Sturmzeit (10) – Ende –

 

„Ich bin bereit!“, sagte Drafi ein paar Mal. Klatschnass gingen sie durch den Sturzregen in Richtung Marktplatz. Damit waren sie die einzigen. Alle anderen kamen ihnen entgegen.

„Der Markt ist geschlossen. Ist keine Marktzeit. Ist Sturmzeit!“, rief ihnen jemand zu.

Drafi brüllte ihn an. Es war ein wortloses Schreien, aus tiefster Seele, unter dem der Andere zusammenzuckte und hastig das Weite suchte.

„Drafi!“, rief Quinn ihm zu. Aber er ignorierte sie weiterhin. „Was tust du? Was hast du vor?“

Und dann kamen sie an das Schild, das Quinn nur zu gut kannte und obwohl sie es hätte erwarten müssen, schockierte der Anblick sie doch noch einmal.

Es sah nämlich noch schlimmer aus als beim letzten Mal: Die Ränder der bestanzten Metallplatte waren rostzerfressen, die weiße Oberflächenlegierung an vielen Stellen aufgeplatzt. Wo die Farbe fehlte, half immerhin noch die Prägung, den Schriftzug zu entziffern: Nicht vom Beckenrand spring… Der Rest fehlte ganz. Als ob es jemand abgerissen hätte.

Dieses grüne Zeug klebte daran, war aber jetzt fest geworden, wie getrockneter Harz, der an den Fingern leicht klebte.

Quinn sah, wie Drafi sich auf dem Marktplatz einem großen Brunnen näherte. Er stapfte durch die Pfützen, während der Regen hinter ihm mit einem Schlag kräftiger wurde. Wie ein Vorhang aus Wasser. Er schlitterte, aber es war Quinn, die den Halt auf dem Boden verlor, als sie ihm folgen wollte. Ihre Knie fühlten sich weich an und die Kraft wich ihr erst aus den Fingern und dann langsam über die Handrücken zu den Schultern hinauf.

„Was hast du vor?“, sie versuchte es zu schreien. Aber die Stimme war nicht mehr kräftig genug.

„Erinnert dich das an etwas, Brudi?“, es klang, als würde Josy direkt hinter ihr stehen. „Jetzt weißt du auch wie es sich anfühlt. Die Kraft verlieren und zusammensacken.“

Quinn erinnerte sich an das Gefühl der Hilflosigkeit, das sie beim ersten Mal empfunden hatte als Josy im Nebel nicht mehr weiter konnte. Es hatte Quinn hinter Steven her getrieben und später hinter Drafi. Vielleicht hatte sie beim ersten Mal schon gespürt, dass eine tödliche Gefahr in der Luft lag. Und vielleicht hatte sie damals Steven sogar wirklich noch retten wollen.

Aber du hast es ja eigentlich nicht mal versucht, oder?

Quinn schloss die Augen und spürte, wie der Regen ihr den Körper in Sekunden bis zur Taubheit auskühlte.

Natürlich hab ich es versucht! Was denkst du denn?

No men left behind? Josys Stimme klang verachtend vor Spott. Verarsch mich nicht. Was hast du getan, um ihn zu retten?

Du hast selbst gesagt, dass wir ihn liegen lassen sollten. Du warst erleichtert als er tot war, Josy! Du warst erleichtert!

Darum geht es nicht, Brudi. Es geht darum, dass du uns anlügst. Mich, Jeanny und sogar dich selbst, Quinn.

Sei still!

Es war so unfair, so unfassbar unfair. Egal wer zusammengebrochen war, es war immer Quinn gewesen, die sich um die Freundinnen gekümmert hatte. Sie hatte alles getan für ihre Freundinnen, oder etwa nicht? Sie war für Josy da gewesen, als Steven gestorben war. Sie war für Jeanny da gewesen. Und ganz ehrlich? Nicht zum ersten Mal!

