Dirt in the ground (1/4)

Es fällt leicht, einen Menschen wie Gero Dortmünder zu hassen. Einer, der sich sein Glück nicht verdient hat. Er hatte es zu Geld gebracht, ohne je dafür wirklich gearbeitet zu haben. Solche Menschen gibt es zu viele, wenn man mich fragt. Er lebt in einem großzügig geschnittenen Haus. So eins, wie man es nur aus Filmen oder Katalogen kennt. Die perfekte Einrichtung hat er sich noch nicht einmal selbst hergeschleppt. Da ist kein Schrank selbst aufgebaut. Nicht mal das Modellschiff auf dem Vitrinenschrank ist von ihm geleimt worden. Aber das ist ja nicht mal. Ich gönne jedem Menschen sein Glück, ganz ehrlich. Soll doch jeder sein eigenes Ding durchziehen und glücklich werden. Wenn er doch nur die anderen Menschen genauso in Ruhe und Frieden leben lässt, wie wir ihn. Meinetwegen kann er alleine zu Grunde gehen oder mit den Menschen, die es mit ihm aushalten. Aber so genügt sich einer wie er nicht.

Ich zünde mir die dritte Zigarette für heute Abend an und merke schon, wie mir der Krebsrauch im Kopf zwischen die Gedanken schwebt. Soweit zum Thema „einen kühlen Kopf bewahren“.

Stöhnend werfe ich das Fernglas auf den Beifahrersitz und dann zähle ich bis drei und steige verdammt noch mal aus. Kein Schlüssel aus dem Zündschloss ziehen. Kein Abschließen vom Auto. Ich mach die Autotür zu, das wird reichen.

Dann gehe ich rüber über den Kiesweg zur Haustür. Ich gehe zu diesem Dreckskerl, der an allem Schuld ist und der sich sein ganzes Leben lang keine Mühe gegeben hat zu einem Typ zu werden, den man nur ansatzweise sympathisch finden kann.

Dortmünder steht am Briefkasten und sieht zu mir auf als ich näher komme. Er erkennt mich natürlich nicht, weil er für mich mehr ist als ich je für ihn sein könnte. Nicht wahr, da sollte ich wohl erschüttert sein oder so. Weil das Ungleichgewicht auf dieser Welt so groß ist, dass man andere Leute vernichten kann ohne selbst sich auch nur an den anderen erinnern zu müssen. Aber nein. So einfach gestrickt bin ich. So selbstlos und bescheiden, nicht wahr? Es macht mir überhaupt nichts aus. Weder, dass er mich nicht erkennt und mich sogar mit Unschuldsgrinsen fragt, ob er mir helfen könne, noch, dass ich die Waffe ziehe, die ich seit Tagen bei mir trage und ihn grob zurück ins Haus schiebe. Ich spüre gar nichts. Keine Reue. Keine Angst. Keine Genugtuung. Keine Menschlichkeit. Es ist auch alles nicht wie ein Film. Das hatte ich nämlich erwartet. Dass ich, wenn es soweit ist, nichts spüren kann, weil man wie aus sich selbst herausgetreten ist und nur noch zusieht, wie alles passiert. Von wegen. Ich bin mitten drin. Ich spüre einfach nur nichts mehr.

Und Dortmünder lässt sich ins Wohnzimmer hineindrücken, lässt sich die Pistole in den Mund stecken und lässt sich auf die Wohnzimmercouch fallen, er lässt sich … er lässt sich … er lässt sich.

In meiner Fantasie hatte ich ihn oft so da vor mir sitzen sehen, wie ein Häufchen Elend und ich, der voller Macht über ihm stand hatte ihn in der Fantasie angebrüllt: Siehst du, was du davon hast. Du hast gedacht, du wärst etwas besseres als der Rest der Menschheit. Aber du bist auch nur ein Wurm. Einer, der langsam verblutet, wenn ich das so will. Und dann hatte ich ihn in meiner Fantasie angeschossen, links in die Seite, knapp über dem Hüftknochen. Und ich würde zusehen, wie er verblutet, ganz langsam und wimmernd und hilflos und elend.

