Der Fürst

Vorwort

Mein Großvater erzählte mir immer gerne von früher. Und ein paar seiner Geschichten schrieb ich mir anschließend heimlich auf. Dafür hatte er mir ein kleines Notizbuch geschenkt, eine schwarze Kladde mit ganz dickem Einband und zart karierten Seiten. Als ich etwa fünfzehn Jahre war hatte ich eine seiner Geschichten auf eine Art aufgeschrieben bekommen, dass ich richtig stolz auf mich war. Ich hatte hier nämlich das Gefühl, dass mir etwas Besonderes gelungen war. Es war das erste Mal, dass ich auf eine eigene, geschriebene Geschichte stolz gewesen war und dieses Gefühl war so gut, dass ich mir vornahm, Schriftsteller zu werden.

Diese erste Geschichte war zwar streng genommen nicht meine eigene, sondern es war die meines Großvaters, aber ich hatte ihr etwas Eigenes mitgegeben, das konnte ich spüren.

Sauber und ordentlich schrieb ich sie ab auf einen Bogen schön geschöpftes Büttenpapier mit grober Oberfläche und verpackte sie so sorgfältig, wie ich kaum ein Geschenk je eingepackt hatte und schenkte sie meinem Großvater zum nächsten Geburtstag.

Er las sie, gab mir ein paar Korrekturhinweise, die meisten davon bezogen sich auf inhaltliche Details, und sagte am Ende:

„Aber jetzt ist es deine Geschichte. Und wenn du sie so lassen willst, dann bleibt sie so. Weißt du, die Sache hat sich damals wirklich so zugetragen. Genauso wie ich es erzähle, so war es, so unglaublich sich das auch anhört. Aber wenn du sie so erzählst, dann ist sie so genauso richtig, verstehst du?“

Ich schrieb mir alles auf, was er mir an inhaltlichen Verbesserungsvorschlägen und Korrekturen gesagt hatte, aber ich korrigierte den Text nicht. Ich ließ ihn und legte ihn zur Seite, ich vergaß ihn, weil so viele weitere Texte dazukamen. Und als mein Großvater starb, war ich regelrecht geschockt, als ich seine Textversion in seinem Wohnzimmerschrank bei den Unterlagen seiner Ahnenforschung wiederfand.

Das ist jetzt schon so lange her. Er ist vor über fünfzehn Jahren gestorben. Und kein Wort am Text hat sich verändert. Seine Version ist zu meinen Texten in die Schublade gewandert. Alles in mir weigerte sich, den Text zu verändern, weil ich Angst davor hatte, den Text, den er gekannt hatte, zu verändern.

Aber die Zeit ist ein merkwürdiger Spielgefährte. Ich habe zwei Kinder inzwischen. Und wir sind in die Nähe des Waldes gezogen, wo wir jeden freien Augenblick hinein gehen und wandern. Und meine Tochter möchte, dass ich ihr Geschichten erzähle. Sie fragt, ob ich ihr was über Hexen erzählen könnte, oder über Trolle. Über Waldgeister. Und über den Fürst hätte ich wahrscheinlich nie ein Wort verloren, weil er seit er zum zweiten Mal in die Schublade gewandert ist, in eine dunkle Vergessenheit geraten war, wäre sie nicht beim letzten Spaziergang in den Wald hineingerannt und wenig später mit einem Holzscheit hervorgekommen.

„Da steht etwas drauf, liest du es mir vor?“, fragte sie.

Die Haut spannte sich über meinem Rücken so fest, als wolle sie zerreißen. Ich spürte, dass ich grinsen musste, aber es war ein trockenes, liebloses Grinsen.

„Da steht ‚der Fürst’.“, sagte ich.

„Was bedeutet das?“, wollte sie wissen.

Und so erzählte ich die Geschichte noch einmal und mir war, als hörten mir nicht nur meine beiden Kinder ganz aufmerksam zu.

 

Der Fürst

Es war ein verregneter Herbsttag und über die Äste der Bäume wehte ein gefälliger Wind, der leicht die nach Trauer aussehenden Äste der Buchen umher schwang, als wären sie lediglich Papierfetzen am Brett. Die Straße war aufgeweicht unter dem dritten Tag Regen. Und auf den Feldern waren wahre Flussläufe entstanden, die sich über das zogen, wo die Kühe sonst weideten. Außerdem war es schweinekalt. Die Hände aus ersichtlichem Grund in die Taschen gesteckt, den linken Ellbogen auf den Griff der Schrotflinte gelegt, so dass die gute alte Flinte sein gesamtes Körpergewicht ertragen musste, stand Nikolaus Brück, der von den anderen im Dorf Nickel gerufen wurde, in den dicht fallenden Wasserbändern.

