Ich bin schon wieder in einen Erdrutsch geraten.
So nenne ich bestimmte Augenblicke in meinem Leben, in denen mir alles irgendwie abhanden kommt. Und mit „alles“ meine ich nichts Materielles. Ich meine mich.
Es begann damit, dass ein Internetunternehmen bei mir zu Hause Kabel neu verlegen musste. Rückblickend empfinde ich das als ziemlich metaphorisch. Dumm war nur, dass die Kabel hinter den Schränken meiner Bibliothek zu verlaufen hatten. Und so räumte ich alle Schränke an einem Tag aus, ließ den guten Mann arbeiten und räume den Schrank nun seit über einer Woche wieder ein. Es dauert viel länger, die Bücher wieder einzusortieren. Bei manchen Büchern frage ich mich, warum ich sie überhaupt habe, wie zum Beispiel ein Ratgeber für die perfekte Liebhaberin. Ich bin mir ziemlich sicher, das Buch nie selbst gekauft zu haben. Aber wer schenkt einem Mann so ein Buch? Andere Bücher irritieren mich weitaus weniger, aber ich grübele darüber nach, sie loszuwerden, wie zum Beispiel Jürgen Todenhöfer „Inside IS“, das ich wahrscheinlich niemals lesen werde. Und auch bei dem Buch frage ich mich, wo ich es her habe.
Meine Biografien habe ich beschlossen, diesmal chronologisch zu sortieren. Dann passen zwar nicht mehr alle Bücher ins Regal, weil die „Dokumente eines Lebensweges – Albert Einstein“ Ausgabe zu hoch für das Regalbrett modernerer Biografien ist, ich es also genauso quer legen muss wie der Bildband „Kafka in Paris“. Aber immerhin ist jetzt Ordnung in der Sache.
Während ich sortierte, hatte ich die Hoffnung, ich würde mir über eine Sache klar werden, die mir in der letzten Zeit ziemlich vernebelt geworden ist: Wer ich bin, was ich da für ein Mensch bin, einer der Guten oder einer derjenigen, die es gut meinen, aber nicht schaffen. Ein besoffener hat mich zu Studentenzeiten beim Lesen von „Henry Miller: Sexus“ mal dreist angesprochen und gefragt: „Lebst du im Indikativ oder im Konjunktiv?“ und das hab ich mir in das Buch mit Bleistift hineingeschrieben und gemerkt. Ganz nebenbei: ich finde das Buch nicht mehr. Wo um alles in der Welt habe ich es? Es wird mir doch nicht auf der Strecke geblieben sein! „Stille Tage in Clichy“ ist ebenfalls verschwunden. Genau wie das heißgeliebte Kinderbuch „Henriette Bimmelbahn“ von James Krüss. Das war ein schöner Sammelband mit vier oder fünf gereimten Krüss-Geschichten, die meine Tochter so geliebt hatte. Gerade von diesem Buch hätte ich nie erwartet, dass es mir einmal verloren geht. Eigentlich pass ich auf meine Bücher verteufelt gut auf.
Bücher sind für mich nämlich nichts anderes als das Spiegelbild meines Gehirns. Ich brauche keinen Cat-Scan um zu sehen, wie es in mir aussieht. Man braucht nur mein offenes Bücherregal. Da sieht man genau, was ich für ein Mensch bin. Man sieht die Biografie von Karl Marx und von Wittgenstein, man sieht den Schrank mit den philosophischen Grundlagenwerken aus der Studienzeit und der Gegenwart. Da stehen Marc Aurel, Epikur, Platon neben Slavoj Zizek, Faucoult und Hannah Arendt.
Ich bin, das kann ich sagen, während ich das Regal einräume, ein merkwürdiger Kauz. Ich glaube, auf der ganzen Welt gibt es keine Büchersammlung, die mit einer anderen völlig identisch ist. Und wenn ich mich hier so umblicke, und wenn ich in meiner Fantasie unsichtbare Fäden spanne zwischen den ganzen Gedanken, die hier vor mir versammelt sind, dann beschleicht mich wieder dieses Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen wegbricht.
Das ist keine Midlifecrisis, dafür bin ich noch zu jung. Ich will ja auch nicht aktiv mein Leben ändern, alles hinter mich werfen, irgendwelche Fäden neu spannen und neue Wege gehen, die ich mir in der Vergangenheit selbst verschüttet habe. Ich will mich nur endlich wieder begreifen, weil die Kabel neu verlegt worden sind, das ist alles.
Das Internet gibt doch immer öffentlich an, dass es heimlich Daten von jedem sammle und dadurch ein Profil erstelle. Es heißt doch immer, es gäbe nur fünf verschiedene Menschentypen und wenn man nur alle Daten beisammen hätte, könne ein gut ausgefeilter Computer genau berechnen, wer man denn sei.
Na dann, her damit.
Wenn ich die Adresse hätte, würde ich das Internet gerne anschreiben und um einen Zwischenbericht bitten.
Was ist das für ein Mensch, der den „Herrn der Ringe“ in seinem Leben schon zweimal für sich gekauft hat – weil die erste Ausgabe zu Tode geritten worden war – und die neue Ausgabe jetzt direkt neben Haruki Murakami platziert hat? Was ist von diesem Mann zu erwarten, der ein ganzes Fach mit Comics – u.a. the Walking Dead – angelegt hat und dessen Frontseiten stur geradeaus auf das „Handbuch der Semiotik“ blickt. Von Theodor Adorno hat er nur eine kindgerechte Comic-Ausgabe über dessen Leben. Aber von Wagner hat er gleich drei Biografien.
Und wenn du mir diese Datenauswertung schickst, verehrtes Internet, dann füg bitte noch den Wert bei, den dieser Mensch hat, weil das etwas ist, was den Erdrutsch ein wenig beenden kann.
Es gibt nur fünf Menschentypen, ganz ehrlich.
Ich habe ja keine Ahnung, ob das stimmt, aber ich las mal, dass eine größere Firma über Facebook Fragespiele verschickte und hypete, in denen man immer nur mit fünf Ergebnissen konfrontiert wurde. Es waren so spiele wie „Beantworte uns diese Fragen und wir sagen dir, welcher Baum du bist“ oder „welcher Stein“ oder „welche Farbe“ oder weiß der Geier. Die Leute haben diesen Blödsinn wie verrückt ausgefüllt. Vermutlich ist es das ursächliche Bedürfnis des Menschen nach der ultimativen Selbsterkenntnis. Man möchte Sicherheit wenigstens in sich selbst haben. Ein Geländer am Rand der eigenen Seele will man haben, damit man nicht abrutscht, wenn es wieder einen Erdrutsch im Brustkorb gibt.
„Was haben Sie nur so viele Bücher?“, hat der Typ natürlich gefragt, während er das Kabel verlegte. „Das kann man doch gar nicht alles im Kopf haben.“
Als Antwort habe ich nur gegrinst.
Er hat brav die Kabel neu verlegt und ist wieder gegangen mit den Worten: „So, jetzt läuft es bei ihnen wieder.“
Und ich hab nur gedacht: „Vergiss es. Jetzt läuft erstmal gar nichts.“ Und seitdem bin ich am Bücher neu sortieren. Und mich am Fragen, was das für ein Mensch geworden ist, der diese ganzen Sachen da im Kopf hat.
Ein ganzes Regal voller Steven King.
Ein ganzes Regal voller Enzensberger.
Ein Regal voller Bücher, die ich selbst geschrieben habe und nie überarbeitet.
Das bin ich vielleicht: Ein Leben im Konjunktiv.