, Jungs. Dann steh ich auf der anderen Seite des Mischpults.“, sie ging los, kletterte auf ihr Bett und griff am Kopfende zum obersten Regalbrett.

„Und dann bediene ich ein paar Regler, Jungs. Und dann …“, sie zog von dort oben die Lautsprecherbox nach unten. Das Kabel das dahinter in der Wand verschwand war lang genug. „ … dann werdet ihr sehen, dass ich auch verdammt viel …“, die Lautsprecherbox, aus der die ganze Zeit die klassische Musik lief. „… verdammt viel …“, das letzte Mal hatte sie diese Art von Musik in einem ganz anderen Leben gehört. Sie hätte niemals etwas mit dieser Musik anfangen können, wenn sie ein Hinweis gewesen wäre wie in einer gewöhnlichen Quizshow. Also: Was ist der Unterschied zwischen Mozart und Beethoven. Oder: In welcher Epoche lebte Wagner oder Liszt oder Händel oder … „… sogar verteufelt viel …“ – nein, wenn diese Musik etwas zu bedeuten hatte – und davon war auszugehen, weil sie in ihrer Situation so unfassbar unpassend war – wenn sie ein Rätsel sein sollte, das sie zu lösen im Stande wäre, dann musste das Rätsel etwas mit ihr zu tun haben. Mit diesem anderen Leben. „… Fantasie.“, beendete sie den Satz im selben Moment, in dem sie die Schutzplatte von der Frontseite abgezogen hatte.

Unter der Lautsprechermembran war ein röhrenförmiges Loch im Gehäuse. Sie drehte die Box und aus der Röhre fiel ein kleines Jesuskreuz in ihre Handfläche.

Das ist die Musik Gottes! Die Leute glauben, dass Gott mit Propheten gesprochen hat und dass die Worte in den Heiligen Schriften dieser Erde die von Gott den Propheten ins Ohr geflüsterten Worte sind. Das ist falsch. Das ist Irrsinn. Gottes Stimme ist reine Musik. Diese Töne, das ist Gottes Wort an den Menschen. Das ist Gnade und Erlösung.

Sie drehte das Kreuz in ihrer Hand und flüsterte sowohl anerkennend als auch verbittert: „Wow, seid ihr gut.“

Sie hatte schon seit Ewigkeiten keinen Gedanken mehr an sie gehabt. Und sie hatte davon gesprochen. Zu niemandem.

Komm Mädchen! Hör hin! NICHT ZU-HÖREN! ICH SAGTE HIN-HÖREN! Du musst das WORT GOTTES verstehen! IN DICH AUFSAUGEN! Du musst es ATMEN! ATME!

„Auf der ganzen Welt gibt es Frauen, die Mutter genannt werden.“, sagte Roxxy Foxx laut. „Es gibt Frauen, die sich selbst Mutter nennen.“, und dann sah sie auf, in die Richtung, wo sie die Kamera vermutete. „Aber das heißt noch lange nicht, dass sie auch Mütter sind.“, sie hielt der Stelle das Kreuz entgegen. „Ist das ihr Kreuz? Ist es das echte? Oder einfach irgend eins? Ich hab da nämlich keine Ahnung, wisst ihr. Ich würde das echte nicht von einem x-beliebigen Kreuz unterscheiden können. Sie hat es nämlich nie aus den Händen gelegt. Und sie hätte es mich nie halten lassen.“

Sie hatte immer damit gespielt, es zwischen die Finger gleiten lassen. Und das hatte sie „Beten“ genannt. Sie ließ dieses Kreuz mit seiner Kette und den vielen Perlen durch die Finger rauschen wie Wasser an der Schnur. Und es klickerte dabei und gluckste, als wäre es ein winzig kleines Xylophon oder ein Windspiel.

Roxxy Foxx schloss die Augen. Das Kreuz floss wie von selbst zwischen ihre Finger.

Komm Mädchen, komm her. Setz dich hin!

Sie setzte sich brav aufs Bett.

Hör dir die Musik an! Sie ist Gottes Wort!

Sie lauschte. Und die Musik sprang. Es war gut geschnitten, das musste man ihnen lassen. Wenn man nicht richtig hinhörte, konnte man denken, dass die Musik ewig weiterlief. Aber wenn man genau darauf achtete, dann gab es da diesen einen Versatz und die Passage begann wieder von vorne.

Es ist immer die selbe Passage, die du zu hören bekommst.

Text!

Es gab Text. Aber der war schwer zu verstehen. Es kostete sie drei Durchgänge und die Uhr tickte unbarmherzig auf die Null zu, bis sie verstanden zu haben glaubte, was da gesungen wurde:

Lasst uns ihre Bande zerbrechen
und ihr Joch von uns abwerfen.
Der, welcher im Himmel wohnt,
wird sie verlachen;
denn der Herr wird sie verspotten.

Du sollst sie zerschlagen
mit einem Stab aus Eisen,
du sollst sie in Stücke schlagen
wie eines Töpfers Gefäße.