Sie war es doch gewesen, die Jeanny immer aufgebaut hatte, ihr den Rücken gestärkt hatte. Jeanny, die doch so ganz anders war als Josy. Der man die Hand halten und der man immer wieder gut zureden musste. Quinn selbst war es doch gewesen, die Jeanny bis zum Erbrechen vorgekaut hatte, dass alles immer wieder gut werden würde. Sie hatte nicht einfach nur zugehört, sie hatte nicht einfach nur geurteilt und sich um ihren eigenen Kram gekümmert. Sondern sie hatte getröstet. Hatte ihr in den harten Nächten ein Bett angeboten, wo sie unterkommen konnte, wenn Gerri sich überhaupt nicht mehr im Griff hatte. Sie hatte die kleinen Trips geplant, bei der sich die drei Freundinnen ablenken konnten. Sie hatte Kuchen gebacken, hatte Filme ausgeliehen, hat Medikamente organisiert und Wunden verbunden.

Geleckt, korrigierte Josy ihre Gedanken. Du hast immer brav all unsere Wunden geleckt, Brudi.

Ich hab uns drei überhaupt erst zusammengeführt, Josy! Erinnerst du dich? Ich hab dich und Jeanny zusammengebracht. Wenn ich nicht gewesen wäre, dann wärt ihr allein gewesen!

Immer brav die Wunden geleckt, Quinn! Immer ein offenes Ohr und uns reingelassen. Du hast uns von deiner Scheiße erzählt und wir dir von unserer. Hier sieh mal, –

Quinn schlug mühsam die Augen auf. Im Regen über ihr stand jemand, der verteufelt ähnlich aussah wie ihre geliebte Josy. Sie kniete sich zu Quinn herab und krempelte ihren Ärmel nach oben. „Siehst du das? Die hat mir Steven beigefügt.“, sagte das Ding, das so aussah wie Josy.

Aber es war ja nicht Josy, nicht wahr? Dafür hatte Drafi mal wieder gesorgt. Er hatte Josy und Jeanny von Quinn getrennt. Er hatte das Rudel gesprengt.

„Wer bist du?“, keuchte sie. Sie quälte die Augen ein Stück weiter auf und da war nur eine massive Wand aus Regen, die sich um den Körper schmiegte, von dem sie gedacht hatte, dass es ihre Josy, ihr Brudi, sein musste.

Wenn es nur nicht so verdammt kalt wäre, dachte sie.

Josy lachte. Es war ein Auslachen der fiesen Art. Eins, das unter die Haut ging und von dort über jeden einzelnen Nervenstrang bis zum Herz hinein einen giftigen Schmerz aussandte.

„Und das hat mir Gerri angetan.“

Jeanny? Konnte das Jeanny sein? Hatten sie sich gerettet?

Diesmal sah Quinn, wie sich die Gestalt aus dem Regen schälte. Es war als wölbe sich der Regen, seine schmalen Streifen schmiegten sich vor Quinns Augen wie von selbst über einen Flecken in der Luft, der dadurch täuschend echt wie ein Mensch aussah, wie Jeanny. Aber da war niemand unter dem Regen. Da war kein echtes Gesicht, das nass wurde, keine echten Schultern, die der Regen tränkte. Kein Körper und doch ein Körper.

Das Ding, das vorgab Jeanny zu sein, zeigte ihre Arme.

„Willst du uns deine Wunden zeigen?“, fragte das Jeanny-Ding.

„Willst du unsere Wunden lecken?“

Quinn begann zu kreischen. Sie riss die Arme vor ihr Gesicht und rückte mit größtmöglicher Anstrengung von den beiden fort. Sie robbte rücklings über den Boden. Nur weg. Für einen Augenblick wusste sie nicht mehr, wer oder was schlimmer war: Drafi oder diese Dinger, die sich von ihren Knien erhoben und ihr folgten.

„Drafi!“, schrie Quinn, als ob es jemals eine Hoffnung in ihr gegeben hätte, dass Drafi ein Mann war, der sie beschützen konnte.

„Ha!“, machte Josy und zeigte mit dem Finger auf Quinn. „Ich wusste es.“

Jeanny stand auf und wich vor Quinn zurück.

„Du Heuchlerin.“, zischte Josy.

„Nein!“, schrie Quinn. Es war unerträglich kalt geworden. Selbst die Luft in den Lungen gefror ihr zu Eis.

„Was wollt ihr von mir?“, weinte sie.

„Dass du es zugibst, Quinn.“, sagte das Ding, das Josy war.

Jeanny hielt jetzt beide Arme vorgestreckt: „Hast du Gerri retten wollen, Quinn?“

„Und Steven?“, fragte Josy.

