Dirt in the Ground (2/4)

Die Autorin Patricia Hampl hat mal so was Ähnliches gesagt wie: „Eine Biografie ist ein Zeitstrahl, der durch Ereignisse unterbrochen wird.“

Ist das nicht spitze?

Mich hat es beeindruckt.

Weil das Leben einfach läuft, selbst wenn es keine Ereignisse gibt, die die Zeit unterbrechen und dem Leben für eine kurze Periode eine Bedeutung verleihen.

Ich glaube daran, dass Dortmünders Leben keine Bedeutung hat, jetzt wo ich ihn verlasse und nach unten gehe. Im Spiegel überprüfe ich kurz, ob ich irgendwo verdächtige Blutspritzer an mir habe. Dann öffne ich die Tür und sehe eine verdammt gut aussehende junge Frau vor mir. Meine Mühe war umsonst. Sie ist blind. Hält sogar einen Blindenstock. Sie ist blass und sie fragt: „Herr Dortmünder? Ist bei Ihnen alles in Ordnung.“

Es ist ihre Blindheit, die mich einfrieren lässt. Ich habe mir bei der Planung etliche verdammt gute Geschichten zurechtgelegt. Ich könnte eine Karteikarte ziehen und einfach nur vorlesen, was darauf steht. Aber sie ist blind. Und das weckt etwas in mir. Vielleicht eine falsche und dämliche Sentimentalität, dass ich mich mies fühle, wenn ich sie jetzt anlügen muss.

„Es tut mir Leid, ich bin nicht Gero.“, wenn man mit der Wahrheit beginnt, sollte die Lüge nicht schwer fallen. „Und ja, es ist alles in Ordnung.“

Sie weicht beim Klang meiner Stimme einen misstrauischen Schritt zurück.

„Wer sind Sie?“, fragt sie.

„Mein Name ist Schneider.“, Wahrheit und Lüge geben sich Hand in Hand. „Ich bin ein Kunde von Herrn Dortmünder. Er hat sich eben verletzt und verbindet sich gerade den Fuß. Er hat mich gebeten, für ihn zu schauen, wer an der Tür ist.“, wir machen so etwas Ähnliches wie uns gegenseitig anstarren. Sie sieht natürlich nichts, aber sie hat eine Art an sich, mich zu mustern. Vielleicht lauscht sie auf den Klang meiner Stimme und zieht aus der Sprechweise ein Bild hervor, das mir ähnlich sehen soll. Es wird mir nicht ähnlich sehen. Niemand kann sich einen Menschen korrekt vorstellen.

Oder es sieht mir ähnlicher als ich es möchte.

Das erinnert mich an den Notfallplan.

Dass, wenn alle Stricke reißen, ich sie in die Wohnung ziehen muss und auch unter Kontrolle zu halten habe.

Ich lächle sie an, bis ich merke, dass sie es nicht sehen kann.

„Er hat sich verletzt.“, wiederhole ich. „Ich nehme an, Sie haben ihn schreien gehört.“

„Ja.“, sagt sie und sieht jetzt verlegen aus.

„Ich weiß nicht mal, wie es passiert ist.“, gebe ich mich redselig. Das Geheimnis hinter dem Lügen besteht darin, für einen Augenblick die Lüge selbst zu glauben. „Er wollte nur kurz etwas zum Trinken holen. In der Küche. Da muss es passiert sein. Hab ich mich erschreckt.“, in ihrem Gesicht kann man nicht lesen wie in normalen Gesichtern. „Kommt plötzlich rausgehumpelt und blutet. Entschuldigt sich und geht ins Bad.“

„Sind Sie sicher, dass es ihm gut geht?“

Ich zucke mit den Schultern. Wieder dieser Fehler. Wer sich zu sehr auf die Lüge konzentriert übersieht die Details, die in Wahrheit direkt vor seiner Nase liegen.

„Ich weiß es nicht. Ich sehe gleich nach ihm. Wenn nicht, muss ich ihn wohl noch ins Krankenhaus fahren.“

Sie nickt. Dann lächelt sie.

„Also dann“, sagt sie. Ich wiederhole es. Sie dreht sich ab und geht.