Neben ihm, halb kniend, halb sitzend, verharrte sein um vier Jahre älterer Bruder Hermann, den alle aber nur als Josef kannten, weil sein Vater schon so genannt worden war und er dem Alten wie aus dem Gesicht geschnitten worden war. So war das damals in dieser Gegend. Kaum einer trug seinen eigentlichen Namen. Und nicht alle waren so gut weggekommen wie sie beide. Josef hatte neben seiner Schrotflinte auch den Ranzen mit dem Essen dabei. Sie waren auf dem Weg zum „Steinbacher Weg“, wo die verwitterte Buch auf dem Kastener Berg stand und den Treffpunkt markierte, an der sich die beiden Männer gewöhnlich mit Klees trafen, einem entfernten Onkel, der es auf dem Land bis zum Lehrer geschafft hatte. Aber weit und breit war von ihm nichts zu sehen. Vermutlich gab es Berufe, mit denen man es sich erlauben konnte, auch einmal unzuverlässig zu sein.

„Wo bleibt er nur?“, murmelte Josef, der nicht so grämig wie sein junger Bruder war.

„Sollen wir ohne ihn weitermachen?“, fragte Josef gähnend. „Er wird ja wissen, dass wir vom alten Hochstand jagen.“

Nickel atmete tief hörbar ein und warf einen knappen Blick zu seinem Bruder herunter. Wieder fiel ihm auf, wie unterschiedlich sie doch waren. Josef war blond und hager und hatte klare, vor tiefem Wissen strahlende Augen, sein Wesen war von lockerer und lustiger Art. Nickel dagegen war ernster, außerdem war er dicker und hatte schütteres, schwarzes Haar und unglaublich dunkle Augen. Sein strenger, ungepflegter Schnurrbart unterstrich nur seinen leicht nach unten gebogenen Mund.

„Wir warten!“, sagte er knapp und blickte wieder auf, woraufhin Josef sich mit einem leisen Summen erhob und seine Flinte über die Schulter legte.

„Meine ja nur. Wir müssen ja nicht hier auf ihn warten.“

„Da hinten kommt er schon“, stellte Nickel fest und zeigte mit dem freien Arm nach Norden. Josef hatte Probleme, den Punkt dort drüben immer durch den Regen und den Wind hindurch zu fixieren, doch Nickels Försteraugen hielten starr auf den immer größer werdenden Schemen, bis er schließlich zu einer Gestalt herangewachsen war, die eindeutig der längst erwartete Franz Kleeser war.

„Du hast dir ja mal Zeit gelassen, Klees.“, brummte Josef mit gespieltem Zorn und verkniff sich ein Lächeln.

„Hab noch kurz Martha etwas vom Arzt vorbeigebracht.“

„Ist sie krank?“

„Kommt schon!“, fuhr Nickel angespannt dazwischen. „Wir wollen heute auch wieder nach Hause. Wer weiß wie lange wir warten müssen.“ Und wie lange wir warten dürfen, ergänzte er in Gedanken.

Kleeser nickte stumm und Josef packte alles zusammen.

Schweigend gingen die drei unterschiedlichen Männer nebeneinander her und erreichten schließlich das ausgesuchte Waldstück.

Wortlos trennten sich die Männer und machten sich daran, ihre üblichen Posten zu beziehen.

Ihre Posten waren zwei gegenüberliegende Hochstände, die sich am Rand einer weiten Lichtung in der Mitte des Waldes befanden. Nickel nahm dabei einen, KLeeser und Josef den anderen. Von oben hatten sie einen freien Blick über die Lichtung, sodass sie eventuell die Tiere von beiden Seiten sehen und schießen konnten.

Die beiden Hochstände lagen voneinander kaum sichtbar hinter einer einsamen Baumgrenze, Nickels Hochstand lag zudem noch in einer eingedrückten Fuhr der Lichtung, so dass er, im Gegensatz zu den anderen, Tiere, die von dem Hauptweg zu ihnen stießen, später sehen würde, da er aber etwas höher ragte als die Bäume zu seiner Linken, konnte er den Wald in dieser Richtung besser beobachten. Mühelos zog er sich die Sprossen zu der Kabine hinauf und begann sich auf einen langen Tag einzurichten.