Beide: „Und jetzt Drafi?“

Schon war Drafi da. Er tauchte hinter den beiden Dingern auf, als ob er sie nicht gesehen hätte, trat er durch sie hindurch, dass das Wasser in alle Richtungen aufspritzte und Quinn vor Panik und Ekel schrie und sich das ihr ins Gesicht spritzende Wasser aus dem Gesicht zu wischen versuchte.

Sie zappelte und wand sich unter Drafis Griff, der sie nur auf die Beine zu heben versuchte. Er schlug ihr ins Gesicht, dass sie endlich still sein sollte. Aber sie war nicht zu beruhigen. Sie trat nach ihm, schlug ihn, kratzte, biss in die Luft. Er zerrte sie hinüber zum Brunnen, bis er stolperte und mit ihr gemeinsam auf dem Boden landete.

Es fühlte sich an, als ob sie gemeinsam ins Wasser fielen – Nicht über den Beckenrand springen!

Das Wasser flutete über sie hinweg. Instinktiv hielt sie den Atem an. Aber sie schluckte trotzdem ganz viel. Es schmeckte brannte wie Chlor in ihrer Kehle und in ihren Nebenhöhlen. Das Ätzende brannte sich in Sekunden bis in die Stirn hinauf.

Drafi fluchte, schrie und versuchte sie von sich abzuwälzen. Aber auf einmal war alles nicht mehr so einfach. Die Gesetze der Schwerkraft wirken unter Wasser anders.

Josy packte Quinn an den Schultern und drückte sie auf Drafi hinab.

„Du bist kein Feigling, Quinn. Du bist schlimmer. Du bist die elendste Art eines Feiglings, die es auf dieser Welt gibt. Du bist ein Opfer!“

Das Wort rammte sich in Quinns Brust, wo es brannte wie Feuer.

Ich war immer für euch da!, wimmerte es in ihr zur Antwort.

Dann sei jetzt auch mal für dich selbst da!

Und auf einmal war alles still.

 

No men left behind.

Ihr Vater warf seinen Körper über den Beifahrersitz und schlug die Beifahrertür zu. Im nächsten Augenblick raste er schon wieder davon. Quinn sprang von ihrem Sitz auf, um zurück zu sehen. Ihre Mutter stand am Straßenrand der Autobahnraststätte mit herabhängenden Schultern und den Haaren, die ihr bei dem strömenden Regen im Gesicht klebten.

„Setz dich hin!“, blaffte es von vorne. „Schnall dich an!“ Immer kurze, kantige Sätze. Immer Eindeutigkeit. Wenn du weißt, was du tun sollst, kannst du ihn nicht enttäuschen.

No men left behind.

Es war furchtbar, ihrer Mutter beim Kleinerwerden zuzusehen, während das Auto auf die Autobahn zurückfuhr.

Sie wimmerte: „Mama.“, als ob sie nicht genau wusste, dass er sie absichtlich zurückgelassen hatte.

Er machte oft solche Sachen, die er hinterher „Lektionen“ nannte.

Meistens erklärte er nicht, was hinter den Lektionen steckte. Es war einfach so. So wie Erwachsene Kinder erziehen, so erzieht er eben auch seine Frau. Einfach so. Weil es immer so war und immer so sein wird.

Es gibt keinen Grund, sich zu rechtfertigen, keinen Grund darüber zu reden. Denn es war ja eine Lektion für ihre Mutter und nicht für sie.

Ihr Vater steckte sich im Zigarettenanzünder mit zittrigen Händen einen Glimmstängel an. Er hielt die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger. Und der Daumen spielte immer mit dem Ende des Filters. Selbst wenn er die Zigarette im Mund stecken hatte, musste er sie zwischen den Lippen drehen. Immer hin und her. Wie ein nervöses Uhrwerk.

Während er die Lektionen ausübte, redete er mit Quinn ganz normal. Fast zärtlich und leise, wie sie fand. Als ob er gerne hätte, dass sie ihn in der Zeit der Lektionen noch lieber und netter fand.

Er sperrte die Mutter zum Beispiel im Keller ein und während sie von innen an die Tür hämmerte, stand er am Herd, kochte Spiegeleier und fragte Quinn danach, was ihre Lieblingsserie im Fernsehen war. Oder er erklärte ihr das perfekte Rezept für einen Rollbraten, während sie beide eigentlich genau wussten, dass die Mutter gerade im Wohnzimmer sich den Bauch vor Schmerzen hielt. Es war, als ob es zwei verschiedene Welten gäbe. Eine Welt der Normalität und eine Welt der Lektionen.