Langsam schließe ich die Tür und wage es noch, nach „Herr Dortmünder“ besorgt zu rufen. Ich lausche auf die Schritte im Kies. Als die Blinde weg ist, renne ich nach oben.

Störungen haben Vorrang!

Das hat damals in Dortmünders Büro an der Wand gehangen. Genau dieser Satz. Ausgedruckt auf ein schäbiges Stück Kopierpapier. Es fiel direkt ins Auge, weil es das einzige war, was nicht gelackt, gerahmt, auf Glanzpapier oder in Szene gesetzt daher kam.

Ist wohl nicht deine Devise gewesen, denke ich. Weil dein Chef es so wollte. So sind nämlich Leute wie du. Tun alles, um denen da oben zu gefallen. Stiefellecker hat man euch früher genannt. Und während ihr oben die Stiefel leckt, treten eure eigenen Stiefel nach denen da unten.

Nach mir und meinesgleichen.

Ich bin oben und sehe, dass es keinen Grund zur Aufregung gibt. Der Kerl liegt noch immer mit blutenden Füßen im Bett und giftet mich an.

„Brav gemacht.“, lobe ich ihn.

„Die Blinde?“, fragt er.

„Woher weißt du das? Kommt sie öfter nach dir sehen?“

Er grinst wieder schief, aber jetzt fällt mir auf, wie stark sich seine Gesichtsfarbe verändert hat. Er sieht blass aus. Ausgeblichen. Wie ein Kleidungsstück, dass man zu oft getragen hat und aus dem allmählich die Farben rausgewaschen sind.

„Wenn Sie eine Frau gewesen wären, hätten Sie es leichter gehabt, ihr zu erklären, wo der Lärm herkam.“

„Klar.“, sage ich und beschließe, sein Geprahle einfach zu ignorieren. Ich setze meine Arbeit fort.

Das treibt ihn zur Weißglut: „Du setzt dich jetzt da hin, um vor meinen Augen meine Dateien zu lesen? Das hättest du ehrlich gesagt billiger haben können. Das hätte ich dir auch für einen mickrigen Zeh gegeben.“

„Ich suche was Spezielles.“, sage ich beiläufig. „Dann kümmer ich mich wieder um dich.“

Er schnaubt, muss sich aber damit begnügen, dass er noch nicht an der Reihe ist.

Es dauert leider nicht allzu lange. Als ich es finde, bin ich auf Seite vierundzwanzig.

„Hast du einen Drucker angeschlossen?“, ich erwarte gar keine Antwort, drucke einfach aus. Dann sehe ich ihn wieder an, wie er da liegt, in einer Mischung aus Leid und Wut die Decke anstarrt.

„Das ist meine Datei.“, sage ich. „Wir sind uns nämlich schon mal begegnet.“

„Das ist jetzt die Stelle, wo Sie mir endlich erklären, wieso ich für Ihr Leben verantwortlich bin, hab ich Recht?“

„Nein.“, antworte ich. „Du bist für mein Leben nicht verantwortlich. Das bin ganz allein ich selbst.“

Jetzt sieht er mich doch wieder an.

„Aber, mein Freund, du trägst für die Dinge die Verantwortung, die du meinem Leben zugefügt hast. Meine Geschichte lief nicht immer reibungslos, nein, das würde ich nie behaupten. Ich hab auch eine Menge Mist gebaut, eine Menge Pech gehabt und eine Menge Glück.“, ich wiege in meiner linken Hand unsichtbar das Pech und in meiner rechten das Glück. „Am Ende hebt sich das eigentlich auf, weißt du.“, die Waage, die meine Hände darstellen pendelt sich in ein Gleichgewicht. „So ist das im Leben. Wenn alles läuft, dann hast du immer wieder Pech und immer wieder Glück. Du brauchst um das eine nicht zu jammern und das andere nicht zum Protzen.“, die beiden Hände bringen Glück und Pech zusammen zu einer großen Faust. „Aber es läuft eben nicht immer. Es gibt nämlich noch etwas im Leben. Es gibt Arschlöcher. Versicherungsvertreter, Bankangestellte, Busfahrer, die losfahren, obwohl sie sehen, dass du gerade angerannt kommst. Es gibt Menschen, die“, die Faust kehrt wieder in die Waage zurück, „Menschen, die noch eine ganze Schaufel voll mit Scheiße dabei haben und dir in die Waage reinwerfen.“, das Pech wiegt schwerer als das Glück. „Entweder sie werfen dir die Scheiße dorthin, wo es hingehört“, ich winke ihm mit der Pechhand zu. „Zum Pech.“, nur für den Fall, dass er nicht aufgepasst hat und meine Zeichensprache nicht mehr so ganz versteht. Ich weiß ja nicht, wo das ganze Blut hergekommen ist. „Andere werfen es dir ins Glück“, die zweite Hand. „Um dir das zu vermiesen, was für den Ausgleich verantwortlich ist.“

