Das Bäckermärchen

Man erzählt sich, dass in einem ganz anderen Land, weit, weit von hier entfernt, es jede Woche zu einem außergewöhnlichen Erlebnis kam. Und zwar in einer Bäckerei. Ein junger Mann, keine dreißig Jahre alt und sicher längst keine achtzehn mehr, betrat einmal die Woche eine kleine Bäckerei, in welcher man weder vor noch hinter der Theke genug Platz hatte, sich um die eigene Achse zu drehen. Er betrat den stets nach warmen Backwaren riechenden Laden mit einer gezogenen Klingenwaffe, ein sehr altmodisches Modell. Und er hielt die Spitze dem Bäcker unter das Kinn und verlangte Geld, sonst stoße er zu.

Woche für Woche tat der Bäcker wie geheißen, öffnete langsam die Kasse, um keinen Argwohn zu wecken, entnahm das wenige Geld, das darin war und reichte es dem Ganoven in die blanke Hand.

Der legte das Geld sogleich mit der flachen Hand auf den Tresen und sagte in sehr mildem Tonfall: „Ein Laib Brot bitte. Es wäre sehr nett, wenn Sie es mit der Maschine schneiden könnten.“

Das Brot bezahlte er anständig mit dem erpressten Geld. Die Höflichkeit bezahlte er mit der Unmoral. Die Bekämpfung des Hungers mit der Bekämpfung des Preises.

Man erzählt weiter, dass eines Tages diese stets gleich ablaufende Geschichte, dieses stabile Kuriosum, dadurch gestört wurde, dass der Ganove unerwarteterweise nicht vor dem Bäcker, sondern vor einem jungen Mann stand, der neuerdings hier arbeitete und wohl in alle Besonderheiten des Verkaufs eingeweiht gewesen war, nicht aber in die Besonderheit der regelmäßigen Kuriosität.

So sah der Junge ungläubig auf das auf dem Tresen liegende Geld und wägte dieses im Geiste sowohl mit dem eben vollzogenen Diebstahl als auch mit der ihm bekannten Moralität ab. Schließlich – und wahrscheinlich hatte das an seinem Hals noch immer befindliche Klingenende nicht wenig damit zu tun – kam der Junge zu einem Ergebnis. Und wie sein Meister, so nahm auch er ein Laib Brot, ließ es von der Maschine brav schneiden und reichte es dem merkwürdigen Kunden herüber. Als dieser sich jedoch zum Gehen wandte, brach der Knabe die ihm unbekannte Routine und sagte: „Ihr habt zuviel bezahlt. Ich habe aber kein Wechselgeld mehr in der Kasse.“

Irritiert sah der Kunde zu dem Knaben und wägte nun seinerseits die Optionen ab.

„Ich muss euch also mehr verkaufen als nur das geschnittene Brot.“

Dann räusperte sich der Junge und begann mit einem Mal zu singen.

Wie ein Engel sang er. So hell und klar, als wolle er mit seiner Stimme nichts geringeres, als dem Himmel die Pforten öffnen. Im reinsten Tenor sang er die Arie des Florestan:

„In des Lebens Frühlingstagen
Ist das Glück von mir geflohn!
Wahrheit wagt’ ich kühn zu sagen,
Und die Ketten sind mein Lohn.“

Und dann erklärte er: „Das war Beethoven. Fidelio.“

Aber der Ganove hörte nicht mehr, weil ihm die Augen voll Wasser standen.

So satt war er selten geworden in den letzten Jahren.

Zumindest erzählt man sich so.

In einem ganz anderen Land.

Weit, weit von hier entfernt.

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