In der Welt der Lektionen konnte ihr Vater sogar nett aussehen. Er konnte sogar lächeln.

Aber er rauchte dann auch. Und der Rauch, der sich im Auto ausbreitete, raubte Quinn den Atem.

„Wo würdest du mal gern hinfahren?“, fragte er diesmal. „In einen Vergnügungspark?“

Sie starrte nach vorne auf das rote Leuchten des Anzünders, das langsam erlosch.

„Alle wollen in einen Vergnügungspark, hab ich Recht? Auf die Achterbahnen. Für das Kribbeln zwischen Brust und Bauch. Oder die Wasserbahnen. Erinnerst du dich noch, wie wir vor ein paar Jahren zusammen in diesem Zwergenland waren? Mit der Sommerbobbahn und dieser Wasserbahn, diese … wie heißen sie noch?“, er zog kräftig an der Zigarette und stieß den Rauch aus geblähten Wangen aus. „Ich weiß nicht mehr.“

Quinn wusste es: Die Eichenfässer, hieß es. Aber sie sagte es ihm nicht. Das Lichtspirale war fast erloschen.

„Ich hab als Kind nie einen Vergnügungspark besucht, wusstest du das?“

Er sah sie durch den Rückspiegel an. Sie schüttelte den Kopf.

Manche Lektionen dauerten länger als andere. Aber es war nie klar, wie lange eine Lektion wirklich brauchte, um zu zünden. Wenn es wenigstens daran gelegen hätte, dass ihre Mutter nur etwas zu verstehen brauchte. Aber so war es ja nicht. Die Lektionen hingen nämlich nie von ihr ab. Sie lagen an ihm.

Er entschied, wann sie etwas zu lernen hatte und wann sie es gelernt hatte.

Und wenn sie jetzt in einen Vergnügungspark fuhren … wie lange würden sie ihre Mutter dort stehen lassen? Würde sie überhaupt noch da stehen.

Quinn wandte den Blick endlich von dem erloschenen Anzünder ab und blickte nach draußen. Weil es keinen Sinn hatte, darüber nachzudenken, was man bei einer Lektion lernen sollte, stellte sich Quinn eine andere Frage: Nämlich die, was man dabei lernte.

„Ich würde abhauen.“, sagte sie.

„Was sagst du da?“

„Wenn ich Mama wäre. Ich würde abhauen. Warum sollte sie noch da stehen, wenn du zurückfährst?“

„Wer sagt dir, dass ich zurück fahre?“

Tränen fluteten ihre Augen.

„Natürlich fahr ich zurück.“

„Warum?“

„No men left behind, Schatz. Man lässt niemanden zurück, der zum Rudel gehört.“

„Du hast sie zurück gelassen. Ich würde abhauen.“

„Du hast keine Ahnung, Queeny.“

Drafi würde sie auch so nennen.

„Du bist so dumm wie sie.“, er sagte es vollkommen ohne Verbitterung, ohne Reue, ohne überhaupt irgend eine Spur von Gefühl. „Sind die Gene. Keine Ahnung haben. Aber mitreden. Immer schön mitreden.“

Dann drehte er den Kopf zu ihr und schielte ihr ins Gesicht.

„Willst du ihre Wunden lecken? Ihr beistehen? Immer brav für sie da sein, die arme, unschuldige Mama?“, dann hustete er trocken und zog röchelnd wieder ganz viel Rauch in die Lungen ein. Es klang, als ob der Rauch in ihm zur Flüssigkeit wurde. Als ob er am Rauch ertrinken würde.

„Merk dir, nur weil sie deine Mama ist, ist sie noch lange nicht unschuldig.“

„Fährst du zurück?“

„Klar.“, aber er machte keine Anstalten dazu. Sie fuhren an der nächsten Ausfahrt vorbei und sie dachte, dass das doch ein perfekter Augenblick gewesen wäre, um die Richtung zu ändern. Man musste nur abbiegen, soviel begriff sie schon. Abbiegen und von der anderen Seite wieder auf die Autobahn drauf. Dann zurück und auf den Rastplatz und hoffen, dass sie noch da war. Dass sie sich untergestellt hatte unter dem Dach des Toilettenhäuschens, obwohl es dort stank wie im tiefsten Loch. Und dass sie sich trocken und warm hielt.