*

Es wurde stürmischer. Dem Wind, der sich jetzt über die Baumkronen bewegte, gelang es sogar, die stämmigeren Bäume des Waldes zu beugen.

Nickel fror unter den Luftwirbeln, die sich durch seinen Hochstand warfen und laut pfiffen. Die halbe Stunde Regenpause, die der Tag ihm heute gegönnt hatte, war nicht wirklich erholsam gewesen, weil trotzdem der Sturm von allen Seiten sein wüstes Windspiel mit ihm getrieben hatte. Es war weiß Gott kein Jagdwetter. Nicht, wenn man erfolgreich und professionell auf die Jagd ging. Da muss einen schon die blanke Not in den Wald treiben.

Bei klarem Verstand war man jedenfalls nicht, wenn man jetzt auf den Hochständen stand und auf einen Funken Glück zu hoffen wagte.

Nickel ließ müde seinen Blick sinken und versuchte seine Gedanken alle abzustellen. In dieser Nacht hatte er schon nicht gut geschlafen. Er war so übernächtigt und verkatert, als hätte er mit dem ältesten Schnaps der Welt ein Stelldichein gehabt. Kein Wunder, dass ihm heute die gute Laune ausgegangen war. Die Einsamkeit hier oben kam ihm da ja eigentlich gelegen. Wer einsam ist, kann sich allenthalben mit sich selbst anlegen, dachte er bissig. Und das lenkte ihn dann wenigstens teilweise von der Erschöpfung ab, die in seinen Gliedern hauste.

Wind und Regen waren seine einzigen Genossen hier oben. Das einzig Lebendige.

Plötzlich fuhr Nickel aber auf und griff dabei reflexartig zu seiner Flinte. Er hatte die Bewegung wahrgenommen und er wusste mit dem instinktiven Gespür des Fachmannes, dass es nichts mit dem Sturm zu tun hatte. Vielleicht ein tapferes Wildschwein, dem bei diesem Wetter die Decke auf den Kopf gefallen war. Nickel legte die Flinte an und visierte ungefähr die Stelle an. Der Wind legte sich tatsächlich etwas, doch nicht einmal ein Schatten von einem Tier tauchte auf.

„Ach, verdammt“, brummte er und ließ das Gewehr nach längerer Zeit wieder sinken. Dafür warf er flüchtig einen Blick zum Himmel. Es sah so aus, als würde sich wenigstens dort oben etwas tun. Mit überraschend großer Geschwindigkeit zogen die Wolken über ihn hinweg und rissen hin und wieder auf. Die Sonne würde wieder hervorkommen. Vielleicht in einer Stunde war der Wetterspuk wieder vorbei.

Das war doch mal ein erstes Gutes Zeichen für heute. Denn es geschah oft, dass die Tiere sich nach einem Unwetter auf eine Lichtung wagten, um dort zu grasen, bevor der nächste Unwetterschub einsetzte.

Also denn, dachte Nickel. Warten wir weiter.

Lange wurde er nicht auf die Folter gespannt. Fast an der Stelle, wo er eben noch die Bewegung ausgemacht hatte, schoben sich jetzt die Äste zur Seite und das Wildschwein trat vor. Die Augen suchten für einen endlosen Augenblick seinen Hochstand, die Hauer schoben sich lefzend auseinander und dann, ganz langsam, stapfte das Tier auf seine Lichtung.

Nickel legte an.

Er wollte warten, bis das Tier näher herangekommen war, dass es sich zwischen ihm und den anderen befinden würde, doch plötzlich blieb es stehen und streckte seinen Rüssel in die Luft.

„Was tust du denn jetzt?“, knirschte Nickel. Sein Blick war starr auf das Tier gerichtet, das ihm wie am Ende eines langen, dunklen Tunnels entgegenstand.

Da schrie das Tier auf, ein heller, durchdringender Schrei, fast schon menschlich, und rannte los: zurück. Nickel fluchte und riss die Flinte herum. Er zögerte noch einen kurzen Augenblick, dann drückte er endlich ab.

*

Sekundenlang geschah natürlich nichts. Dann wurde das Tier in seinem Lauf nach vorne geworfen und die Beine verkanteten ineinander. Nickel beobachtete, wie das Tier sich über den Kopf voraus überschlug und er konnte sehen, wie das Genick brach.

