Dirt in the Ground (3/4)

Er hat kein einziges Buch in seinem Haus.

Sagt man nicht, ein Haus ohne Buch sei ein Haus ohne Seele?

Ja, ich weiß. Wenn man das Schlechte sehen will, dann sieht man es. Überall hier. Alles in dieser Wohnung, von der ich überzeugt bin, dass sie seinen Charakter widerspiegelt, widert mich an oder stößt mich wenigstens ab. Ich finde nichts, womit ich mich beschäftigen könnte. Keine Zeitschrift. Kein Fernseher. Diese Wohnung ist nichts als eine weiße Wand, eine Projektionsfläche. Und alles ist still. So still, dass die Vergangenheit mit ihrer grauenhaftesten Stimme bis zur Gegenwart hineinbrüllt.

In meiner Fantasie gab es diese Zeit nicht. Diese Zwischen-Zeit.

Die Zeit des Wartens, dass er wieder erwacht.

Es gab immer nur mich und ihn und die Datei, die ich viel zu schnell bis zum Ende gelesen habe. Der Mailverkehr, der jetzt auch bis zum Ende gelesen ist und der doch nur bestätigt, was ich längst weiß.

Dortmünder hat nicht einfach nur meine Arbeit gestohlen. Es wäre lächerlich für einen kleinen Diebstahl so weit zu gehen, nicht wahr?

Früher hat man in Persien Dieben die rechte Hand abgeschnitten. Wurde er dann zum zweiten Mal beim Stehlen erwischt, verlor er auch seine linke Hand. Ohne Hände kann niemand stehlen.

Diese Art der Strafe ist pragmatisch, nicht wahr? Nicht so wie heute und bei uns. Strafe dient der Resozialisierung des Täters und der symbolischen Wiedergutmachung des Opfers. Kein Auge um Auge. Mord wird mit dem Begriff der Gerechtigkeit Genüge getan. Aber ein Mann im Gefängnis bringt keinen Toten mehr zurück zu den Lebenden. Wahre Gerechtigkeit wäre Wiederherstellung des Lebens, Zurückspulen des Films, Auslöschen der Ereignisse, die die Biografie zerschnitten haben.

Wahre Gerechtigkeit gibt es deshalb nicht. Sie liegt außerhalb unserer Macht.

Es gibt nur Gefühle.

Das Gefühl, dass der Mörder seine Strafe bekommen hat. Dass der Wahnsinnige, der einem normalen Geschäftsmann ohne Seele in beide Füße geschossen hat und ihm zwei Spritzen verabreicht hat, bestraft wird.

Jede Übeltat vernichtet den Normalzustand.

Jede Strafe stellt ihn wieder her.

Dortmünder hat Recht: Ich bin auch nur ein Wolf unter Wölfen. Dreck unter der Erde. Ich bin wie er. Er wie ich. Wir sind, wenn man es mal poetisch betrachten möchte, Brüder. So wie Kain und Abel.

Nur ist der eine tot und der andere verflucht.

„Wer von uns ist Kain und wer ist Abel?“, frage ich ihn. Aber er schläft. Und ich habe wenigstens seinen gut gelagerten Wein gefunden und mich bedient.

„Du hast doch nichts dagegen, oder? Immerhin habe ich dich verarztet.“

Das stimmt.

Ich habe seine Füße verbunden so gut es geht. Er blutet nicht mehr und sein Kreislauf ist stabil. Das ist mehr, als er sich wünschen könnte, nicht wahr?

„Was … willst … du?“, krächzt er und wird endlich langsam wach. Ich verzeihe ihm, dass er mich duzt. Ich denke, Brüder tun das so.

„Wenn ich Gerechtigkeit sage, wirst du nur lachen, oder?“

Er lacht wirklich. Nein, er hustet. Er keucht. Sein Atem geht rasselnd und schwer.

„Wir hatten unseren Spaß, oder nicht?“, fragt er jetzt. Ich sehe, dass er im Schlaf zu neuer Kraft gefunden hat. Und eine neue Strategie versucht. Er wirkt matt, aber nicht erschöpft. Er kommt zu sich und sein Geist ist so lupenrein wie eh.