In der Realität aber stehe ich jetzt aber da und schweige.

Er ist mit mir allein im Haus. Das weiß ich. Ich habe das Haus den ganzen Tag über beobachtet. Er windet sich winselnd und gleichzeitig immerzu grinsend auf dieser Ledercouch herum und ich stehe da mit der Waffe und der Macht und bin gefühllos und stumm.

„Wer zum Teufel sind sie?!“, brüllt er mich auf einmal an. „Was soll das alles? Was wollen Sie?“

Und ich bin beeindruckt, dass er mich unter diesen Umständen auf einmal siezt. Merkwürdig nicht wahr? Bei all unseren Gesprächen hatte er mich bisher geduzt.

Ich blicke auf die Waffe. Weil ich mir nicht sicher bin, ob er mich oder sie siezt.

Dann setze ich mich ihm gegenüber in einen Designersessel und seufze. Die Waffe lege ich mir auf die Knie.

„Scheiße.“, sage ich.

Er kommt ziemlich schnell wieder zu seiner alten Arroganz, finde ich. Man kann es in seinen Augen sehen. Die anfängliche Panik, die vor allem von der für ihn unfassbaren Geschwindigkeit der Ereignisse gekommen sein muss, ist auf einmal fort. Statt dessen blitzt er mich jetzt gehässig an. Und er knirscht mit den Zähnen bevor er sagt: „Keinen Mut mehr, mich abzuknallen, wie?“ Er reibt sich mit den Handballen über die Augen. Dann redet er weiter: „Kann halt nicht jeder. Mann, du hast mir echt einen Schrecken eingejagt. Dachte wirklich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen, wie man so schön sagt. Hab schon mein halbes Leben an mir vorbeirauschen gesehen. Aber du bist einer, der im letzten Moment merkt, dass er Mist gebaut hat. Gott sei Dank.“

Ich weiß, dass er mich immer noch nicht kennt. Dass er mich duzt ist so etwas wie eine alte Gewohnheit. Genauso wie er jetzt mit den Fingern knackt, ehe er sich gemütlicher in seinem Sessel zurücklehnt. So ganz anders als in meiner Fantasie.

Ich sage: „Warum duzen Sie mich?“ und dann schieße ich doch. Ihm direkt in den Fuß um genau zu sein.

Was ist lauter? Sein Schrei oder mein Schuss?

Er rutscht vom Schmerz nach unten gezogen auf den Teppich, den er zublutet wie eine Schlachtsau.

Ich sage: „Ich wird mir was zu trinken holen. In der Küche gibt’s die Gläser, oder?“

Und im Vorbeigehen reiße ich das Telefon aus der Station und nehme sein Handy mit, das auf der Glasablage bei der Treppe nach oben liegt.

Ich werfe beides, Handy und Telefon in ein Aquarium mit leuchtenden Salzwasserfischen. Das Handydisplay leuchtet noch einmal. Vielleicht ist es Wasserdicht. Als ich zurückkomme, habe ich auch ein Glas Wasser für ihn dabei.

„Hier.“

Er starrt mich an und er trinkt, weil er alles so surreal empfindet und es keine Gegenwehr fürs Surreale gibt. Sofort spuckt er alles wieder aus.

„Gift!“, röchelt er.

„Unsinn.“, sage ich. „Wie dämlich wäre das? Zu schießen und zu vergiften.“, dann erkläre ich es ihm: „Da ist Salz drin. Wegen des Blutverlustes.“

Er starrt mich an wie etwas, das es in seiner Welt nicht geben durfte.

Ich stelle mein Glas wieder auf den Tisch und dann sage ich: „Meine Hände zittern überhaupt nicht. Gesehen?“

Er zögert ziemlich lange, als ich die Waffe wieder auf ihn richte, nickt er heftig. Als die Waffe wieder auf meinem Knie zum Ruhen kommt, wagt er, sich wieder auf die Couch hoch zu hieven. Jetzt kann ich sehen, dass er in der kurzen Zeit, in der ich in der Küche gewesen bin, sich den Schuh ausgezogen hat und die Socke. Ich sehe seinen Fuß, der nur ein blutiger Klumpen ist.