„Treffer!“, zischte er, während das Wildschwein vom eigenen Lauf mitgerissen wurde und durch das Dickicht aus seinem Blickfeld verschwand.

„Das hat mir noch gefehlt.“, er schüttelte seinen Kopf und rieb sich über die Augen. Nachdem er sich kurz gefangen hatte, drehte er sich um und stieg vom Hochstand. Das Tier war riesig gewesen und schnell war es allemal. Unglaublich schnell. Er konnte es gar nicht erwarten, diesen Fang zu sehen. Eilig überquerte er die Lichtung und folgte einer gewaltigen Blutspur zum Waldrand.

*

Erwartungsvoll und vor Neugierde zitternd schob sich Nickel über die Waldgrenze hinweg und suchte die Spuren ab. Und genau das war das merkwürdige. Es gab viel zu viele Spuren. Er hatte doch genau gesehen, wie das Tier sich überschlagen hatte und wie ihm der Kopf beim Überschlagen nach hinten gerissen worden war. Ganz egal wie groß das Schwein auch gewesen war und wie robust die Knochen, das Genick war ihm ganz sicher gebrochen. Und Blut gab es hier auch mehr als genug. Nur war das Tier nicht da. Äste waren umgeknickt und eine regelrechte Schneise war durch das Gehölz gezogen. Nickel schob störende Äste und Büschel bei Seite und arbeitete sich vor. Er folgte der Schneise immer weiter, bis … ja, bis sie abrupt endete. Keine Spur war mehr vorhanden, kein Blut, kein niedergedrücktes Gras und kein Wildschwein.

„Da soll mich doch der Teufel holen!“, rief er und blickte sich irritiert um. Er stand auf einem schmalen Trampelpfad, der einerseits zur Kaiserschlucht und andererseits auf eine kleinere Lichtung führte.

Das war unmöglich. Kein Tier konnte das überlebt haben.

„Das Tier hat wohl Schwein gehabt.“, hörte er in seinen Gedanken Josef lachen.

Nickel riss das Gewehr hoch und beschloss einer plötzlichen Eingebung zu folgen, die ihn zur Kaiserschlucht führen würde. Vielleicht hatte das Tier sich tiefer in den Wald geschleppt, um elendig zu krepieren.

„Wir werden ja sehen, wer zuletzt lacht.“, brummte er.

*

Während er den Weg zu der Schlucht abging, suchten seine Augen und der Lauf des Gewehres immer wieder die Hecken am Wegrand ab, die so hoch und dicht gewachsen waren, dass es beim besten Willen nicht möglich war für ein waidwundes Tier hindurchzukriechen ohne Spuren zu hinterlassen.

Er würde das Tier schon finden.

Nur nebenbei fiel ihm auf, dass sich weder Josef noch Kleeser zu ihm gesellt hatten um dem Schuss nachzugehen. Aber seine Gedanken waren dann doch zu sehr auf das Tier konzentriert und Josef und Klees schnell wieder von der Fährtensuche verdrängt. Dann erreichte er endlich die Kaiserschlucht, die sich bedrohlich tief zu seiner Rechten auftat, während links von ihm der Stein aus dem Boden emporwuchs und sich der Weg um ihn vorbei schlängelte. Der Weg besaß mehrere Kehren und bei jeder war es unmöglich, zu sehen, was dahinter lag. Jeder wusste, dass hier schon genug Unfälle passiert waren. Der Weg war zu eng und die Schlucht zu tief, die Steine zu kantig und zu abgetreten und rutschig. Nickels Großvater hatte hier noch als Steinmetz gearbeitet, das war zu der Zeit, als die Kaiserschlucht noch als Bruch gedient hatte. Nickel wollte verdammt sein, wenn nicht sogar sein eigenes kleines Haus aus dem Stein der Kaiserschlucht gebaut worden war.

Er selbst hatte mal fast einem anderen in der Schlucht das Leben genommen. Weil man zu schnell überrascht werden konnte von einem, der einem entgegen kam. Und wenn man dann noch nachts unterwegs ist, weil es verdammt gute Gründe gab, nicht gesehen zu werden, … Nickel musste dem anderen einen Heidenschreck verabreicht haben. Schlechte Gewissen machen nicht nur schreckhaft, sondern auch unvorsichtig, dachte er bei sich.

