Traum

Ich gebe selten meine Texte kommentiert raus. Aber hier ist es nötig. Dieser Text ist das Ergebnis einer Challenge von haerzenswort. Mein Text soll ein bestimmtes Gefühl auslösen. Welches das ist, verrate ich nicht (das wär ja „cheating“). Aber die Story selbst geht tatsächlich auf einen Traum zurück. Er hat sich Ende des letzten Jahres drei Wochen lang jede Nacht genau so eingestellt. Ich habe also ein ziemlich starkes Gefühl zu diesem Traum und zu den Ereignissen. Ich kann die Handlung überhaupt nicht mit meinem Alltag in Verbindung bringen (das ist bei meinen Träumen oft so). Ich kann auch jede Deutung, die mir selbst so in den Sinn kommt, nicht auf meine Alltagsrealität beziehen. Ich weiß nur, dass es einer dieser Träume ist, nach deren Erwachen man felsenfest weiß, dass es etwas bedeutet, dass der Traum einem ‚etwas sagen will‘.
Wenn das so ist, dann ist mein Unterbewusstsein ein verdammter Rätselsteller. Einer, der es nicht lassen kann, kein Klartext zu sprechen und den man am liebsten packen würde, schütteln und anschreien: Verdammt nochmal, rück schon raus mit der Sprache. Sag mir gefälligst, was du von mir willst!
Ich liebe Rätsel. Ich liebe es auch im Dunkeln gelassen zu werden. Also liebe ich auch irgendwie solcherart Träume. Aber nur irgendwie. Denn um ehrlich zu sein … : „Sei vorsichtig, was du träumst – irgendwann werden sie wahr!“

 

Ich gehe über den Schulhof.

Ich bin Lehrer.

Niemand beachtet mich. Alle sind sie in ihren eigenen Welten. Es lacht durch die Luft. Und der Wind streicht geradezu zärtlich über die Baumkronen, die noch keine Blätter tragen. Es ist ein bleierner Himmel, der so tief hängt, dass man das Bedürfnis hat, den Kopf einzuziehen.

Wie Silberfäden hängen hinter mir am Horizont die Häuser nach unten.

Ich gehe vom Parkplatz hinüber zum Hauptgebäude.

Auf dem Boden sind schillernde Pfützen. Als wäre Öl auf Wasser ausgelaufen. In der Chemie, an der ich vorbeigehe, brennt noch Licht. Ein kaltes Licht.

Auf dem Kiesplatz spielen sie wieder Fußball. Der Ball ist ledrig, die Oberfläche schlappert in Fetzen. Da ist keine Luft mehr im Ball. Aber so lange man es treten kann, fliegt es, flappt über den Boden und die Schuhe rutschen über den Kies.

Als ich an der Gruppe Mädchen vorbeigehe, nicken sie mir zu. Eine lächelt. Eine andere gafft nur.

Der Wind weht mir den Kragen im Genick hoch. Ich biege um die Ecke und sehe die alte Wanne, wie sie eigentlich hier sein sollte, sondern auf meiner Schule, wo ich früher als Schüler gewesen war. Die Wanne, das ist eine Senke im Boden, wannenförmig natürlich. Und dort unten haben wir immer Fußball gespielt, keine zehn Schritt weit von den Treppen zur Turnhalle entfernt. Die Wanne war ein hässlicher Ort. Wenn dort der einzige freie Platz zum Spielen war, saß ich lieber auf der Mauer und sah zu. Ich weiß noch, dass ich sagte, da gäbe es keine Mauern und der Platz sei zu klein. Wir durften früher auch nur mit Tennisbällen Fußball spielen.

Ich denke: andere Zeiten und sehe wieder zurück zu dem heutigen Bolzplatz und dem Ball ohne Luft. Aber dort ist niemand mehr. Alle sind jetzt hier vorne bei mir. Und niemand spielt mehr. Sie starren alle einfach nach oben. Und einer sagt: Oh mein Gott. Ein anderer flucht. Ich treffe auf mir entgegenrennende Lehrer. Sie zeigen alle nach oben.

Einer nennt meinen Namen.

Ich sehe eine schwarze Gestalt auf dem Dach.

Und ich denke, du wusstest, dass die Katastrophe kommen wird.

Das Wort Katastrophe hat eine furchtbare Wirkung. Weil, wenn es das Wort ist, das den Moment trifft, es kein Ausdruck eines Gedankens mehr ist. Sondern ein Messer, das sich dir in die Brust wühlt. Oder ein Seil, dass sich zuzieht, während es um deinen Magen gewickelt ist.