Sie sah auf die Uhr: dreißig Sekunden. Keine Zeit um das Rätsel zu lösen. Sie war gerade erst einmal dabei das Rätsel überhaupt zu entdecken!

Sie sprang wieder auf und rief: „Jetzt macht mal halblang, ich denke ja schon nach! Verdammt, ich denke nach! Ich soll etwas zerschlagen? Richtig? Mit einem Stab aus Eisen, etwas, das zerbrechen soll wie eine Töpfers Gefäße. Was soll das? Was soll das sein?“

Eisen!

Sie kannte ihr Studio doch eigentlich gut genug, um sofort zu wissen, was hier aus Eisen war, oder?

Ohne lange zu überlegen, stürzte sie zum Schreibtisch und packte den Bürostuhl. Von allen Sachen, die sie damals gekauft hatten, war dieser dämliche Stuhl das billigste gewesen. Und damit meinte sie nicht den Preis sondern die Qualität. Wenn man ihn einmal falsch anpackte, hatte man ihn in drei Teile zerlegt: das Radkreuz, die Sitzfläche und das höhenverstellbare Metallrohr, das die beiden miteinander verband. Sie hatte keine Ahnung, ob es aus Eisen war. Aber im Augenblick war das völlig unwichtig. Sie hatte laut Uhr noch zehn Sekunden und Metall war Metall.

Natürlich war dieses Modell etwas widerstandsfähiger. Sie zerrte und riss an den Einzelteilen des Stuhls, der nichts anderes zu tun hatte, als das Set nach Jugendzimmer aussehen zu lassen.

Der Herr wird sie verspotten!, kreischte ihr der Chor um die Ohren.

Viermal war der Stuhl unter ihr schon zusammenkracht. Einmal unter Ted. Zweimal unter einem Studiogast von Roxxy Foxx. Aber wenn man ihn in Einzelteilen brauchte, war er das stabilste Element im Raum.

Der Motor knurrte. Die Wand fuhr nach oben.

Auch wenn es nicht sein konnte, glaubte sie Ted auf der anderen Seite schreien zu hören.

Vor Wut schrie sie auf und schleuderte den Stuhl durch den Raum. Vielleicht gab es noch etwas anderes aus Metall.

Die Wand war zur Hälfte oben und Ted saß schweißgebadet in seinem Feierabend-Elektroschock-Stuhl. Die weit aufgerissenen Augen verrieten ihr, dass er auch sie sehen konnte.

Roxxy Foxx stürzte zum Fenster und hämmerte dagegen, obwohl die vernünftige Überlebensstimme in ihr wiederholt sagte, dass das nichts bringen würde.

Als die Wand das obere Ende erreicht hatte, kam sie wieder zur Ruhe. Es brachte nichts, zu Ted rüber zu sehen.

„Ihr verdammten Schweine!“, Schreie brachten auch nichts anderes als nur den Hauch von Stressbewältigung.

Sie zwang sich dazu, sich abzuwenden und sich wieder zu konzentrieren.

Versuch’s noch einmal mit dem Stuhl!

Roxxy Foxx ging langsam zu dem umgekippten Stuhl, der eher jämmerlich aussah und überhaupt nicht nach Jugendzimmer, auch wenn auf der Sitzfläche Einhörner aufgedruckt waren.

Langsam kniete sie sich nieder und ignorierte alles, was in ihrem Rücken und jenseits der Glasscheibe ablief.

Sie packte die Stange und die Sitzfläche. Nur eine kleine Drehung und der Stuhl fiel in seine Einzelteile.

„Ich hab die Stange! Eine Sekunde!“, brüllte sie und drehte sich um. Ted wand sich im Stuhl, weil er genau wusste, dass es wieder losgehen würde. Er weinte sogar.

Du sollst sie in Stücke zerschlagen, wie eines Töpfers Gefäß.

Es war keine vernünftige Überlegung mehr. Nur noch ein reiner Reflex. Sie stürzte auf die Scheibe zu und schlug ohne mit der Wimper zu zucken oder ohne ein Geräusch von sich geben darauf ein. Im selben Moment wurde der Schalter umgelegt und Teds Körper spannte sich.

Jetzt schrie Roxxy Foxx. Sie kreischte und schlug noch einmal und noch einmal zu.

Es bringt nichts!, schrie die Stimme zurück.

Wie eines Töpfers Gefäß!

Was ist ein Töpfers Gefäß?

Was macht ein Töpfer? Töpfe! Es gibt keine verdammten Töpfe in diesem Studio. Ok, dann anders: Woraus macht er die Töpfe?

Aus Ton!

Ton!

Sie stürzte wieder zurück und schlug noch einmal zu, diesmal nicht mehr auf die Scheibe, diesmal auf ihr Bett.

Besser gesagt: diesmal auf die Lautsprecherbox. Die Stange zerschmetterte das schwarze Holz und die Splitter flogen in alle Richtungen.

