Wiesbaden: Die Bürgschaft – ein Essay

Das Leben ist doch voller Kuriositäten, nicht wahr?

Gestern war man noch Humanist und heute ist man bettelarm.

Gestern waren wir noch christlich-sozial und heute, ach heute geht es uns vor unseren Flachbildfernsehern doch ziemlich katastrophal. Man kann ja mal nachrechnen. In Wiesbaden rechnete man jüngst ja auch den Humanismus auf. 40.000 Euro kostet es, wenn man zwei Jahre lang ein anständiger Humanist war. Die Rechnung ist einfach und nicht nur schlüssig, am Ende wird es sogar flüssig sein. So flüssig, dass es das Wasser auf den Mühlen von banalen Rechtspopulisten sein wird. Achtung. Aufgepasst. Die Farce beginnt.

Als die große Flüchtlingskrise, dieser enorme Menschentsunami über Europa schwappte, als sich die großen Wellen aufbauten, die so voller Menschenleiber war, dass man gar nicht hinter die Welle zu sehen vermochte oder gar in die individuellen Gesichter, da kam das Land Hessen, allen voran wohl Wiesbaden auf die Idee, man könne Bürgschaften verteilen. Ein jeder Bürger könne ein einfaches Papier unterzeichnen und mit seinem Namen für die Sozialleistungen einer Flüchtlingsfamilie sorgen. Das, meine Freunde, ist gelebte Christ-Sozialität. Das ist Nächstenliebe Non-Plus-Ultra. Wir wollen helfen: Packen wir doch alle gemeinsam an. Wir machen es, wie jüngst in Japan, als dort ein Atomkraftwerk – noch so eine Naturkatastrophe – von einem zivilisatorisch blinden Wellengang vernichtet wurde und sogleich sich das Nationalbewusstsein eines ganzen Volkes anschickte und den wirtschaftlichen Schaden untereinander aufteilte. Gestreng nach dem Motto: Der Staat ist für den Menschen da, doch wenn der Staat den Menschen braucht, so springe ihm zur Seite und trage ihn auf deinen Schultern. Ein Geben und ein Nehmen. Man trug Verantwortung für den Staat. Und dieses trug Wiesbaden nun auch unter die Menschen und in ihre Herzen.

Eine Bürgschaft für die Sozialleistungen zum Beispiel einer vierköpfigen Flüchtlingsfamilie. Und nun konnte für die Familie gesorgt werden, sie konnte untergebracht werden und das Geld floss von den Institutionen zum Menschen, wo es moralisch aufgegessen wurde, von hungrigen Männern, Frauen und Kindern.

Und als die Jahre vergangen waren und in Syrien – das Land hinter der großen Flüchtlingswelle, man erinnere sich vielleicht dunkel an diesen Fleck auf der Landkarte – noch immer Krieg herrschte, es also keine Aussicht auf eine glückliche Rückkehr in eine Gegend Namens Heimat gab, tjaja, als die Jahre vergangen waren, erinnerte sich Wiesbaden, dass man das bezahlte Geld ja nur vorgestreckt hatte und so überreicht man nun jüngst die Rechnungen in die Häuser, in denen die Herzen inzwischen nicht mehr dauerhaft medial auf die große Menschenwelle gerichtet war. Und noch das letzte bisschen Humanismus, diese sanfte Brühe, die in den Brustlatzen der Bewohner köchelte, geriet mit einem Mal zum Erfrieren.

Denn der Humanismus von vor zwei Jahren summierte sich für die vierköpfige Familie auf sage und schreibe 40.000 €.

Und jetzt will keiner zahlen. Denn jetzt wär’ der Einzelne bankrott.

Diese Art von Humanismus kann sich keiner leisten. Dieser Humanismus ist verdorben bis ins christsoziale Mark.

Denn ja, es stimmt schon, wofür man seinen Namen gegeben, dafür muss man einstehen. Als der barmherzige Sarmariter den Hilfsbedürftigen von der Straße aufhebt, hat er sicher auch damit gerechnet, dass er sich eine ansteckende Krankheit holen könne und hätte er darunter eine Woche oder zwei Jahre später gelitten, so hätte er dies Leiden garantiert parabelhaft über sich ergehen lassen, ja, wäre sogar daran gestorben.

Und es stimmt schon, wenn ich eine Bürgschaft unterzeichne, so übernehme ich finanzielle Verantwortung. Und dessen kann ich mich nicht herauswinden, indem ich von Gutgläubigkeit, Naivität oder Unwissenheit, was denn der Name „Bürgschaft“ bedeute, rede.

Nun hat das Soziale inzwischen reagiert und betont, man habe es dem Volk einst versprochen, die Bürgschaft habe nur symbolischen, nie finanziellen Wert. Man habe auch nicht vor, Personen zu ruinieren, nur weil diese humanistisch gehandelt hätten.

Man müsse jetzt das Geld einerseits einfordern, hieß es, andererseits mache man sich bereit dafür, das Geld selbst zu bezahlen.

Und diese Kapriole: ist sie nicht wundervoll? Ist sie nicht von formvollendeter Ignoranz der derzeitigen Zustände?

Das Internet unter entsprechenden Zeitungsartikeln ist voll von Häme und Spott. Nicht gegen Politiker, gegen die Elite, wie man es vor der Zeitenwende erwartet hätte. Das Internet spottet den Bürgen. Man stellt sich unter das Kreuze und bewirft den da hängenden mit Schmährufen bis der Freunde dem Freunde ereilt. Dann bewirft man auch den.

„Ihn rettest du nicht mehr, so rette dein eigenes Leben!“, brüllen die rechtspolemisch gewordenen Philostraten, die des Hauses redlichen Hüter.

Sie rufen es aber voll Spott. Rufen: das habt ihr Gutmenschen, ihr Bessermenschen so verdient. Wenn es Zeit ist, sich moralisch zu geben, so spielt ihr euch auf. Doch wenn es ums Geld geht, zeigt ihr euer wahres Gesicht!

Sie spucken dem abgehetzten Bürgen ins Gesicht, während er eilt.

All die Menschen, die auf der Seite der Moral standen, als auf dieser Welt Not am Mann war, werden nun gemeinsam mit ihrer Moral beerdigt. Und auf ihren Grabsteinen soll stehen, dass sie es selbst waren, die sich mit ihrer Moral die Gräber geschaufelt haben.

Des rühme der blut’ge Tyrann sich nicht:

Dass der Freund dem Mitmenschen gebrochen die Pflicht,

er schlachte der Opfer zweie:

Und glaube an Liebe und …

Sodann wird mein fiktiver Bürge, als auch dieser Text, von Philostratos unterbrochen werden:

Auf meine Gesundheit trinke nur mit den Augen, ruft er mit diabolischem Blitzen in den Augen. Oder wenn du willst: berühr mit deinem Wertesten diesen Becher, füll ihn mit deiner Moral und deiner Pflicht, und reiche ihn dann an mich weiter.

 

 

 

Anmerkung:

Das Originalzitat des Sophisten Philostratos geht so:

Auf meine Gesundheit trinke nur mit den Augen, oder, wenn du willst, berühre ihn mit deinen Lippen, fülle den Becher mit Küssen und reiche ihn an mich weiter.

Die Originalzitate von Schiller „Die Bürgschaft“ sind zu geläufig und sollten genauso wenig wie weitere Anspielungen an Kant, die Bibel, etc. angegeben werden.

Was sagt ihr dazu?