Er hielt inne. Die Kaiserschlucht war ein unpassender Name. Nickel hätte es besser gefallen, wenn man sie Teufelsschlucht oder Teufelsgraben genannt hätte.

Der Teufel wird dir hier eher begegnen als ein Waidwundes Wildschwein, schoss es ihm durch den Kopf. Seufzend blieb er stehen. Der Weg vor ihm sah schmierig aus und war heute garantiert noch gefährlicher als sonst. Dann eben wieder zurück, entschied er und seine Laune sank ins Bodenlose. Sollte er heute wirklich leer ausgehen?

Er hatte die ersten drei Kurven hinter sich, als er plötzlich auf halber Strecke vor sich eine kleine, gebückte Gestalt erkannte, die einen alten verkrüppelten Hund an der Leine führte.

Nickel hatte ja die Hoffnung auf sein Wildschwein schon aufgegeben, doch er beschloss den Mann einfach danach zu fragen. Außerdem färbte der Himmel sich bereits ins tiefdunkle Rot hinein. Er hatte keine Lust mehr und wollte nur noch nach Hause. Je erfolgreicher desto besser.

„Entschuldigen Sie … bitte!“, rief er dem Mann nach und begann zu rennen.

Der Alte hielt kurz in seinem Schritt inne und Nickel konnte sehen, wie er sich mit der Hand über sein schwarzes Haar fuhr.

„Bitte.“, rief er. „Ich … will nur etwas fragen.“

Er erreichte den Alten und da dieser sich nicht zu ihm umdrehte, ergriff er kurzerhand dessen Schulter und zog ihn mit sanfter Gewalt zu sich herum.

Erschrocken fuhr Nickel drei Schritte zurück, weil ihn das Gesicht des Alten entsetzte. Das Antlitz, das direkt vor ihm war, hatte etwas Gefährliches, Diabolisches. Der Mann hatte den Kopf gesenkt und verbarg ein Großteil des oberen Teils seines Gesichts im Schattenwurf seines breitkrempigen Hutes. Der Hund an seiner Seite jaulte leise und setzte zum Bellen an. Der Himmel hinter den beiden war nun fast völlig rot und zog dabei Schlieren nach unten, so als würde es dort drüben dunkelroten Regen vom Himmel regnen.

Oder anders herum, dachte Nickel. Der Regen fällt nicht, er steigt von der Erde in den Himmel hinein.

Durch die elektrisierende Farbgewalt schimmerte der Umriss des Alten weiß.

Alles kam Nickel auf einmal so bekannt und verzerrt vor, so als erlebe er etwas auf falsche Art zum zweiten Mal in seinem Leben. So als kenne er den Alten und seinen Hund und diese hässliche Stimme, unglaublich langsam und gedehnt: „Was gibt es?“, hauchte der Fremde mit schweflig saurem Atem. Eine unnatürliche Kälte stieg Nickel in die Glieder hinein.

„Ich bin der Fürst von Nassau.“, krächzte der Alte auf eine Art, als bedeuteten die Worte etwas ganz Anderes, etwas Ungesagtes, Magisches.

Nickels Herz schien sich zu verkrampfen. Er musste seinen ganzen Mut zusammen nehmen um den Satz herauszubringen: „Könnten Sie mir wohl sagen …“

Weiter kam er nicht mehr, denn der Alte hob langsam den Kopf an und langsam glitten Licht und Farbe in dessen Konturen hinein, so dass sich ihm das Bild des Mannes zeigten. Das Kinn lag tief und spitz zugezogen, der Mund schien darüber nur ein kurzer Punkt zu sein. Darüber eine schmale, aber lange, spitze Nase, die aus dem knochig kantigen Gesicht ragte. Und zwischen den Augen stand eine kurze, garstig verwachsene Narbe. Das Haar unter dem Hut war offenbar schüttern und grau.