„Es ist Mama.“, sagte sie schließlich.

„Sie ist Familie.“, bestätigte er. „Und ich lieb sie. Ich würd sie doch nie irgendwo zurücklassen, Queeny. Ich lieb sie wie nur was. Sogar noch mehr als dich. Und dich würd ich auch nicht einfach rauswerfen.“

Sie fuhren noch lange. Es flogen einige Ausfahrten an ihnen vorbei, bis er endlich eine nahm und auf der anderen Seite zurückfuhr.

„Ich versteh es nicht.“, weinte sie. Erst jetzt, als sie sprach, bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit hemmungslos geweint hatte. Und er merkte es auch.

„Du wirst es verstehen, wenn du selbst einmal verheiratet bist.“, sagte er. „So ist nämlich Liebe. Du kehrst immer wieder zu dem zurück, den du liebst. Auch wenn er die größte Enttäuschung der Erde ist. Ich kehr immer zu deiner Mama zurück, Queeny. Egal, was sie tut. No men left behind. Wenn du zum Rudel gehörst, dann ist das Rudel auch für dich da. Man muss immer aufeinander aufpassen. Auch wenn es weh tut.“

Quinns Mutter stand tatsächlich noch da. Sie hatte keinen Unterschlupf gesucht. Nur die dünne Polyesterweste hatte sie sich enger um die Schultern gezogen. Ihr ganzer Körper war vollgesogen mit Nässe und Kälte.

„So lass ich dich nicht auf den Beifahrersitz.“, sagte er. Und dann befahl er Quinn, die Tür hinten zu öffnen.

„Steig schon zu ihr ein. Hast ihr einen riesen Schrecken eingejagt. Hat ganz schön geweint um dich. Und gezittert.“

Sie setzte sich neben Quinn und nahm sie in den Arm. Es war keine tröstende Umarmung sondern eine Trostsuchende.

Auch wenn auf dem Rest der Fahrt nichts mehr geredet wurde, auch wenn Quinn ihren Kopf in ihren Schoß legte und dabei langsam einschlief. Auch wenn die Dunkelheit über das Auto floss und die Nacht die ganze Welt zu verschlingen schien, Quinn saugte aus dem frierenden Leib ihrer Mutter alle Kraft und allen Trost und saugte ihn so tief in ihr Herz hinein, dass die Mutter davon krank wurde.

Quinn saugte ihr mit dem Trost und der Liebe und der Angst und der Hoffnung das ganze bisschen Leben aus, das in ihrem kleinen, schmächtigen Mutterkörper überhaupt noch Platz gefunden hatte.

Eine nasskalte Hand strich Quinn die Haare aus dem Gesicht.

„Du verwechselst alles.“, flüsterte ihre Mutter ihr in den Eingang zum Schlaf hinterher. „Du verwechselst Liebe, du verwechselst Helfen und du verwechselst sogar Schuld.“

„Ich versteh dich nicht, Mama.“, murmelte Quinn.

Sie spürte wie sich ihre Mutter über sie beugte und wie die eiskalten Lippen sich an ihr Ohr beugten und die Tropfen von den Haarspitzen ihr perlenklein auf die Nase fielen, dass es unangenehm kitzelte.

„Du bist nicht schuld“, flüsterte sie. „Nicht an meinem Tod. Nur an deinem eigenen, Brudi. Steh auf!“

Quinn riss die Augen auf und starrte in das Ding, das so tat, als wäre es Josy. Sie sah wie der vom Regen definierte Körper zerplatzte und dann sah sie den Fuß, der durch das Wasser durchtrat, Sekunden bevor er Quinn mit voller Wucht traf.

 

Quinn wurde so fest von Drafi getroffen, dass sie zurück Seite rollte.

Ihr Schrei war kaum noch hörbar. Da war absolut keine Kraft mehr in ihr, die hätte schreien können.

Quinn rollte ein paar Mal zur Seite und kam endlich am Fuß des Brunnens zur Ruhe. Drafi stand nur ein paar Meter entfernt. Er sah furchtbar aus und atmete so schwer, als habe er einen langen Kampf hinter sich.