„Versucht, ihn abzubinden?“, frage ich. Er nickt wieder. Ich greife in meine Jackentasche und ziehe Verbandszeug hervor. Die werfe ich ihm hin.

„Fuß abbinden, damit man nicht verblutet.“, sage ich und dann sehe ich ihm zu, wie er schnürt und festzieht und knotet und immer wieder innehält und die Kräfte verliert, das Gesicht verzieht. Ich sehe ihm beim Umgang mit den Schmerzen zu, so als wäre ich das asoziale Tier, das keinen Funken Menschlichkeit mehr in sich hat. Als wäre ich der Psychopath.

„So hat sich alles umgedreht.“, sage ich. „Eben noch war ich das Opfer und du der kranke Irre. Und jetzt … sieh uns an.“

Er verzieht das Gesicht. Natürlich, was hätte er sonst tun sollen?

„Ich bin nicht gerne hier.“, erkläre ich ihm. „Es ist nur so …“, ich suche eine Weile nach den passenden Worten. Und dann fühlt er sich wieder genötigt die Sache wieder selbst in den Griff zu bekommen. Er kommt einfach nicht aus seiner Haut heraus. Er muss das Gefühl haben, die Oberhand zu besitzen:

„Lass mich raten“, hastig korrigiert er sich, obwohl es mir gar nicht aufgefallen wäre: „Lassen Sie mich raten. … Sie sehen keinen Ausweg mehr. Irgendwas in Ihrem Leben ist mächtig aus dem Ruder gelaufen. Sie sind ganz normal unterwegs gewesen und plötzlich auf der Verliererspur aufgewacht. Und jetzt brauchen Sie einen Sündenbock. Und den glauben Sie, in mir zu sehen.“

Ich nicke.

Das fasst das ganze ziemlich gut zusammen.

„Die Verliererspur.“, wiederhole ich. „Das klingt, als ob das Leben so eine Art Straße wäre. Und als ob jede Spur dieser Straße in eine andere Richtung führt.“

„Ist es nicht so?“, knurrt er.

„Noch nie darüber nachgedacht.“, gestehe ich und sehe, wie der Spott sofort wieder auf seinem Gesicht aufblitzt. Er sagt nichts, aber die Augen sagen: „Hättest du vielleicht besser.“

„Ok. Wie heißen Sie eigentlich? … Komm schon, Mann, ich glaube, ich verdiene zu wissen, wie das … wie der Typ heißt, der mich abknallen möchte, es aber nicht tut.“

„Schneider.“, sage ich. „Björn Schneider.“

Er lacht. „Scheiße.“, lacht er. „Scheiße, scheiße, scheiße, Mann.“

So viele Flüche passen gar nicht zu dem Haus und dem Stil von Dortmünder. Aber die Worte kommen so fließend über seine Lippen, als ob es seine Muttersprache wäre.

„Und mit dem Mund küsst du deine Mutter.“, entfährt es mir. Aber das hört er gar nicht. Weil er sich jetzt in sein eigenes Lachen reinsteigert. Es ist ein gefährliches Lachen, finde ich. Eins, bei dem man nicht aufhören kann und bei dem man gleichzeitig nichts empfindet.

Ich denke: Ich kenne das, nichts zu empfinden, mein Freund. Und wie ich das kenne.

„Ausgelacht?“, frage ich. Und dann noch: „Sind wir bald fertig mit Lachen?“

Er blafft mich auf einen Schlag an: „Du hast sogar einen scheiß Allerweltsname. Ein Nullachtfünfzehnverlierer. Du bist so ein verdammtes Klischee.“

Ich zögere, dann reiße ich die Waffe hoch und setze eine zweite Kugel in den anderen Fuß.

