Zwei Männer

 

Ein Künstler ist immer bis zu einem gewissen Grad unschuldig – und schuldig, er ist wie ein Kind, das gescholten wird wegen einer Sache, in der es sich nicht schuldig fühlt – und das gelobt wird wegen einer Sache, die es gar nicht so lobenswert findet.

(Heinrich Böll)

 

 Niemand sah ihn an und das brachte ihm diesen einen Gedanken zurück, den er einmal zu Studentenzeiten gehört hatte. Es war eine Verballhornung von Brecht gewesen. Aber eine psychologisch verdammt gute, wie er fand: Stell dir vor, du bist nackt. Und niemand sieht hin.

Das Campuscafé, dachte er. Dieser Spruch stand auf der rückseitigen Wand des senfgelben Campuscafés. Und da hatte noch etwas gestanden. Etwas von Heinrich Böll, aber an den Wortlaut erinnerte er sich nicht mehr.

Carol seufzte unbewusst, aber viel zu laut. Er zuckte zusammen wie einer, der eingeschlafen und von seinem eigenen Schnarchen geweckt worden ist. Verzeihend blickte Carol in die Runde, die weiterhin keine Notiz von ihm genommen hatte.

Der Raum war lieblos eingerichtet. Nur die Freischwinger, die rundum an den Wänden standen und auf jedem einzelnen saß ein Jemand. Alle schwiegen sie. Alle starrten sie entweder an die Decke oder auf ihre Fußspitzen. Es gab keine Zeitschriften, in denen man sich hätte verdingen können. Kein Glastisch mit Werbung, keine Bilder an den Wänden mit naiven Malereien. Nichts, um den Gedanken daran zu heften und abzuschweifen.

Ich hasse es zu warten, dachte Carol.

Und wieder der nächste Gedanke. Wie ein Assoziationsspiel.

„Ich will nicht hier sein.“

„Niemand ist gern hier.“, sagte der Mann zu seiner Linken und Carol erschrak. Er sah hin. Der Mann sah ihn nicht an und lächelte auch gar nicht. Aber er sprach weiter:

„Ich meine, niemand ist gern an dem ‚Hier’, an dem er sich befindet. Ich kenn jedenfalls keinen, der rundum glücklich ist mit seinem Hier und seinem Jetzt und allem, was dazu gehört.“

„Es tut mir Leid“, sagte Carol. „Ich hab versehentlich laut gesprochen. Ich wollte Sie nicht stören.“

Jetzt drehte der Fremde sich zu Carol um. Es war, weil er die ganze Zeit vornübergebeugt, die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt und der Kopf in den Händen liegend, dagesessen hatte, streng genommen ein Aufrichten und kein Umwenden. Im Profil sah der Sitznachbar kantig und grob aus. Doch von vorn besehen wirkten die Gesichtszüge eher weich, nur ungepflegt. Er war blau rasiert, hatte die Haare ganz kurz geschnitten und das bei einer eher unvorteilhaften Kopfform. Der Kopf ist viel zu groß für das Gesicht, dachte Carol. So als habe ein Kind ihn gezeichnet.

Der Fremde streckte ihm die Hand entgegen und sagte: „Mein Name ist Arno Decker.“

„Carol.“, sagte Carol, die Hand ergreifend. „Carol Jakobsen.“

„Sehr angenehm.“, sagte Decker.

Und nach einer Weile: „Haben Sie das ernst gemeint? Das mit dem Unglücklichsein? Dass jeder immer und egal wo er ist, unglücklich ist.“

„Nein.“, antwortete Decker. „Das haben Sie falsch verstanden. Ich meinte nicht ‚unglücklich’. Eher ‚unzufrieden’.“

„Ah.“, machte Carol. Er hatte keine Ahnung, was der Unterschied sein sollte. Dieser Decker wirkte wie einer, der sich zu viel Gedanken über alles machte. Solche Menschen gefielen Carol nicht. Im Leben brachte es einen nicht voran, wenn man zu viel dachte. Das war zumindest seine Erfahrung. Wer zu viel dachte, der bremste sich aus, verpasste den Zeitpunkt zum Handeln. Der wurde überholt und der verlor.