„Und was davon hab ich getan?“

„Du gehörst zu der seltenen Spezies, die mit einem Schlag beides kann.“

Im Nebenzimmer piepst es. Ich gehe rüber, sehe, dass der Druck fertig ist und kehre mit dem Blatt zu ihm zurück.

Ich lese ihm vor, was er selbst vor einem halben Jahr über mich geschrieben hat: „Die von Schneider entwickelte Verfahrenstechnik zeigt viel Potential. Die von ihm geäußerten Ambitionen dagegen, lassen erhöhte Zweifel aufkommen, ob sich seine Entwicklungen markttauglich umsetzen lassen.“

Ich warte einen Augenblick, lasse das Blatt sinken und sage dann: „Wunderschön, nicht wahr? Formvollendet formulierter Bullshit.“

„Es wird wohl nicht besonders gewesen sein.“, stöhnt er. Er klingt nicht gut, finde ich und deshalb mustere ich ihn kurz, überprüfe noch einmal seine Wunde und gebe ihm wieder etwas zum Trinken.

„Wir sollten die Füße hochlagern.“, überlege ich.

„Wir sollten mir nicht in die Füße schießen.“, antwortet er zynisch.

„Dann sollten wir aber auch nicht die marktuntauglichen neuen Verfahrenstechniken unserer Kunden aus der Schublade nehmen und sie an korrupte Pharmaindustrien verkaufen. Ich habe ziemlich lange an meinem Verfahren gearbeitet, weißt du, ich habe es sehr zeitintensiv immer wieder überarbeitet, man kann sagen: unter Aufopferung meines Privatlebens perfektioniert. Verstehst du mich noch? Du siehst so abwesend aus?“

„Ich verblute, du Schwein.“

„So schnell verblutest du nicht. Du bist gut verbunden. Es dauert über ein halbes Jahr, bis man so richtig ausgeblutet ist.“

Er starrt mich an, dann begreift er, dass ich nicht über ihn geredet habe. Seine Konzentration ist nicht auf ihrem Höhepunkt.

„Ich bin nicht daran Schuld, dass du … Sie … den Wert Ihrer eigenen Arbeit nicht kennen.“

„Ich kannte den Wert.“, korrigiere ich ihn. „Aber ich habe Wert auf den menschlichen Wert gelegt. Nicht auf den Geld-Wert.“

„Gutmenschen.“, keucht Dortmünder. Aber jetzt hat er wohl selbst genug von seinem allmählichen Abbau. Er reißt sich zusammen, robbt jetzt eigenständig in seinem Bett nach unten und hievt sich unter enormer Kraftanstrengung die bleischweren Füße auf die untere Bettkante. Dann nimmt er seine ganze Konzentration zusammen und sammelt Kraftreserven. Als er die Augen wieder aufschlägt und mich anblickt, sieht er fast wieder so aus wie früher.

Ist er nicht fabelhaft unser Dortmünder. Ein wahres Kraftgenie, nicht wahr? Einer, der nie aufgibt. Der immer oben schwimmt. Und der das Verlieren nicht kennt.

Wäre nur mein erster Eindruck von ihm auch so gewesen. Als wir uns begegnet sind, hat er eine ganz joviale Vorstellung zum Besten gegeben. Mit freundlichem Handschlag und vorgespielter Ehrlichkeit und Verständnis.

