Wie unsere Kinder schreiben lernen – Vorwort

Seien wir ehrlich.

Und das von Anfang an.

Ich komme von zwei Seiten.

Auf der einen Seite bin ich Lehrer, Deutschlehrer sogar, an einer weiterführenden Schule. So nennt man den Ort, wo es die Kinder in Deutschland nach der Grundschule hin verschlägt. Und auf der anderen Seite bin ich Vater von Kindern, die bald in die Grundschule kommen.

Was ich bei meinen Schülern beobachte, ist beunruhigend. Allenthalben wird geklagt, das Bildungsniveau nähme ab, die Schüler hätten kein Grundlagenwissen mehr, kaum die Fähigkeit, sich Wissen eigenständig anzueignen, schlimmer noch, sie horteten totes Wissen und was die Sprache selbst angeht, jene Grundlage des Denkens überhaupt, da sähe es noch katastrophaler und horrender aus. Ich stimme diesen Vorwürfen kaum zu. Ja, es gibt Beobachtungen, dass die Schüler heutzutage auf einem anderen Niveau arbeiten als früher, aber wenn ich mir die genauer betrachte, die auch die weiterführende Schule verlasse, dann würde ich mir nicht anmaßen, zu behaupten, die seien ungebildeter oder gar dümmer als wir es damals waren, als man uns von der Schule in die Welt entließ.

Also irgend etwas, das muss ich jetzt mal über uns weiterführende Lehrer sagen, irgend etwas machen wir wohl auch richtig.

Aber die Sprache selbst, dieser letzte Vorwurf, macht mir persönlich tatsächlich Sorgen. Es sind Banalitäten, wie zum Beispiel das sukzessive Abnehmen von Schönschriften aber auch die reduzierte Wertschätzung für Schriftarten. Die Schriftsauberkeit wird schlimmer. Und Rechtschreibung zwingt regelmäßig die Schüler in die Knie. Und das tragischerweise auch bis zum Schulabschluss und über ihn hinaus.

Landesweit gibt es dafür einen Schuldigen. Eine Pädagogik, die sich da landläufig „Schreiben nach Gehör“ nennt. Zuweilen aber auch „Schreiben durch Lesen“ oder „Lesen durch Schreiben“. Die Vielzahl an völlig unterschiedlichen Titeln, die durch die Presse und über die Lippen Vieler geradezu torkeln sollte stutzig machen und aufhorchen lassen. Der erste Eindruck, der entstehen könnte wäre der, dass es durchaus eine Lern-Theorie geben mag, die durchaus einen konkreten Namen hat, dass aber kaum einer sich mit dieser Theorie beschäftigt, außer vielleicht Theoretiker selbst.

Im Internet, nach einer recht oberflächlichen Recherche, sind mir zwei Buchtitel sofort ins Auge gesprungen:

Hans Brügelmann und Erika Brinkmann: Die Schrift erfinden – veröffentlicht im Libelle Verlag.

und

Maria-Anna Schulze Brüning und Stephan Clauss: Wer nicht schreibt, bleibt dumm – Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen. – erschienen im Piper-Verlag.

Der erste Titel verspricht ein Werk zu werden, worin es um eine alternative Lernstrategie des Lesen- und Schreibenlernens geht. Zweites Buch soll angeblich eine direkte Replik darauf sein und den gängigen Vorwurf argumentativ unterstützen, wesentliche Grundfähigkeiten würden in den Schulen heutzutage durch die „moderne“ Methode im Keim erstickt.

Der Kategorienfehler ist klar: Während Buch 1 eine Theorie praktisch erläutert wird mit Buch 2 nicht primär gegen die Theorie argumentiert, wie man das erwarten würde, sondern es wird aus der Analyse der Praxis gegen eine Theorie argumentiert. Das ist eine zunächst sehr wackelige Ausgangssituation. Aber die Hoffnung besteht, dass Buch 2 doch mehr liefert als das und am Ende Theorie gegen Theorie stehen, die man miteinander aufwiegen kann.

Ehe man sich in eine bestehende Diskussion wirft, sollte man sich klarmachen, welche Position man selbst dabei vertritt, sodass man diese bei Gelegenheit ausblenden kann, um sich auch von unerwarteten Argumente überraschen zu lassen.