Jetzt ist der Schrei so unfassbar laut, dass ich rot werde. Irgend jemand wird ihn garantiert hören. In dieser Gegend stehen die Häuser weit auseinander, man hat die Wände garantiert sehr gut isoliert, aber wer laut genug schreit, der wird auch gehört.

In Gegenden wie diesen zumindest.

Diesmal bricht Dortmünder ohnmächtig zusammen. Muss ihm wohl die Arroganz aus dem Leib geschossen haben. Dachte immer, die säße in der Nähe der Augen. Geirrt. Arroganz kommt von ganz weit unten. Jetzt wo beide Füße durchlöchert sind, gibt es keine mehr, die ihn bei Bewusstsein hält.

Ich stehe auf, verbinde ihn, schnüre ihm den zweiten Fuß auch noch ab. Ich kümmere mich recht sorgfältig um alles. Und dann denke ich nach. Wo ist es in diesen Häusern am sichersten, jemanden schreien zu lassen. Welcher Raum ist am dichtesten isoliert?

Nachdem ich eine Runde durchs Haus gedreht und einen Überblick bekommen habe, werfe ich mir Dortmünder über den Rücken. Er hängt jetzt da hinten runter und seine Arme hängen mir über die Schultern nach vorn. Ich bin nicht geübt im Menschen schleppen. Aber Dreckskerle wie den schaff sogar ich. Seine blutenden Füße hinterlassen Schleifspuren auf dem Boden. Ich ziehe ihn die Treppe nach oben und denke: Sei froh, dass du ohnmächtig bist. Denn seine Füße schlagen bei jeder erstiegenen Stufe mit der Oberseite gegen die unteren Treppenkanten. Dann schleppe ich ihn zum Ende des Flurs ins Schlafzimmer. Leute wie du haben garantiert lauten Sex und wollen nicht, dass das einer merkt.

Er liegt also endlich auf dem Bett und ich schnapp mir sein Tablet vom Nachttisch. Das Ding ist direkt verbunden mit einem Beamer, der mir das Display an die Wand wirft. Kein Passwort, kein Pin. Ich komme direkt rein und finde alle Dateien, die er sauber und ordentlich nach Nachname sortiert hat. Es sind so viele, dass es mich gar nicht wundert, dass er sich nicht an mich erinnert. Es gibt zehn mit meinem Nachnamen. Meine Datei hat vierzig Seiten.

Ich lese mir jede einzelne durch.

Auf Seite achtzehn wird er wach. Und ich bekomme es nur deshalb mit, weil er mich ruft.

„He, Schneider! Haben Sie gefunden, was Sie gesucht haben? Warum knallen Sie mich nicht einfach ab?“

Ich seh ihn an. Und dann sage ich ganz ruhig:

„Da liegt ein Irrtum vor. Da gibt es etwas, dass du finden musst, Dortmünder.“ Ich stehe auf, richte die Waffe jetzt zum ersten Mal auf seine Stirn und gehe so nahe an ihn heran, bis er das warme Metall auf seiner Haut spüren kann. Er hat so weit aufgerissene Augen, dass man denken könnte, die fallen gleich raus. Aber die starren mich nicht vor Angst an, wie ich es mir in meiner Fantasie vorgestellt habe. Das da ist Zorn. Ich muss darüber lächeln. Ja, wirklich, dieser Zorn löst jetzt endlich etwas in mir aus: Das Gefühl, dass wir auf dem richtigen Weg sind und zwar jetzt endlich beide gemeinsam. Ich sage:

„Und glaub mir: ich werd dir helfen, es zu finden.“

„Schieß doch“, fordert er mich auf. Und dann in formvollendet provokanter Langsamkeit: „du Arsch!“, was mein Grinsen noch breiter macht. So breit wie es in meiner Fantasie auch noch Minuten nach dem letzten Schuss war.

Es klingelt an der Tür.

Zweimal.

Und jetzt grinst er.

 

Hier geht es zum zweiten Teil!

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