„Lass mich einfach gehen.“, dann lacht er. „Ich meine: Geh du doch einfach. Ich werd dir nicht hinterhergehen können, oder nicht? Und die Polizei rufe ich auch nicht. Versprochen. Du hast deinen Standpunkt klar gemacht. Mit dir ist nicht zu scherzen. Du bist ein verdammt harter Hund und ich bin das Arsch in dieser Geschichte.“

„Das klingt zynisch.“, gestehe ich. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich der mit der Waffe bin.“

„Was willst du denn noch erreichen? Sei ehrlich. Hast du die Sache überhaupt bis zum Ende durchgespielt? Hast du dir überlegt, wie es ausgehen wird? Du kannst mich erschießen, du kannst dich erschießen. Das Ergebnis bleibt gleich: Du wirst nicht aus der Tür gehen und dein Leben weiterleben wie bisher.“

Jetzt bin ich es, der zynisch grinst.

„Du wirst nicht glücklicher nachdem du mein Haus verlässt – Tod oder lebendig. Du wirst dich nicht gerechter fühlen und deine scheiß Patentierung, dein Weltverbesserungsverfahren wird auch nicht auf einen Schlag dir gehören.“

„Es war mein Lebenswerk.“, sage ich.

Er verdreht natürlich die Augen.

„Meine Frau hatte Leukämie.“, sage ich.

„Tut mir Leid.“, meint er und es klingt nicht ernst. Es klingt gelangweilt.

Aber ich rede weiter: „Eine Variante. Natürlich. Nichts Gewöhnliches. Die Zytostatika haben nicht gewirkt. Die weißen Blutkörperchen im Blut haben sich vermehrt wie wild. Es war ein unaufhaltsames Spiel. Sie hat diese stecknadelkopfgroßen Blutflecke auf der Haut bekommen. Zuerst ein kleines auf dem Rücken, zwischen den Schulterblättern. Wir haben es den ersten Blutstern genannt. Nachher, als wir begriffen haben, was es denn war.“

„Es muss schlimm gewesen sein.“, sagt er. Und dann spezifiziert er: „Verfahrenstechniker für pharmazeutische Produkte, Entwickler, technischer Ingenieur. Hilflos bei der Krankheit der eigenen Frau.“

Ich ignoriere den Spott, weil er Recht hat.

„Ja, es war schlimm.“

Dass ich ihm zustimme, das ist es, was ihn aus dem Konzept bringt, was seinen Zynismus machtlos werden lässt. Er dreht den Kopf hastig zu mir rüber und starrt mich an.

„Es gibt Gentherapien.“, fahre ich fort. „Und da setzt mein Verfahren an. Aber lassen wir das, nicht wahr?“

„Hättest du sie retten können?“

„Nein.“, gestehe ich. „Zwei Jahre zu spät.“

„Shit.“, sagt er.

„Wenn dir so was passiert“, frage ich ihn. „wie würdest du wieder Kraft finden? Ich meine, nur mal angenommen es gäbe da jemanden, den du lieben würdest.“

Er verzieht wieder den Mund. Aber er denkt wirklich darüber nach, was er tun würde, nicht über einen dämlichen Spruch. Er sagt schließlich: „An irgendwas muss man Halt finden, das stimmt schon.“

Ich tippe an das Weinglas. „Alkohol.“, sage ich. Er lacht.

„Ich würd zu Sandra gehen. Die kennst du ja schon. Meine Nachbarin.“

„Die Blinde?“

Er nickt.

„Eine verdammt gute Freundin. Kumpeltyp. Hört immer zu. Die weiß, wie ich funktioniere und wie sie mich wieder … erden kann, zurückholen kann.“

„Auch ein Wolf?“, frage ich lauernd.

„Sandra?“

„Ein Wolf.“, wiederhole ich. „So wie wir alle. Es gibt nur Wölfe und Wölfe, die sich wie Gutmenschen aufführen, um sich etwas vorzumachen. Erinnerst du dich?“

Er wendet den Blick von mir ab.

Nach einiger Zeit sagt er: „Muss wohl auch ein Wolf sein. Sonst hätte sie schon längst Hilfe geholt. Die hat dich mit Sicherheit durchschaut. So gerissen wie du denkst, bist du nämlich nicht.“

Ich nicke. Dortmünder hat schon wieder Recht.

„Ich war zwei Jahre zu spät.“, sage ich wieder. „Glaubst du wirklich, dass man sich da ‚gerissen’ fühlt?“

Wir schweigen uns an. Der beste Augenblick um miteinander zu trinken. Ich gebe ihm sein Weinglas, das er bis jetzt noch nicht bemerkt hat.