„Gibst du endlich Ruhe?“, knurrte er sie an.

Quinn nutzte die kurze Verschnaufpause, um wieder auf die Beine zu kommen.

Sie sah klar. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten hatte sie wirklich das Gefühl, wieder klar sehen zu können.

„Du bist ein Dreckschwein.“, sagte sie zu Drafi.

„Was sagst du da?“

„Ich hab es sogar von Anfang an gewusst.“, gestand sie. „Ich hab gewusst, was für ein Mensch du bist. Weil du gar nicht so gut darin bist, dich zu verstecken. Du bist immer genau das, was du bist. Kein Verstellen. Kein Spielen. Und soll ich dir was sagen: Es ist mir vollkommen egal, warum. Es ist mir egal, ob dein Vater, deine Mutter, dein Onkel oder die ganze Welt dich zu dem gemacht hat, was du bist. Es ist mir egal, hörst du?“

„Dann ist ja gut.“, meinte er.

Sie ließ es zu, dass er bis zu ihr herantrat. Sie ließ es sogar zu, dass er sie wieder anfasste. Aber sie ließ es nicht zu, dass er ihr wieder weh tat.

Es war nur ein Stoß, aber er kam überraschend genug, dass Drafi davon zurückprallte.

„Du wagst es nicht.“, sagte er.

Und dann war da wieder die Geschwindigkeit. Seine Hand schnellte vor, packte sie an der Kehle und diesmal hielt er sie so weit von sich, dass all ihr Wehren ihr nichts mehr brachte.

„Weißt du, was man im Mittelalter mit aufsässigen Frauen gemacht hat?“, er hob sie spielend leicht hoch und hievte sie auf den Brunnenrand.

„Man hat sie eingemauert.“

Sie sah sein Grinsen, spürte, dass er sie so weit nach hinten drückte, dass ihr Schwerpunkt weit über dem Brunnenrand war. Und dann spitzte er die Lippen zu einem Kuss …

… und ließ los.

Sie kippte nach hinten in den Brunnen hinein, die tiefe Finsternis. Dabei schlang sie wie von selbst die Hände um seinen Nacken und wunderte sich, wie ruhig sie doch sein konnte. Quinns Sturz zog ihn nah an ihr Gesicht heran, dass für einen kurzen Augenblick nur Drafis gewaltiger Kopf den Regen davon abhielt, ihr Gesicht zu berühren.

Es hatte etwas von einer unheimlich sanften Tanzchoreografie: Er, der sich über sie beugte; sie, die rückwärts sich dem Tod entgegen bog. Dann dieser kurze Augenblick der Schwebe. Ein Brunnenrand, der sich ihr in den Rücken krallte. Drafis Füße schlitterten wieder über die nassen Stufen. Er verlor seinen Halt. Quinn drehte sich, spürte, wie ihr Rücken unter der Bewegung knackte, wie er über sie hinweg und an ihr vorbei in die Tiefe stürzte.

Irgendwie gelang es ihr durch den Schmerz hindurch, sich festzuhalten und nicht hineinzustürzen. Sie stieß sich vom Brunnen zurück, fiel nun wirklich aber sie selbst landete auf der Straße. Und Drafi war fort. Nicht zu sehen und nicht zu hören.

Nur der Regen, der auf den Zeltdächern der Marktstände wie ein böser Applaus klang.

 

Josy fuhr. Jeanny saß auf der Rückbank. Und Quinn hatte die Beine angewinkelt auf dem Armaturenbrett. Sie starrte vom Beifahrersitz aus nach draußen. Auf dieser Fahrt wurde geschwiegen.

Es gibt keine Worte für manche Gefühle, weil Gefühle sich zusammentürmen können, sich addieren können zu einem gewaltigen Berg aus allem Möglichen. Vor allem aus Erinnerungen, Hoffnungen, Ängsten und dem Unverständlichen.

Quinns Stirn fiel irgendwann gegen die Fensterscheibe. Josy, die ein verdammt gutes Gespür dafür hatte, was in Quinn vorgehen könnte, legte beim Fahren ihre Hand auf Quinns Oberschenkel. Und nach ein paar Minuten beugte Jeanny sich vor und legte ihre Hand dazu.

Als Quinns Hand sich zuoberst legte, konnte sie endlich anfangen zu weinen.