„Die Natur des Menschen.“, sagte Decker, der nicht ahnte, dass Carol ihn mit jedem Wort unsympathischer fand. „Wir wollen alles perfekt haben und optimiert. Und so ist die Welt nicht. Die Welt ist immer voller Fehler. Ist immer unperfekt. Also fühlen wir uns nie vollständig wohl. Was ich aber damit eigentlich sagen will: Nur weil man sich nicht vollständig zufrieden fühlt, soll das nicht bedeuten, dass man auch unglücklich zu sein hat. Verstehen Sie?“

„Sind Sie so was wie ein Personal Coach?“, fragte Carol und merkte selbst, wie aggressiv er auf einmal klang.

„Schon gut.“, sagte Decker. Und damit war das Gespräch zwischen ihnen auch schon wieder erloschen.

Am liebsten hätte Carol ihm noch gesagt, dass Denker in dieser Welt die Verlierer waren. Aber er sagte nichts, weil er nicht unnötig unhöflich sein wollte. Er hatte ja ohnehin schon zu viel gesagt.

Müde rieb er sich die Augen.

Aber Augen waren zum Sehen da. Wenn Carol müde wurde, konnte er die getrübte Sicht kurzfristig fort reiben. Aber er konnte es vergessen, Gedanken wegzuwischen.

Gedanken an alles, was er einmal verloren hatte, weil er in den entscheidenden Augenblicken lieber gedacht als gehandelt hatte.

Als er die Hände von den Augen wieder fortnahm, erkannte er, dass Decker ihn mit diesem unangenehmen Blick ansah, auf den es keine angemessene Reaktion gab. Jedes Wort, das er gesagt hätte, wäre ihm als Aggression ausgelegt worden.

Das ist es, was direkte Blicke bewirken. Sie lassen jede Reaktion zur Aggression werden.

„Hier. Möchten Sie?“, fragte Decker. Und er hielt Carol ein kleines, rotes Buch entgegen. „Ich habe immer etwas zum Lesen dabei. Das hilft, um sinnlose Gedanken zu vertreiben.“

Sehe ich so aus, als würde ich sinnlose Gedanken haben?

Carol unterdrückte die aufkommenden Gefühle und zwang sich zu einem Lächeln, das möglichst milde aussehen sollte und so wenig als möglich seine wahren Gefühle verriet.

„Danke.“, sagte er. „Aber nein.“

Decker runzelte die Stirn.

„Ich habe den Eindruck, dass mir Ihr Buch zu hoch sein wird.“

„Zu hoch?“

„Ich bin ein eher einfacher Typ. Das Lesen überlasse ich den Anderen.“

Decker zögerte kurz. Aber dann steckte er sein Buch wieder in die innere Brusttasche seiner Jacke.

Er wollte etwas sagen, aber ein Beben erschütterte den Raum und statt ein Wort zu erwidern, verkrampften sich seine Hände vor Schreck an den Armlehnen des Stuhls.

Carol konnte jetzt ein spöttisches Grinsen nicht unterdrücken. Als das Beben sich wieder einstellte, sagte er: „ Nur weil man sich nicht vollständig zufrieden fühlt, soll das nicht bedeuten, dass man auch unglücklich zu sein hat.“

Decker starrte ihn an. Endlich verrieten auch seine Augen eine latente Aggressivität.

Carol beugte sich zu diesem Decker hinüber und für ihn war es mehr eine Bewegung, die einem nach unten Beugen gleich kam.

„Ich habe mit Menschen zu tun gehabt, die genauso waren wie sie. Die haben auch von der ‚Natur des Menschen’ geredet. Und davon, dass sie alles besser wüssten. Davon, dass es eine soundso geartete Welt gäbe und dass jede Handlung sich einnorden lässt zwischen der Moral und der Unmoral. So als wäre die Welt eine große Schablone und wir Menschen sind entweder von der Schablone verdeckt oder wir sind anständig und brav und angepasst und richtig und -“

Er zögerte einen Augenblick, weil das Beben wieder über den Raum schwappte. Und diesmal war es stärker. So stark, dass auf der Sitzreihe gegenüber ein paar auf den Boden stürzten.

