Schreibschrift? Wie, es gibt mehrere Schriftarten beim Schreiben?

 

Wir leben in einer Druckschriftwelt.

Von Colaflaschenetiketten einmal abgesehen begegnen uns überall nur Druckschriften. Auf Eierpackungen, Wasserflaschen, T-Shirts, im Fernseher, auf dem Tablett, Verkehrsschilder, Briefe, Autokennzeichnen, … begeben wir uns in die Kinderperspektive. Wo begegnet dem Kind eine Schreibschrift?

Ich erinnere mich, als ich als kleines Kind meine Großmutter beim Schreiben beobachtete und fasziniert von ihrer langsam geführten und sehr ordentlichen Handschrift war. Ich fragte mich, warum sie sich wohl so viel Mühe gab, einen einfachen Einkaufszettel zu schreiben. Ich bewunderte diesen Augenblick als einen aus der Zeit gefallenen Augenblick. Denn in dieser Zeit, in der sie ganz langsam und sorgsam diesen banalen Einkaufszettel geradezu malte, spielte nichts als die Aneinanderreihung von Buchstaben eine Rolle. Ich erinnere mich, dass ich es nicht für zeitverschwenderisch hielt oder gar für umständlich. Ich hielt diese geschwungenen Linien für magisch. Denn obwohl ich das Alphabet schon kannte – ich war noch nicht in der Schule, aber ich hatte eine aufrecht stehende Kindertafel, zu deren Boden eine rote Fläche mit großem weißen Alphabet angebracht war – obwohl ich alle Buchstaben also schon kannte und sogar schon mit krakeligen Linien selbst schreiben konnte, auf dem von meiner Großmutter beschrifteten Zettel war nichts, was mir bekannt vorkam. Die geschwungenen Linien, die miteinander verbundenen Schnörkel, die Wellen und die Schleifchen, alle brav in ordentlichen Linien aufgereiht wie Perlen an einer Schnur, für mich vollkommen fremdartig und wunder-, wunderschön.

„Druckschrift ist Erstschrift, und Schreibschrift ist Zweitschrift. Man könnte auch sagen: Druckschrift ist die Muttersprache, und Schreibschrift ist die Fremdsprache.“ (S. 92), so beginnen Brüning und Clauss ihre Ausführungen über die Unterschiede dieser beiden Schriftarten.

Wenn Kinder zu schreiben beginnen, dann meist in zweierlei Art: zuerst in Form von Krakellinien, die in gewisser Weise auch heute noch überraschend nah an die Verbundschrift erinnern. Anschließend durch das Krakeln von Druckbuchstaben, womit sie die ersten Erfolgserlebnisse gewinnen, wenn sie sie Erwachsenen zeigen. Die Kinder beginnen mit dem „Erfinden“ der Schrift aber auch Automatismen zu entwickeln. Sie sehen das Ergebnis vor ihren Augen und überlegen, wie sie diese Buchstaben schreiben könnten. Es gibt tausende von Möglichkeiten – auch bei Druckbuchstaben! – wie man die Druckbuchstaben zusammensetzen könnte. Kreise werden gekringelt, oft unten beginnend und mehrfach gerollt. Einzelelemente werden lose nebeneinander gereiht, also der Buchstabe wird nicht in einem Zug geschrieben. Senkrechte Linien können von oben nach unten oder von unten nach oben gezogen werden. In einigen Fällen könnte es zu nicht ökonomischen Linienverdoppelungen kommen (z.B beim ‚E’). Buchstaben wie beim ‚b’ können vom losen Ende her entwickelt werden oder vom Kreis. Es gibt so viele Möglichkeiten und wenn von einer ‚richtigen’ Schreibweise die Rede ist, dann ist von einer Schreibweise die Rede, die sich aus zahlreichen Gründen als sinnvoll erwiesen hat. Ja, tatsächlich: es gibt eine richtige Schreibweise – besser: Schreibführung – von Buchstaben.

Es mag viele irritieren, wenn man das schreibt. Gerade Jugendliche, die mit fehlgeführten reformpädagogischen Ansätzen das Schreiben selbst erfunden haben, mag das irritieren. Ist es nicht gleichgültig, wie man z.B. ein kleines ‚e’ aufs Papier bringt? Ist der Winkel nicht egal? Ist es nicht völlig irrelevant, wo man den Stift ansetzt und wo er mit dem Buchstaben abschließt?

Gerade beim kleinen ‚e’ zeigt sich, dass es nicht irrelevant ist.

Gewöhnlich werden Druckbuchstaben von oben nach unten geschrieben. Dabei gibt es den Effekt, dass man bei fast allen Buchstaben an der höchsten Stelle beginnt, nicht aber bei dem kleinen ‚e’. Will man dieses richtig positionieren und will man es ökonomisch, ohne Zeit- und Energieverlust schreiben, dann beginnt man in der Mitte.

Kinder, die ohne Hilfslinien und antrainierte Linienführung sich selbst Schreibautomatismen beibringen, tendieren dazu, dass das ‚e’ vollkommen zu hoch rutscht. Und je nachdem, welche Buchstaben zuvor im Wort zu schreiben sind, eine gerade was das ‚e’ angeht, unsäglich unregelmäßige Schrift erzielen.

Buchstaben schreiben ist etwas anderes als Buchstaben abmalen. Viele Handschriften hüpfen und springen, orientieren sich an keiner Linie und die Unlesbarkeit nimmt frappierend zu, wenn Worte geschrieben werden, die nicht muttersprachlich sind.