Der Hund bellte und Nickels Blick fiel auf den Hund, der nicht mehr verkrüppelt war als alle anderen Hunde, die Nickel so kannte. Das Fell war zerfleddert und verfilzt, die Beine kurz und kräftig, die Augen waren auf keinen Fall tierische Augen. Es waren Menschenaugen, und, da schwor Nickel drauf, sie waren so intelligent und verstehend wie Menschenaugen. Die Schnauze des Hundes war dick angeschwollen und aus ihr rann Blut. Und dann sah Nickel die Wunde in seinem Rücken. Der Hund beugte sich vor, so als mache er sich zum Sprung bereit. Ein eiskalter Schauer überlief Nickel. Er spürte, wie seine Knie nachgaben und er vor dem Fürsten und seinem Monster einsackte. Ein furchtbarer Augenblick lang fiel der Kopf des Hundes wie haltlos nach unten, so als wäre das Genick gebrochen, aber das Tier nicht tot. Mit hasserfülltem Blick richtete der Hund den Kopf wieder unter großer Anstrengung auf.

Das Vieh öffnete ganz langsam das Maul und entblößte gewaltige Hauer.

Nickel taumelte jetzt noch weiter von dem unheimlichen Paar zurück.

Der Fürst lächelte schwach und riss in einem einzigen Schlag die Lider auf. Feuer prangte an Stelle von Pupillen in den tiefen Höhlen, die diese bargen. Feuer war es, das aus den Augen des Hundes stob. Feuer, das den Himmel hinter ihnen zum Bersten brachte und sich von allen Seiten auf ihn niedersenkte, nach ihm griff wie mit gewaltigen Klauen und nach seiner Seele grapschte.

Der Fürst streckte seine Hand aus.

„Du kannst hier nicht mehr weiter.“, hauchte er.

Nickel brachte kein echtes Wort hervor, nur ein kehliges Knarrzen in seiner Kehle. Dann spürte er für einen Moment eine unglaubliche Kraft in seinen Muskeln und stieß sich ab.

Der Fürst schrie und lachte schrill, der Hund bellte und knurrte, winselte und jaulte zugleich. Wie ein waidwundes Monster, das den Mond anheult.

Nickel schrie auf und taumelte auf den Alten zu, der den Kopf zurücklegte und atemlos lachte.

Nickel raffte sich zusammen und begann zu rennen. Er stürzte an dem Fürsten und seinem Hund vorbei und ins Dickicht hinein.

Hinter ihm hauchte es: „Niemand kommt an mir vorbei! Niemand.“

Und dann: „Fass ihn! Fang ihn mir.“ Nickel war schon zu weit weg. Aber es klang, als habe die Stimme es ihm direkt ins Ohr geflüstert.

Er wagte einen Blick über die Schulter und sah mit erschreckender Klarheit, wie die Leine, die zwischen Herr und Tier lag, in der Luft zu Staub zerfiel. Das Vieh fletschte die Zähne, knurrte und grollte und trampelte hinter ihm her.

Nickel stürzte benommen den Weg herauf und riss dabei seine Flinte hoch.

Das wütende Bellen des Hundes wurde lauter und schlug dann urplötzlich um eine tödliche Stille.

Nickel begriff.

Er warf sich im Laufen herum und schlug den Lauf der Waffe nach oben.

Der Hund sprang ihm entgegen und hätte ihn im Rennen von den Füßen gerissen, so jedoch prallte er mit dem Leib gegen den Lauf des Gewehrs. Der Schuss löste sich von selbst. Und als Nickel mit dem Rücken auf dem Waldboden aufschlug, während der Schmerz wie ein Sturm durch seinen Körper jagte und ihm die Sicht nahm, hörte er wie der Hund über ihm zersplitterte. Winzige Glasscherben regneten auf ihn herab und zerstachen ihm das Gesicht.

Ohne abzuwarten, was weiter geschehen würde, sprang Nickel wieder auf die Beine. Das Adrenalin gab ihm die Kraft, die Schmerzen vollständig zu ignorieren. Tief hinter ihm im Wald, dort, wo die Kaiserschlucht liegen musste, hörte er den Fürsten mit kehligem Laut fluchen.

*

Es regnete nicht einfach nur. Es war ein Weltuntergang.

Der Wind hatte Bäume ausgerissen und die Häuser im Dorf teilweise abgedeckt. Auf der Straße sammelten sich in Pfützen nicht nur Wasser, sondern auch Tierfedern, Ziegel, Werkzeug, ein Türgriff. Irgendwo sah er sogar einen Fensterladen auf der Straße liegen.

Zitternd vor Kälte und nackter Panik erreichte er sein Haus und stieß ohne anzuhalten die Tür auf. Keuchend rannte er an der Familie vorbei, die sich aus Sorge um ihn am Kamin versammelt hatte und er stürzte ohne Umschweife in die Küche. Dort angekommen, war das erste, was er tat – nein, was er tun musste – den Kopf in eine Schüssel mit kaltem Waschwasser zu stecken.

