Hundeurin und Schlangengruben – Essay

Man sagt, ein Hund würde niemals einem anderen Hund ans Bein pinkeln.

Gemeint ist, eine Gemeinschaft hält immer zusammen.

Selbst wenn ein Mitglied dieser Gemeinschaft gegen geltende Regeln verstößt, wird es sich der Solidarität der anderen Mitglieder sicher sein können. Grund dafür ist ein ganz einfacher: Solidarität ist eines der großen Symptomen von Zusammenhalt und damit Stabilität und Stärke.

Sollte ein Polizist ein Verbrechen begehen, so wird ein anderer Polizist eher geneigt sein, diesem zu verzeihen oder das Verbrechen zu vertuschen. Natürlich gilt dies unter Vorbehalt, denn es gibt durchaus Normbrüche – hier Verbrechen – die als eindeutiges Austreten aus der Gemeinschaft gewertet werden. Hierzu zählt das Verletzen von Tabus, das Brechen größerer Normen, das Verletzen von grundlegenden Rechten und Pflichten. Dazu zählt aber auch: das an das Bein pinkeln selbst.

Denn genau darin liegt die Stärke dieses Prinzips, es symbolisiert nicht nur die Stärke der Gruppe, es forciert und kreiert sie auch. Hätte unser Polizist selbst einem anderen Polizist ein kleines Vergehen übel genommen und dieses zur Ahndung gebracht, so darf er seinerseits nun nicht mit Gnade rechnen.

Solidarität ist der Kitt einer Gruppe. Bricht diese auf, weil in verstärktem Maß mehr auf der Solidarität widersprechende Aspekte bestanden wurde, droht auch die Gruppe auseinander zu brechen.

Was für kleine Gruppen gilt, lässt sich auch an Großgruppen untersuchen.

Als vor nicht allzu langer Zeit Politiker reihenweise dadurch auffielen, dass sie ihre tragenden Titel nicht verdient, sondern mittels Plagiat erschummelt hatten, stellte man in einem ersten Schritt fest, dass kein Hund dem anderen ans Bein pinkeln wollte. Im Gegenteil: Man signalisierte offenherzig, dass man dem rufgeschädigten Politikerkollegen beistehen wolle. Man deckte ihm den Rücken, bekundete, es müsse sich um einen Irrtum handeln und je mehr Beweise ans Licht kamen, umso mehr wurde relativiert: Sei dies so schlimm? Plagiat, was ist das schon? Zitieren, wer braucht das schon?

Am Ende waren zwei Konsequenzen unausweichlich: Der Politiker verlor sein Amt, alle treuen Hunde wandten sich ab, einige pinkelten sogar zum Abschied hinterher.

Soweit die kleine Gruppe. Die große Gruppe ist die Gesellschaft, die von diesen Politikern angeführt wurde. Es zeigte sich zusehend nicht eine Diskussion über „Plagiat, was ist das schon?“, sondern, angeführt von Polithäme und David-Goliath-Sympathien das Gefühl einer bizarren Bestätigung. Das Vertrauen in Politgrößen war bereits am Bröckeln und es sollte immer mehr davon abgetragen werden. Tragischerweise verwandelten sich unter dem wachsenden Druck des Volkes auf die Gemeinschaft der Politiker, diese Politiker von Hunden zu Schlangen.

„Eine Schlangengrube“ heißt heutzutage das Bonmot. Und gedacht wird hier an zwei Tiere, die bereit sind, sich gegenseitig zu vergiften. Es wird mehr an die Gnadenlosigkeit dieser hypnotischen Tiere gedacht, die sich nicht um die Herde oder das Rudel scheren, als vielmehr dem Leitspruch folgen: Jeder für sich.

Die Großgruppe heißt „Nation“, oder je nachdem, welcher Gesinnung man folgt auch „Heimat“. Das Klima darin wird geprägt von den mächtigen Kleingruppen, wie zum Beispiel die Politiker, deren Verhalten rückwirkt.

Wir haben längst eine Gesellschaft, die lachen würde, wenn man sie fragt, ob Politiker heute noch als Vorbilder dienen. Aber vorbildlich wirken sie doch. Ihr Verhalten ist das Signal für die Grenzen der Gesellschaft. Das heißt: Das was die Oberen tun, das wird beäugt. Und es wird beäugt, was die Konsequenzen sind, die die Oberen erfahren. Wenn ein Politiker lügt, dann ist das Wort grundsätzlich nichts mehr Wert.

Wenn man Meinungen vertritt, die bar jeder Logik sind, dann ist Logik wertlos geworden. Denn man sieht ja: Die Oberen haben Erfolg damit, wenn sie Lügen und Meinen. Wenn sie schimpfen und fluchen. Wenn sie sich gegenseitig vom Thron stoßen und es den Anschein hat, dass sie mehr nach eigener Macht gieren, denn nach einer Verbesserung der Umstände.

Ich wette, wenn wir eine Umfrage machen, werden wir etwas feststellen: Fast alle werden mehr oder weniger gut erklären können, was das Wort „Egoismus“ bedeutet.

Die Worte „Tugend“ und „Altruismus“ werden als ausgestorbene Fremdwörter in die Geschichte eingehen.

Das ist viel tragischer als dass keiner mehr den Unterschied kennt zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit, zwischen These und Theorie, zwischen Toleranz und Alles-ist-erlaubt.

Was sagt ihr dazu?