Das Buch von Brüning und Clauss ist sehr emotional geschrieben und die Argumente nicht so klar und deutlich hervorgebracht wie in pädagogischen Werken. Es handelt sich um ein Buch, das emotional überzeugen will und vor allem Beispiele aneinanderreiht. Deswegen empfehle ich nicht unbedingt zum Kauf. Aber es lohnt, einen Blick hineinzuwerfen und sich die Schriftproben, die darin zu finden sind, anzusehen. Zumindest, wenn man nicht selbst von Berufs wegen mit diesen Beispielen konfrontiert ist.

„Die Druckschrift“, schreiben die Autoren, „ist zwar leicht zu lesen, aber keineswegs leicht zu schreiben. Sie bewegt sich von oben auf die Schreiblinie zu und erfordert schon beim Ansetzen der Einzelbuchstaben eine hohe Präzision.“, Die ist erforderlich, weil man im Kopf eigentlich sich drei Hilfslinien vorstellen muss. „Die gleichgeschalteten Bewegungsrichtungen der Druckschrift – von oben nach unten und von rechts nach links – stehen teilweise im Gegensatz zur kindlichen Formfindung. Die losen Enden der Druckschrift stellen Gefahrenquellen dar, weil sie Kindern viele Möglichkeiten bieten, Buchstaben falsch zu schreiben und falsch zu automatisieren. Deshalb brauchen sie unbedingt exakte Anleitung und gezielte Übung beim Druckschriftlernen.“ (S. 86)

Schreibschrift dagegen sieht völlig anders aus. Überraschenderweise ist die Linienführung hier von unten nach oben und von links nach rechts. Die Bewegungsrichtung der Schreibschrift ist vollkommen anders zu führen, als die Druckschrift. Das bedeutet ein vollständiges ‚Umlernen’ von einem Schreibautomatismus zu einem anderen. Und Umlernen, so behaupten die Autoren, und Eingriffe in automatisierte Prozesse, seien um ein Vielfaches schwieriger als ein Neulernen. Da das fragile System der erworbenen Schrift aufgebrochen werden muss und neu strukturiert, ist es zweifelsohne so, dass Grundschullehrer an dieser Stelle vor Schülern stehen, die mit ersten schulische Frusterfahrungen konfrontiert werden.

Die Lösung des Bildungssystems deutet auf eine Abschaffung der Schreibschrift hin. Das erinnert an einen Passus von Brügelmann und Brinkmann. Dort wurde ebenfalls davon gesprochen, dass es diesen Weg gibt, Hürden erst einmal aus dem Weg zu räumen, damit man Grundlagen schaffen kann.

Genau diese Hürde wird nun aus dem Weg geschafft. Und man hat so viele Argumente: Man möchte Kinder nicht frustrieren. Die Kinder können ja bereits schreiben, warum also noch die zusätzliche, unnötige Schreibschrift lernen? Gerade lernschwächere Schüler oder diejenigen mit Entwicklungsverzögerungen sind überfordert. Und zu guter letzt: es kostet Zeit, die Lehrer heutzutage nicht mehr haben. Denn die Lehrpläne sind ohnehin zu voll. Und wäre es nicht ohnehin sinnvoller, statt eine Zweitschrift umständlich anzutrainieren, sich um Rechtschreibung zu bemühen? Wenn gejammert wird über schlechte Handschriften und über Rechtschreibung, dann ist der zweite Punkt doch der wichtigere, oder etwa nicht?

Der letzte Punkt wird dann noch gravierender: Hat man ja mit einer Methode gerade die Druckschrift ‚erfolgreich’ selbst erfunden, wieso sollte man dann nicht mit der selben Methode die Schreibschrift selbst erfinden lassen? Und jetzt wird die Sache offenbar katastrophal.

In den Köpfen steckt felsenfest die Vorstellung, dass Buchstaben abgemalt werden. Dass es gleichgültig ist, wie man sie schreibt. Aber Schrift funktioniert so nicht. Und so lesen funktioniert so auch nicht.

Jeder Schüler erfindet sich selbst sein eigenes Werkzeug. Und am Ende exisitert in der Welt der Ideen ein richtig gut funktionierendes Werkzeug, leider aber nur als Idee.

Das Wort ‚Schönschrift’ leitet in die Irre. Wir denken, hier ginge es um reine Ästhetik. Manieristisches Beiwerk.

Aber die Buchstaben werden automatisiert niedergeschrieben und erlauben uns Zeit zum Denken. Gedanken werden fließend aufs Papier gebracht oder durch die Schrift dauergebremst. Wer jedes Mal neu überlegen muss, ob er jetzt ein ‚e’ oder ein ‚l’ geschrieben hat, wenn er seine eigenen Texte überliest, der kommt auch beim Lernen und Wiederholen der eigenen Notizen in Ödland der Frustration.

Beenden wir das Kapitel mit einer Hausaufgabe: suchen Sie einen Schüler – am besten aus der Jahrgangsstufe 7 – und fragen Sie ihn, wie gut es ihm gelingt, mit Hilfe seiner eigenen Notizen zu lernen.

Ich wette: die wenigsten lernen mit ihren eigenen Notizen effektiv.

Woran liegt das? Liegt es wirklich an der Schrift?

Was sagt ihr dazu?