Als er wieder auftauchte, standen Josef und Kleeser in der Küchentür und starrten ihn an.

„Wo seid ihr gewesen!“, schnauzte Nickel sie an.

„Wir?“, fragte Josef entsetzt. „Die Frage ist, wo bist du gewesen? Hast du von diesem Sturm denn überhaupt nichts mitbekommen? Wir haben dir signalisiert, dass wir nach Hause gehen, als der Sturm losging. Als du uns nicht geantwortet hast, sind wir zu dir auf den Hochstand.“

„Wo du nicht warst.“, ergänzte Klees.

„Du bist ja schon immer egoistisch gewesen, aber dass du während der Jagd ohne ein Sterbenswörtchen zu verlieren einfach verschwindest …“

„Sturm?“, unterbrach Nickel sie. Eine innere Stimme warnte ihn. Tausend Alarmglocken schlugen gleichzeitig an. Ihm wurde schwindlig. Der Raum drehte sich. Hastig hielt er sich an der Küchenzeile fest.

Als er aus dem Fenster sah, blitzte es draußen auf und fast gleichzeitig rollte ein gewaltiger Donner über das Haus hinweg.

„Ich habe ihn draußen gesehen.“, murmelte Nickel.

*

Bis zum Abend hatte er sich weitestgehend erholt. Und das bedeutete, dass er sich eingeredet hatte, dass alles nur Blendwerk und Fantasie gewesen war.

„Wollt ihr wissen, wo ich war?“, tönte er seinen Neffen zu. Die Kinder johlten. Sie applaudierten und er erzählte gestenreich seine Geschichte.

Morgen, beschloss er, würde er mit Josef und Klees zu der Stelle zurückgehen, um diesen vermaledeiten Hund zu suchen.

Und wenn sie sich weigerten?

Dann ging er alleine.

*

Nickel gähnte. Er hatte sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt und starrte an den frischen Sommerhimmel, während er dem Gesang der Waldvögel lauschte. Es war ein schöner Tag, wie er fand, obwohl es etwas frisch und windig war.

Als Förster ging er an diesem Tag, wie jeden Tag seiner Arbeit nach, ohne zu ahnen, dass er den selben Weg ging, wie der halbe Holländer van Naab, einem umherstreunenden Vagabunden, der in der Gegend dafür bekannt war, dass er leidenschaftlich wilderte.

Es sind schlimme Zeiten. Nickel wusste, dass ein Mann wildern musste, um zu überleben. Er wusste es nur zu gut.

Das Gesetz ist ein biegsames Eisen, pflegte er zu sagen. Und man darf nie vergessen, dass die Gesetze nur für den Menschen gemacht sind. Wo sie gegen ihn sind, müssen sie gebrochen werden.

Nickel verstand das.

Als er den vagabundieren Holländer an diesem Tag auf frischer Tat ertappte, dachte er sogar daran, den armen Jungen laufen zu lassen. Er dachte daran, dass van Naab mit seinen acht Kindern und einer windsüchtigen Frau hierhergezogen war. Als er sagte: „Heda, hier ist Jagdverbot!“, löste sich aus Naabs Gewehr ein Schuss und ohne dass Nickel den Einschuss spüren konnte, wurde er zurückgeworfen.

Er konnte nichts sehen, aber er hörte, wie der arme Dreckskerl panisch aufschrie und davonrannte.

Nickel stand langsam wieder auf und diesmal wogten sanft die Schmerzen von seiner Brust in den Körper hinein, in denselben Kreisen die auch der See unten im Tal immer gemacht hatte, wenn er einen Stein hineinwarf. Sein rechter Arm war gelähmt und eine große Blutlache breitete sich langsam aus.

„Guter Schuss.“, sagte er anerkennend und stolperte blindlings dem Holländer nach.

Er folgte der Spur, die der gehetzte Mann im Blattwerk gelegt hatte. Nach ein paar Schritten hörte er hinter sich ein Geräusch und als er sich umdrehte, sah er Naab in die entgegengesetzte Richtung fliehen.

Ohne zu zögern, änderte auch Nickel die Richtung. Er wollte wieder nach dem Wilderer rufen, aber in seinem Mund schmeckte es jetzt so, als habe er an einer Münze geleckt.