Ich stürze auf die Feuertreppe und klettere nach oben. Durch diesen merkwürdigen, offenen, bereiften Tunnel. Ich spüre die eiskalten Metallsprossen, an denen ich mich aufs Dach hocharbeite. Und der Wind säuselt mir noch einmal um die Ohren.

Vor mir klettert Kollege T. und unter mir steigt W. die Treppe hoch.

Auf dem Zwischendach überhole ich T., der mir sagt, dass wir uns beeilen müssen.

Als ich oben bin, erkenne ich nicht, wer es ist.

Ein Mädchen. Sie trägt eine Bluejeans. Ein brauner Mantel mit einem breiten Gürtel in der selben Farbe. Der Mantel ist offen. Die Gürtelenden baumeln auf den Boden.

Sie hat lange, glatte Haare, dunkelstes Braun, fast schwarz. Die Haare fließen und werden vom Wind überhaupt nicht berührt. Nur der Mantel bauscht sich ein wenig auf. Ich rufe und sehe, dass meine Stimme sie zusammenzucken lässt.

Mir ist klar, dass jedes Wort falsch sein könnte. Sie steht zu nahe am Rand. Mit den Fußspitzen berührt sie die Tiefe. Erschreckend klar kann ich sehen, dass die Haut an ihren Händen ganz blass ist.

Irgendwie ist mir die Strategie klar, die ich anwenden muss. In meinem Kopf wirbeln alle Worte hin und her und auch die falschen Worte kommen auf einmal auf. Wenn ich jetzt „Spring!“ sage, wird sie das tun, denke ich zum Beispiel. Aber ich sage, dass es gefährlich ist, hier oben zu sein. Und dass es mir gar nicht gut geht, wenn ich jetzt hier oben bin.

Ich weiß, dass sie jetzt sagen muss: Dann gehen sie doch runter.

Aber sie sagt nichts.

Ich bilde mir ein, dass ihre Schultern ein wenig nach unten sacken. Aber in Wahrheit senkt sie nur den Kopf ein wenig und sie schaut nach unten, wo sich immer mehr Schüler versammelt haben.

Ich denke nicht ‚Schüler’.

Ich denke ‚Kinder’.

Ich denke nicht ‚Kinder’.

Eigentlich denke ich ‚Kids’.

Dieser Gedanke und mir wird schlecht. Mir bricht Schweiß aus und meine Stimme wird zittern. Trotzdem sage ich, dass ich jetzt näher kommen werde.

Weil ich weiß, dass sie dann sagen muss: Kommen sie nicht.

Ich mache einen Schritt und sie dreht sich zu mir um. Es ist so einfach, als ob wir miteinander verbunden sind. Wie diese Maschinen. Du drehst an einem Schlüssel und an der anderen Stelle dreht sich eine Ballerina. Du gehst einen Schritt vor und sie dreht sich um. Du gehst einen Schritt zurück und sie dreht sich wieder dem Abgrund zu.

Ich gehe nicht zurück. Es gibt also kein Zurück. Es gibt nur ein Vor.

Und ich wage den zweiten Schritt und den dritten.

Sie dreht sich um.

Ihre langen, glatten Haare wechseln die Seite. Ich werde ihr Gesicht sehen.

Aber das sehe ich nicht.

Als ich nach vier Schritten ihr Drehen beende, sieht ihre Vorderseite aus wie ihr Rücken. Die langen, fließenden, schwarzen Haare. Sie hat keine Brust. Sie hat einen Rücken. Sie hat kein Vorne. Sie ist zweimal eine Rückseite. Und sie macht einen Schritt rückwärts.

Sie geht mit den Fersen über das Nichts.

Steht mit dem Rücken mir zugewandt, geht den Schritt von mir weg, weil ich den Schritt auf sie zu wagen muss. Weil es für mich kein Zurück mehr gibt.

Weil ich noch zwei Schritte gehen muss.

Weil sie stürzen muss.

Weil ich ihr Gesicht nicht sehen darf.

Anstatt die Hand auszustrecken, anstatt sie festzuhalten, schließe ich die Augen.

Und während ich das tue, öffnen sie sich.

Völlig undramatisch, gleitend, wie ein Schritt durch die Tür von einem Zimmer ins nächste, bin ich erwacht und sehe in der Dunkelheit nichts als das, was da war, an Stelle ihres Gesichts.

Die langen schwarzen Haare, die über ihre Schultern fielen und glatt und sanft und fließend, kaum vom Wind bewegt worden sind.

2 thoughts on “Traum

  1. Ein Meisterstück. Ich bin tief beeindruckt von deiner Erzählgewalt und ich weiss, dass die Bilder, die du hier hervorrufst, noch lange in mir nachhallen werden. Ich behaupte sogar, dass dies der beste Beitrag ist, den ich bisher von dir gelesen habe.

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