Anekdote

In den Wartezimmern der Kinderärzte hängen immer Bilder von Janosch. Und überraschenderweise gibt es immer Familien, die nur hier in Kontakt kommen mit der dement-anarchischen Fantasiewelt des schnauzbärtigen Tenneriffa-Künstlers.

Auf einem seiner Kinderarztbilder lag der kleine Tiger am Fußrand des Bettes auf den hoch aufgetürmten Decken unter denen ein altbackenes Fieberthermometer aus dem Mund des Freundes hervor lugte. Die Unterschrift lautete: „Ich mach dich wieder gesund, kleiner Bär“ und die obligatorische Tigerente hatte die Buchstaben schwarz-gelb gefärbt.

Zwei höchst gut meinende Mütter, die sich offenbar gut kannten, saßen dem Bild gegenüber, als die eine unvermittelt fragte, ob diese Bilderbücher denn etwas taugten. Obwohl die Freundin zugab, nie etwas von Tiger und Bär gelesen zu haben, erzählte die erste, sie habe schon so viel falsch gemacht, weil sie so oft von unqualifizierten Verkäuferinnen ungerecht beraten worden wäre. Deutsche Bilderbücher, sie sagte das so verächtlich, als sei die Alternative völlig selbstverständlich. Dabei verdrehte sie die Augen vor Ekel und wünschte sich eine bessere Welt für sich und ihre Kinder. Die Bücher sollten den Kindern früh soziale Werte und ein gebildetes, hochsprachliches Miteinander vermitteln. Statt dessen Banalitäten, klischeehafte Rollenstereotypen. Heilige Männerfreundschaften statt vorbildhafter Frauen.

Sie habe als Kind auch nicht gelesen gehabt.

Sie sei besser damit zurecht gekommen.

Gebildet, nur durch das eigene Leben.

Sprachlich versiert, statt gedanklich formatiert – so nannte sie das.

Als die Arzthelferin schließlich ihren Namen rief, verdrehte sie noch einmal die Augen. Sie rief ihren Karl-Friedrich und sagte: „Auch wenn uns das Propagandagespräch übers Impfen nicht erspart bleibt, gib mir bitte mein Handy zurück. Genug mit Videos jetzt.“

Dann verabschiedete sich mit Doppelküsschen bei ihrer Freundin.

„Verschwenden wir mal unsere Zeit.“, flötete sie zum Abschied und rauschte an dem Janoschbild vorbei, hinein in die Praxis, ohne von ihrem Sohn das Handy erhalten zu haben.

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