Dornen und Äste zerschnitten sein Gesicht und ein rückfedernder Ast klatschte ihm quer ins Gesicht. Es klang absurd, aber das waren beinah größere und ärgerlichere Schmerzen als die Gewehrkugel in seiner Brust.

Dann stand er plötzlich vor Naabs Rücken. Der Holländer warf sich herum und riss seine Flinte hoch. Mit einem ungelenken Sprung rettete Nickel sich hinter einen Baum. Die Salve traf nur die Rinde.

„Lass das doch! Lass den Unsinn.“, schrie Nickel Naab hinterher.

Irgendwo heulte ein Hund.

„Ist doch nicht nötig, so ein Treiben zu veranstalten. Willst du wegen Mord oder wegen Wilderei in den Bau?“

Wieder hörte er nur einen Hund als Antwort und erst da ging ihm ein Licht auf.

*

„Das ist er“, bestätigte Kleeser, der Dorflehrer.

„Vier Schüsse, eine davon ins Gesicht.“, sagte der leitende Polizist. „Außerdem eine Kratzspur an der Schläfe und hier … könnten Hundeabdrücke sein. Sind aber mächtig groß.“

„Haben Sie schon eine Ahnung?“, fragte Kleeser und unterdrückte ein Würgen.

„Ja.“, antwortete der Polizist. „Wir haben eine Flinte gefunden. Auf ihr sind die Initialen F v N. Das sagt ihnen doch was, oder?“

Klees wurde bleich. Er hatte jetzt ein mulmiges Gefühl. Sein Magen verkrampfte sich.

„Er hat da immer diese Geschichte erzählt, dass der Fürst von Nassau ihn töten will.“, murmelte Klees. Der Polizist hatte ihm gar nicht zugehört. Denn ein zweiter war aufgetaucht, mit einem gehetzt aussehenden Mann an seiner Seite.

„Friedrich von Naab. F.v.N. Das ist doch ihre Waffe, oder?“, fragte der erste Polizist.

Nein, dachte Klees. Das ist nicht seine Waffe.

„Ich weiß nicht, wovon Sie da reden.“, stammelte der arme Kerl.

Klees ging in die Knie. Er musste die Fußspuren dieses Hundes berühren. Er musste spüren, dass sie echt waren, wirklich da waren. F.v.N., dachte Klees und sein Finger berührte die Abdrücke, die der Hund des Fürsten von Nassau hier hinterlassen hatte, eines Fürsten, der schon seit über hundert Jahren tot sein musste.

 

Abschluss

Ich würde die Geschichte heute anders erzählen. Aber sie ist wirklich passiert. Mein Großvater hat immer gesagt, sein Onkel Nickel habe vier Jahre lang prophezeit, er werde vom Fürsten von Nassau im Wald erschossen. Weil er ihm damals „von der Schippe gesprungen“ sei.

„Aber der Fürst von Nassau lässt einen nicht los.“

Mein Großvater hatte immer den Kopf geschüttelt am Ende der Geschichte und gelacht, sein lautes Lachen; das, das immer in den Ohren vibriert hatte. Und dann hatte er gesagt, dass er nie begreife, wie Nickel ausgerechnet auf diesen Fürsten von Nassau gekommen wäre. Was ausgerechnet dieser Fürst in diesem Wald gesucht hatte, zu dem er historisch eigentlich gar keinen Bezug gehabt hatte. Aber Nickel hatte sein Leben lang darauf bestanden. Auf die Begegnung im Wald mit dem Fürsten, auf den Hund mit den brennenden Augen, auf das Tier, das er geschossen und nie gefunden hatte.

Und darauf, dass der Fürst ihm eines Tages die Rechnung hinlegen würde.

„Entweder kommt der Fürst oder sein Hund oder beide.“, hatte er immer gesagt.

„Macht aber keinen Unterschied. Eine Rechnung ist eine Rechnung. Egal wer sie dir bringt. Der Preis ist immer der gleiche.“

Offiziell war Nickel von einem Wilderer erschossen worden.

Der Wilderer wurde zwar gefasst aber nie verurteilt.

Zu viele Ungereimtheiten.

Mein Großvater war jedenfalls überzeugt und das war sein größter Änderungswunsch für die Geschichte: Es darf keinen Zweifel geben. Am Ende war es der Fürst, schreib das hin: Am Ende, da war es der Fürst.

(1993/1994)

Was sagt ihr dazu?