Er richtet sich auf und trinkt einen Schluck. Dann sagt er: „In dieser Stimmung hätte es auch ein teurerer Wein getan.“

Ich erzähle weiter: „Wir haben sie verbrannt, nicht beerdigt. Meine Tochter meinte, es wäre ungesund, krankes Blut zu beerdigen. Sie war genauso zynisch wie du.“

Er lacht bitter: „Wir hätten uns bestimmt gut verstanden. Deine Tochter und ich.“

„Ganz bestimmt.“, sage ich tonlos.

„Sie ist jetzt auch tot.“, sage ich und er schweigt. Er schweigt und starrt an die Decke, das Glas in der Hand. Er kommt wieder mehr zu Kräften durch den Wein.

„Verdammt viel Pech für ein Leben.“, sagt Dortmünder. „Da muss man ja durchdrehen.“

„Schlaftabletten.“, rede ich unbekümmert weiter. „Eine ganze handvoll Schlaftabletten. Ein vier Seiten langer Abschiedsbrief, zerrissen im Mülleimer. Zwei Anrufe, die mich nicht erreicht haben. Und ein Leben voller Fragen. Wir Menschen sind nicht dafür geschaffen, unsere eigenen Kinder zu beerdigen, glaub mir das.“

Er glaubt es mir, trinkt aber nur, sagt kein Wort.

„Wenn man so will“, werde ich wieder poetisch, „habe ich dreimal mein Lebenswerk verloren. Prima Bilanz. Aber nennen wir es doch wie du: Die Verliererspur. Was mich wieder zu deiner Frage bringt: Wie stelle ich mir das Ende dieser Geschichte hier vor? Ganz ehrlich, darüber habe ich ganz lange nachgedacht. Und zwar am Anfang meiner Planung. Ich habe mich hingesetzt, an meinen Schreibtisch in der Garage. Dorthin, wo ich auch die Verfahrenstechniken entwickelt habe, die zwei Jahre vorher meiner Frau das Leben hätten retten können. Und dorthin, wo ich auch gesessen habe, als mich die Polizei anrief, um mich darüber zu informieren, dass meine Tochter Selbstmord begangen hatte. Und ich habe mich gefragt: Was willst du, Björn. Was willst du? Die Antwort war leicht: Gerechtigkeit. Die Frage war nur: Wie kriegt man sie.“

„Die machen dir deine Frau und deine Tochter auch nicht mehr lebendig.“, fährt er dazwischen. In seiner Stimme klingt Panik.

„Du verstehst nicht. Du redest von einer anderen Gerechtigkeit als ich. Für mich ist Gerechtigkeit, wenn alles wieder ins Gleichgewicht kommt. Hier, sieh her.“ Ich mache die Doppelhandfaust und löse beide Hände voneinander. Die Pechhand links, das Glück rechts. Beide wiegen auf gleicher Höhe.

„Da ist Scheiße auf beide Seiten reingeworfen worden, erinnerst du dich? Die muss weg. Dann ist alles wieder im Gleichgewicht.“

Er starrt mich an.

Also öffne ich das kleine Ledermäppchen wieder und zeige ihm die Spritzen.

Langsam scheint er zu verstehen, er fasst sich an den Hals.

„Was hast du getan?“, fragt er.

Ich sage „Gerechtigkeit.“, was in meiner Fantasie so geklungen hatte, als ob der Racheengel persönlich es ausspricht. Aber die Realität kommt selten an die Erwartungen heran. Es klingt stumpf und so ausgehöhlt, dass ich begreife, dass eigentlich ich es bin, der keine Seele mehr hat.

Meine Seele ist verbrannt.

Aufgestiegen in den Himmel als Rauch.

Untergegangen in den Schlaf.

Ausgemerzt durch Ereignisse.

Ich reibe mir die Augen.

„Es dauert jetzt nicht mehr lange.“, erkläre ich ihm. „Versprochen. Wir sind fast fertig.“

Aus völlig unverständlichen Gründen fängt er an zu wüten und zu schreien. Er springt fast vom Bett und will mir an die Gurgel.

Er ist bereit, wieder der alte Wolf zu werden. Wenn man die Augen leicht zusammendrückt, sieht er auch aus wie ein Raubtier. Mit den gefletschten Zähnen, mit der tierischen Angst und dem ungebändigten Hass. Mit der Gier und der Rohheit, der Blutlust.

Teufel, dein Name sei Mensch.

 

Was sagt ihr dazu?