Der Motor sprang wieder an.

„NEIN!“, brüllte sie. Wie ein Furie stürzte sie zurück. Sie erwartete zu sehen, dass Ted bewusstlos oder sogar tot im elektrischen Stuhl sitzen würde und sich die Holzwand langsam wieder senkte. Sie erwartete nicht, dass die Glassscheibe nach oben fuhr. Aber das tat sie. Mit der Stange in der Hand hechtete sie hinüber. Sie rutschte durch den schmalen Spalt in diesen schwarzen Betonraum mit dem widerlichen Gestank von gegrilltem Fleisch. Sie stürzte zu Ted und riss an den Gurten, die ihn festbanden. Sie schleuderte die Kopfbedeckung von ihm und löste den Gurt, der ihm um den Brustkorb gesurrt war. Als er ihr entgegenfiel, fing sie ihn auf und trug ihn zum Bett zurück. Sie küsste ihn, berührte ihn, tastete nach den vom Strom verbrannten Stellen auf seiner Haut. Sie schrie abwechselnd seinen Namen und verfluchte die Showrunner.

„Ich hab es gelöst!“, brüllte sie. „Ich habe euer verdammtes Spiel gelöst! Es war ein dämliches Rätsel – reines Glück – aber ich hab es gelöst! Ihr verfluchten -“, sie brach ab.

Die Wand war wieder aus Holz.

Das Licht veränderte sich, es wurde grün.

Eine Diskokugel wurde langsam nach unten gelassen.

Das nächste Lied war ABBA.

Der nächste Countdown begann bei 20.

Roxxy Foxx starrte von der Bettkante zu dem Countdown hinüber ohne etwas sagen, denken oder fühlen zu können.

Ein widerwärtiges Schluchzen drohte sich Bahn zu brechen. Alles in ihr drohte zu zerbrechen.

„Ich hasse diesen Song.“, krächzte Ted auf einmal. „Ich wusste, dass du mich retten würdest.“

Erleichtert stürzte sie ihm entgegen und drückte seinen Kopf fest an sich heran. Jetzt weinte sie, wenn auch kaum hörbar. Und schließlich sagte sie: „Das sind keine Showrunner, das sind Psychopathen. Du hast dich geirrt. Du hast dich damals in allem geirrt. Das ist keine Show, Ted! Die meinen es ernst!“

Er sagte nichts, hielt sie auch einfach nur fest.

Das, was einmal ihr strahlender Ritter gewesen war, hing jetzt auch nur wie ein zerbrechlicher Mensch in ihren Armen.

„Was hast du damit gemeint?“, flüsterte sie in sein Ohr. „Dass du diesen Song hasst.“

„Schlechte Erinnerungen.“, flüsterte er zurück.

 

*

 

„Schlechte Erinnerungen.“, so hieß die zweite Episode vom Roxxy Foxx Special.

Alles Live.

Unten links gibt es einen Button, wo du voten kannst, ob es danach weiter gehen soll, oder ob nach dem nächsten Rätsel im Escape Room Schluss ist.

Die TwistedMindzz – so heißen sie – versprechen genug Stoff für zehn Jahre.

Es gibt Berichterstattungen. Es gibt das Rätselraten, was Show ist und was echt.

Es gibt das Wort Mindfuck für diese Art von diffusem Spiel.

Und es gibt neue Quoten für Roxxy Foxx. Das Management schließt neue Verträge ab mit neuen Sponsoren. Alte Clips werden wieder aufgelegt.

„Muss Show sein.“, sagte Leo zu seiner Freundin. „Auf Roxxy Foxx Seite ist schon für Ende der Woche eine neue Episode angekündigt. Wie will die das machen, wenn sie jetzt live in diesem Labyrinth läuft.“

„Ist vielleicht aufgezeichnet?“, vermutet sie, trinkt einen Schluck Bier und sieht zu, wie sexy Roxxy Foxx im gewohnt anrüchigen schwarzen Push Up mit diesem Ted, der ihr offensichtlich wichtig ist, sich durch ihr eigenes Studio tastet.

„In der Matratze!“, ruft Leo und bewirft den Monitor unterhalten mit Popcorn. „Da kommen die nie drauf.“, gluckst er.

„Dann kommt die Strafe!“, freut sie sich.

„Haben ja noch zwei Minuten.“, beruhigt Leo. „Wird wieder so knapp wie beim letzten Mal, sonst ist es nicht spannend.“

„Oder es geht diesmal schief. Kann auch sein.“

„Yeah.“, sagt er.

„Shh.“, macht sie.

„Shh.“, macht sie, Roxxy Foxx, zu Ted. „Ich muss mich konzentrieren!“

„Hol uns hier raus.“, wimmert Ted. „Hol uns verdammt noch mal hier raus, Roxxy!“

One thought on “Roxxy Foxx (3/3)

  1. Pingback: Roxxy Foxx (2/3) | Odeon

Was sagt ihr dazu?