Mir wäre es aus zweierlei Gründen lieb, wenn mich Brügelmann und Brinkmann mit „Die Schrift erfinden“ überzeugen können. Zunächst einmal verliere ich lieber Diskussionen als sie zu gewinnen. Denn der Verlierer einer Diskussion geht immer klüger aus der Debatte als der Gewinner, der mit seiner Meinung in den Diskurs eintrat und mit eben der selben auch wieder austritt und nur selten die Gegenargumente würdig mit in sein Gepäck nach Hause steckt.

Zum anderen, weil ich wie zuvorderst gesagt, ich auch Vater bin und die gängige Praxis sich an den „modernen“ Sprach- und Schrifterwerbsstrategien orientiert. Ich würde natürlich meine Kinder gerne aufgehoben sehen in dieser Praxis.

Was ich bei diesem Ausgang befürchten würde, dass die Theorie unfassbar überzeugend sein wird, die Praxis dagegen aber ihre Untauglichkeit unter Beweis stellt.

Das Minimum, was ich mir in dieser Diskussion zu gewinnen erhoffe: dass mir etwas viel Grundlegenderes bewusst wird: es könnte nämlich sein, dass der Grund, weshalb so viele Lehrer – inklusive mir – an weiterführenden Schulen so unglücklich sind mit der Schreib- und Sprachsituation der von den Grundschulen ankommenden Schülern, weil wir in den fünften Klassen mit einer gut gemeinten Weiterführungs-Pädagogik an einem Lernprozess andocken, wofür es keine Andockstation gibt. Sprich: Vielleicht überzeugt diese „moderne“ Theorie dahingehend, dass ein Ideenpool wächst, wie man mit diesen nun geschaffenen Grundlagen besser die Schüler weiter fördert, dass eben nicht von einem „Verlust einer überlebenswichtigen Kulturtechnik“ die Rede sein wird, wie es auf dem Klappentext des zweiten Buches von Brüning und Clauss der Fall ist.

Dort heißt es weiter, unsere Schüler seien „Opfer einer fehlgeleiteten Schulpolitik. Handschrift und Rechtschreibung werden in den Grundschulen vernachlässigt und dem Experimentieren freigegeben.“

Dieser reißerische Vorwurf trifft vielleicht die Gemüter der Eltern, ich halte ihn allerdings für viel zu polemisch und nicht zweck- und sachdienlich.

Bleiben wir doch erst einmal nüchtern. Und, wie ich gerne polemisiere: Hören wir doch zunächst einmal unseren Diskussionsgegner an, ehe wir uns über ihn echauffieren.

 

Meine Darstellungen werden subjektiv sein. In sofern, weil es meine Leseeindrücke sind und meine persönlichen Meinungen. Auf der anderen Seite bemühe ich mich um größtmögliche Objektivität, um eine Interpretation, die den beiden Büchern bzw. deren Autoren gerecht wird. Der Sache nach möchte ich beide Seiten zunächst einmal verstehen, ehe ich ein für mich abschließendes Urteil finde.

Es mag sein, dass meine Meinungen auf Widerwillen stoßen, meine Erfahrungen zu einseitig sein mögen und andere Lehrer bzw. Eltern andere Erfahrungen mit sich bringen. Hierin bin ich selbstverständlich grundsätzlich offen für alles. Es wäre fatal, zu denken, meine Sicht der Welt und besonders dieser Theorien wäre die einzig richtige. Wo ich mich also offenkundig irre oder es unbeantwortete Fragen geben mag, so darf man mich gerne korrigieren, bzw. mir weitere Impulse zukommen lassen.

 

Erster Teil: Brügelmann/Brinkmann: Die Schrift erfinden

 

(In der Folge und leider in unregelmäßigen Abständen werde ich die Diskussion hier auf Odeon-Theater fortsetzen.

Diskussionen über die Kommentarfunktion der Seite sind gern gesehen, sollen aber bitte keiner emotionalen Polemisierung eine Bühne bieten – so groß die Bühne im Internet auch heutzutage sein mag. Es wird gebeten, dass sachlich diskutiert wird und sehr, sehr gern: argumentiert!)

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