Aber Carol stürzte nicht. Auch nicht über seine Wörter oder seine Gedanken oder Gefühle.

„In der Schablone lebt es sich. Und wo du verdeckt wirst, stirbt es sich. Punkt. Und noch was“, er beugte sich noch ein Stück weiter vor: „Es gibt keinen Fleck auf dieser Welt, wo du in der Schablone am Leben bleibst und Bücher hast. Verstehst du?“

Decker nickte. Er sah getroffen aus und das gefiel Carol. Dass man so einfach einen Menschen treffen konnte. Bis ins Mark treffen konnte.

Er lehnte sich wieder zurück und diesmal schloss er die Augen.

„Wir haben alle viel durchgemacht.“, sagte Decker durch Carols geschlossenen Augen hindurch. „Aber wir sitzen alle im selben Boot.“

„Nein.“, meinte Carol. „Das tun wir eben nicht. Jeder steckt in seiner eigenen Haut. Ich in meiner. Und Sie in Ihrer, Herr Decker. Kennen Sie nicht diese Geschichten, in denen eine Schicksalsgemeinschaft in einen Raum eingesperrt wird auf Leben und Tod. Kennen Sie das? In diesen Geschichten geht es immer darum, die wahre Natur des Menschen zu offenbaren. Kennen Sie so was? Na los, Decker, sie sind doch ein Leser und Denker, kennen Sie so was?“

Decker gab keine Antwort. Dafür öffnete Carol wieder seine Augen. Nur starrte er alle anderen an, eben nur nicht Decker. Jeden einzelnen, namenlosen Menschen hier im Raum. Jede einzelne Haut, in der jeder für sich alleine war.

Die auf dem Boden liegen und sich aufrappeln. Die panisch werden und zur Tür stürzen. Die paralysiert in den Stühlen sitzen. Jeder einzelne ein Einzelner.

„Ich habe es satt.“, sagte er zu Decker. „Wenn drei Leute zufällig zusammen gewürfelt werden, dann darf niemand einfach davon sprechen, dass sie eine Gemeinschaft sind. Verstehst du? Dass sie eine Natur teilen. Das ist fahrlässig. Und nur deshalb sitzen wir doch hier. Weil so viele so fahrlässig geworden sind.“

„Wir haben alle viel durchgemacht.“, wiederholte Decker. Und als sich ihre Blicke jetzt begegneten, wirkte er mit einem Mal nicht mehr so schockiert oder gelähmt. Decker hatte die Hand auf die Brust gedrückt. Dorthin, wo er sich sein Buch hingesteckt hatte. Er drückte die Hand nicht nur darauf, sondern er krallte sich dort fest. So als wollte er sein eigenes Herz mit seiner Faust umgreifen und es festhalten und sicher stellen, dass ihm dieser wertvolle, schlagende Muskel nicht verloren geht.

Er hält sich an seinem Leben fest. Er krallt sich daran fest.

Und eigentlich ist es doch nur ein Buch.

Die Gedanken eines fremden Menschen.

„Wir haben alle viel durchgemacht. Deshalb sitzen wir hier zusammen, ist doch so.“, sagte Decker. „Wenn wir sterben, dann sterben wir alle gemeinsam. Dann sieht man, wie gleich wir sind.“

„Jeder stirbt für sich allein.“, antwortete Carol. „So sagt man doch.“

„Es ist nicht überall gleich.“, antwortete Decker. „Sonst wären wir auch nicht hier. Wir alle glauben, dass es irgendwo besser ist als dort, wo wir hergekommen sind.“

„Es sind nur andere Schablonen, mein Freund.“

Beim nächsten Beben entfuhr Decker ein kurzer Aufschrei der Überraschung.