Natürlich war es mir immer auch ums Geldverdienen gegangen. Kein Mensch arbeitet nur für Luft und Liebe. Und man weiß ja, was die Welt am Laufen hält. Jedenfalls keine rosaroten Gedanken. Aber ich hatte den Funken Anstand, meine Arbeiten in den Dienst der Menschheit zu stellen und hätte unter zwei Angeboten nicht das höher Bezahltere gewählt, wenn das niedrige Angebot einen größeren Effekt versprochen hätte.

Jetzt jedenfalls liegt mein Verfahren in Schubladen. Verschachert für den Preis des Niemals-Einsetzens. Denn am meisten zahlen nicht die, die effektiver Medikamente herstellen wollen, sondern die, die darum fürchten, dass das Produkt den Markt verändert und man selbst auf der Strecke bleibt.

„Gutmenschen. Es sind aber auch immer die, die Ideale haben, die an der Realität scheitern und denen dann nichts anderes übrig bleibt, als durchzudrehen. Am Ende ist auch der Gutmensch der Wolf, den er verabscheut.“, Dortmünder meint es wirklich ernst. Nur deshalb lasse ich ihn weiter reden: „Ihr immer und euer ‚für die Menschheit’. Ihr tut so, als verachtet Ihr es, wenn wir uns wie Wölfe gegenseitig zerfleischen. Aber wenn es darauf ankommt: Sehen Sie sich doch an. Was unterscheidet Sie denn jetzt noch von mir? Der Mensch ist des Menschen Wolf. Jeder ist nur an sich interessiert. An sein eigenes Fortkommen.“

„Ist das so?“

„Na klar. Was war es denn, was Sie so tolles gemacht haben? Ein kostengünstiges Verfahren, um Medikamente günstiger und besser und vielleicht noch in kürzerer Zeit herzustellen. Das hätte nicht den ganzen Markt umgekrempelt, aber seien wir ehrlich: Es hätte schon einige Jobs in der Industrie gekostet. Ich habe das gemacht, was Sie nicht gemacht haben. Ich habe ihr Produkt auf den Markt geworfen und das Patent an den verkauft, der das größte Interesse daran hatte. Damit liegt der Ball nicht mehr bei mir oder bei Ihnen. Wenn die Käufer das Patent nutzen wollen: super. Wenn nicht: auch gut. Die Entscheidung gehört nicht Ihnen oder mir. Und die Verantwortung ist schon wieder wo anders. Sehen Sie das nicht? Wir beide sind zu kleine Fische in diesem Teich.“

Ich schüttele den Kopf. Und ich frage: „Erinnerst du dich an mich? An mein Produkt? An unsere Gespräche in deinem Büro? An dieses Dokument?“, ich zeige auf das Tablet.

„Sie sind einer von Vielen.“, sagt er. „Das ist mein Job. Verstehen Sie? Mein Job. Ich bin die Gelenkstelle, mehr nicht.“

Ich sage: „Ach, wenn es nur das wäre.“

„Was denn noch?“, fragt er. „Was wollen Sie von mir?“

„Das sagte ich doch bereits“, antworte ich ihm verwundert. „Aber pass auf: Eine Biografie ist ein Zeitstrahl, der durch Ereignisse unterbrochen wird.“

Seine Augen flackern irritiert.

„Und das, was du mir ereignet hast, mein Freund, ist der Grund, weshalb wir beide heute hier sind. Du hast meine Biografie unterbrochen. Und jetzt nehm ich den verlorenen Faden einfach wieder auf.“

Es geht so schnell, dass Dortmünder diesmal keine Zeit zum Schreien findet.

Nachher muss ich ihn fragen, ob er überhaupt etwas gemerkt hat.

Als ich die Spritze aus seinem Hals wieder herausziehe, ist jedenfalls schon alles vorbei. Ein Zittern geht durch seinen Körper und es bilden sich kleine Schaumbläschen auf den Lippen. Ich warte entspannt, bis die letzte geplatzt ist. Dann mache ich mich an die Arbeit.

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