Aber sie hätte niemals sagen können, was es für Tränen waren.

Wenn sie Glück hatte, waren es die Art von Tränen, die die Schmerzen, die man ein ganzes Leben lang ansammelt, aus der Seele spülen.

Mit etwas Glück waren es die letzten Tränen dieser Art.


Um es deutlich zu sagen: Die Gegend dieser Geschichte gibt es natürlich. Annweiler am Trifels, der Pfälzer Wald, die Burg Landeck und natürlich auch die genannten Festivitäten wie das Richard-Löwenherz-Fest. Aber diesen real existierenden Orten habe ich mit künstlerischer Freiheit „Gewalt“ angetan. Es gibt die Herberge nicht, es gibt den Ort Brechen nicht und darum natürlich auch nicht das dortige Fest mit dem Brunnen. Es gibt auch die genannten Personen alle nicht. Sie entspringen meiner Fantasie.
Häusliche Gewalt dagegen existiert schon. Es ist die Art von Gewalt, die unter den Oberflächen schwelt. Mit blauer Tinte wird auf der ganzen Welt geschrieben. Und die Zustände von den Opfern oft erschreckend lange geduldet.
Gewalt richtet immer Schäden an. Die Blaue Tinte, von der Quinn spricht, drückt sich nämlich durch. Sie ist nicht nur auf der Haut sichtbar und verschwindet nach einiger Zeit. Sie zieht ein, dringt bis in die tiefsten Schichten der menschlichen Seele vor und führt zu unausweichlichen, tiefen Wunden.
Wir dürfen nicht wegsehen, wenn wir die Spuren der Blauen Tinte irgendwo wahrnehmen. Oft wollen wir es nicht wahrhaben. In der Nachbarschaft,  bei Freunden und Bekannten … in der Familie?
Auch wenn die Opfer häuslicher Gewalt aus Angst, Scham, Resignation, Akzeptanz oder anderen Gründen die Gewalt leugnen, Ausreden suchen oder sogar selbst blind dafür geworden sind, Hilfe tut Not. Welcher Art auch immer.

Ein letztes Wort noch zu dem großen Aber meiner Geschichte: „Aber: Was ist mit Josy und Jeanny? Wie haben sie sich befreien können? Wurde die Polizei eingeschaltet? Was ist ihnen passiert?“
Ganz ehrlich: Ich weiß es auch nicht.
Beim Schreiben dieser Geschichte kam es mir so vor, als ob Quinn selbst in meinem Büro gesessen hat und sie mir die Geschichte erzählt hat. Über die kleine aber nicht unwesentliche Stelle, was hinter ihrem Rücken die beiden Freundinnen ertragen musste, hat sie sich jedenfalls gewaltig ausgeschwiegen. Ich hab dafür zwei Erklärungen. Entweder hat sie einfach nie nachgefragt und weiß es selbst nicht. Vielleicht waren die drei Freundinnen an einem Punkt angekommen, an dem es erst einmal wichtig war, sich nur um sich selbst zu kümmern. Immerhin gibt es ja viel zu verarbeiten. Und viel davon, was die Frauen erlebt haben, war längst nicht mehr mit einem normalen Verständnis von Realitätsbewusstsein zu verarbeiten.
Es gibt aber auch eine zweite Variante, und die halte ich ehrlich gesagt für die Glaubwürdigere.
Ich glaube, Quinn war es ja, die mir die Geschichte erzählt hat. Und es war ihre Geschichte, nicht die von Josy oder die von Jeanny. Über die eigenen Gefühle zu reden, über die eigene Wandlung von einem passiven Opfer zu einem, der den Befreiungsschlag aktiv selbst durchführt, ist garantiert einfacher, als über das zu reden, was die anderen Opfer der Geschichte erlebt haben. Immerhin sind die drei Frauen Freundinnen. Und zwar auf eine sehr intime und feste Art. Daher behalte ich mir vor, zu glauben, dass Quinn einfach darüber schwieg, weil sie das Gefühl hatte, die Freundinnen beschützen zu müssen.

Wer weiß, vielleicht besucht Josy mich eines Tages. Und wenn ich ihre Geschichte höre, dann werde ich sie fragen, was damals in der Herberge passiert ist. In dieser einen, alles verändernden Sturmnacht.

Was sagt ihr dazu?