„Warum bleibst du so verdammt ruhig?“, fuhr Decker ihn an. „Wieso bleibst du so verdammt ruhig?“

„Weil ich nicht nachgedacht habe.“, erklärte Carol. „Die ganze Zeit über nicht.“, er spürte, wie seine Stimme müde und abgelebt klang. „Ich habe statt dessen nur hingehört. Wir sinken. Hörst du das nicht? Das Wasser, das hinter diesen Wänden überall die Räume flutet. Es ist nur eine Frage der Zeit.“

Und dann tat Carol doch etwas Überraschendes. Er griff in seine Brusttasche und nahm ein Foto hervor. Ein abgegriffenes, an den Rändern angerissenes, mit Wasserflecken besudeltes Bild. Natürlich von einer Frau. Weil jede Geschichte immer eine Frau enthält. Eine Geschichte ohne einen Mann, der seine Liebe verliert, weil er im richtigen Augenblick lieber dachte als handelte. Weil es manchmal nur einen Sekundenbruchteil ausmacht, ob man von der Schablone abrutscht oder man zusehen muss, wie jemand abrutscht.

„Sie hätte das Buch genommen.“, sagte er zu Decker. „Sie hätte das Buch sofort genommen. Und sie hätte es dankbar gelesen. Selbst wenn sie es schon gekannt hätte. Sie hat Bücher geliebt. Und sie hätte dafür gesorgt, dass auch ich anders über die Welt gedacht hätte. Nicht über die ganze Welt. Aber über die Menschen, dort, wo wir hingefahren wären. Nicht über die Heimat. Heimat ist immer der Ort, über den man nicht anders denken kann. Heimat ist der Ort, der so denkt, dass du keine andere Wahl hast. Die Fremde dagegen ist der Ort, wo du noch die Wahl hast, wie du über sie denkst.“, er lachte trocken.

„Für Menschen wie uns gibt es keine Heimat.“, sagte Decker. Und Carol dachte darüber nach, ob er das gesagt hatte, um ihm zu widersprechen oder um ihm zuzustimmen. Schließlich entschied er sich für letzteres. Und so nickte er und gab Decker das Bild rüber.

„Sie sah hübsch aus.“, sagte Decker. „Klug. Und glücklich.“

„Sie war zufrieden.“, erzählte Carol. „Damals, als das Bild gemacht worden war.“ Und dann grinste er schief, weil er gelernt hatte, mit diesem schiefen Grinsen die Tränen zurückhalten zu können.

„Und du? Was ist dein Grund?“

„Warum ich geflüchtet bin?“

„Niemand flüchtet und verlässt seine Heimat, wenn die Heimat ihm nicht einen verdammten Grund dafür mit auf den Weg gibt.“

„Das stimmt.“, sagte Decker. Und als seine Hand sich fester um das Herzbuch krampfte, brauchte es keine weitere Erklärung mehr.

„Du bist ein Denker.“, sagte Carol. „Nett, einmal einen wie dich kennengelernt zu haben.“

Decker reichte das Bild zurück und sagte: „Dann bist du wohl ein Fühler.“ Und sie gaben sich ein zweites Mal die Hände. Diesmal war es intensiverer Händedruck.

Sie sahen sich in die Augen als die Tür von dem Außendruck aufgesprengt wurde. Deckers Augen verrieten zu viele wild durcheinander gehende Gedanken, die er nicht mehr alle würde aussprechen können. Verschwendete Gedanken. Nur auf die Welt gekommen, um in einer sterbenden Stätte eine Sekunde auszuharren. Gefühle, dachte Carol, sind nicht verschwendet. Er packte Deckers andere Hand, weil er darin das Foto abgreifen wollte. Decker misinterpretierte die Geste und hielt auch diese Hand fest. Das Bild war zwischen den Handflächen eingeschlossen.

Sie hielten beide Hände fest, die rechten zum Handschlag. Die linken mit überkreuzten Fingern wie Haltsuchende.

Es tat weh.

Aber nicht so sehr, als wenn sie in ihrer Heimat gestorben wären.

Lieber vom Schicksal verschluckt, als von einer willkürlichen Folie verdeckt.

Carol dachte noch: Das ist es also mit der Moral.

Sie schmeckt nach Salzwasser. Nach nichts anderem.

Nach Salzwasser.

Was sagt ihr dazu?