Schnee

So this was how you died, in whispers that you did not hear
(Ernest Hemingway)

Was weißt du?

Nichts! Verdammte Scheiße!

Konzentrier dich! Reiß dich zusammen! Panik hilft dir nicht weiter! Du sitzt in einem Auto. Da muss es doch mehr geben!

Ich bin allein.

Draußen liegt Schnee. Es ist scheißkalt. Fühlt sich nicht so an, als ob das Auto sich in den letzten hundert Jahren von der Stelle bewegt hätte. Alles ist verrostet, arschkalt. Ich spüre meine Finger nicht mehr. Es ist eine Kälte, die sich in mir einnistet und mich verschlingen wird. Ich werde sterben! Ich bin tot. Es gibt keinen Weg hier heraus, ich …

Du verlierst schon wieder den Kopf. Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen. Es gibt immer einen Ausweg. Sieh dich um! Was siehst du noch?

Bäume.

Gut. Sehr gut. Weiter so! Sammle Informationen. Alles könnte wichtig sein.

Ein Wald. Nadelbäume. Keine weiteren Anhaltspunkte. Tut mir leid. Nicht mal die Spur von Menschen.

Spuren! Es fehlen Spuren! Wie bist du hier hergekommen, wenn es keine Spuren im Schnee gibt? Es schneit nicht. Seit du wach bist, hat es nicht geschneit. Aber so lange kannst du noch nicht hier liegen. Du bist nämlich noch am Leben. Und du hast noch eine Restkörperwärme.

Ok. Langsam. Fangen wir vorne an. Wie bist du hierhergekommen?

Keine Ahnung.

Konzentrier dich!

Also gut. Letzte Erinnerung. … Marvin und Lisa!

Sehr gut. Wir waren essen. Im Dominos. Mit Lisa aus der Finanzbuchhaltung. Wenn man mit ihr essen geht, wird man wirklich satt. Es gab wirklich viel zu essen. Sie schlug das alte griechische Restaurant vor, in das ich schon immer rein wollte. Sie erzählte, dass es bald dicht machen würde. Wir würden also nicht mehr viele Möglichkeiten haben, dort hinzugehen. Es roch nicht gut. Wie eine Mischung aus Knoblauchschweiß und saurem Essig. Es war ein großer dunkler Raum mit schwarzen Möbeln. An der großen Wandseite rechts war ein riesiger Spiegel, damit alles viel größer wirkt. Links ein Panoramabild der Akropolis. An vielen Stellen abgeblättert. Wir saßen direkt im Angesicht von Poseidon mit seinem Dreizack, der auf unseren Teller gerichtet war. Ein hässliches Gesicht. Sieht aus der Nähe verzerrt aus. Kein großartiger Maler.

Wir haben gegessen als gäbe es kein Morgen.

Dann ist nicht viel Zeit vergangen: meine Kleider stinken immer noch und mein Magen fühlt sich so an wie immer, wenn ich abends zuvor zu viel gegessen hab. Er knurrt und ist leer aber aufgebläht und dick.

Wir nähern uns.

Aber wieso kann ich mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin? Mitten in den Wald, angeschnallt auf dem Beifahrersitz einer Schrottkarre, die halb im Schnee versunken ist. Als ich das Handschuhfach geöffnet hatte, war das auch randvoll mit Schnee. Ich hab noch die selben Kleider an wie gestern, aber keine Jacke. Ich bin mir sicher, dass wir, als Lisa und ich das Domino verlassen hatten, unsere Jacken anhatten. Ich bin mir sicher, weil sie gesagt hatte, dass ich aussehe wie aus einem Science-Fiction-Film. Weil die Jacke so breit und so groß ist.

„Sie hält warm. Das ist die Hauptsache.“

„Du legst nicht besonders viel Wert auf dein Äußeres, oder?“

„Doch.“, hatte ich gesagt. „Aber nicht viel Wert darauf, dass mein Äußeres konform ist.“

Sie hatte sich bei mir eingehängt auf dem Heimweg.

Das bedeutet, dass wir nicht mit dem Auto in der Stadt waren! Wir waren zu Fuß unterwegs!

Woher kommen die Kopfschmerzen? Die bringen mich um. Es ist schwer einen klaren Gedanken zu fassen, wenn man ständig von diesem roten Schmerz überrannt wird.

Nur nicht einschlafen. Du hast schon zu lange geschlafen. Sieh dich um!

Die Sitze sind alt und verstaubt. Die Rückbank sieht aufgeschlitzt aus. Der Kofferraumdeckel ist offen. Die Farbe des Autos: schwarz. Auf dem Lenkrad ist ein Symbol, das ich nicht kenne. Keine Ahnung, was das für ein Auto ist. So eins hab ich noch nie auf der Straße gesehen. Die Fenster sind alle oben, es gibt keine Kurbeln. Die Türen sind regelrecht verkeilt. Keine einzige Tür geht auf. Ich bin schon nach hinten geklettert und hab die zwei Türen dort probiert. Aber außer, dass ich mir an einer scharfen Kante im Fußraum das Knie angestoßen habe, hat es rein gar nichts gebracht.

Irgendwas muss es doch noch geben? Irgend einen Hinweis.

Wir haben gegessen, Lisa und ich, wir sind durch die Stadt nach Hause gegangen. Worüber hatten wir geredet? Konzentrier dich!

Über Science-Fiction. Über Vampirfilme. Dann über Musik.

Sie hat gesagt, dass sie gerne Klassik hört. Am allerliebsten Orgelkonzerte von Bach. Das war dir so unpassend vorgekommen, dass du gar nicht gewusst hast, wie du darauf reagieren solltest. Niemand hört so was gerne, hast du gedacht. Wer um alles in der Welt hört sich Orgelkonzerte an? Und dann hat sie erstmal über nichts anders als über Orgelkonzerte geredet und du hast nur gedacht: Verdammt, wenn sie nicht so gut aussehen würde, würdest du sie jetzt auslachen.

Hast du aber nicht. Du hast brav zugehört. Den ganzen Weg lang und hast nur ab und zu gesagt, dass du schon lange nicht mehr auf einem Konzert gewesen bist. Und du hast sie gefragt, was genau ihr an Orgelmusik zu gut gefällt. Und sie hat dir versprochen, dir einmal Orgelmusik vorzuspielen. Also nicht selbst an einer Orgel, sondern auf CD.

„Ich bin komplett unmusikalisch.“, hast du gesagt. „Ich höre eigentlich auch kaum Musik.“ Und dann: „Das ist nicht meine Welt. Ich hab noch nicht mal mehr einen CD-Player zu Hause rumstehen.“

„Schreckt dich das jetzt ab?“

„Was?“

„Ob dich das jetzt abschreckt. Du denkst jetzt bestimmt: was ist das für ein Typ, der gar keine Musik hört. Oder so. Nicht wahr?“

„Nein, das denk ich nicht.“

„Du kannst es ruhig zugeben, Lisa. Ich halt das schon aus.“

Sie lachte, aber es klang nicht offen. Eher so als wenn sie damit sagte: Lass uns das Thema wechseln. Aber weil du nichts mit Musik am Hut hast, darfst du jetzt das nächste Thema vorschlagen.

Ich hatte das Thema gewechselt. Und ich hatte über die Arbeit geredet, weil ich dachte, da hätten wir Gemeinsamkeiten. Aber als später Musik lief …

Wann? Wo lief Musik? Ihr seid also noch irgendwo gewesen, wo es Musik gab. Auf der Straße gibt es keine Musik!

Taxi! Wir saßen in einem Taxi!

Die Erinnerung an diese blassgelbe Farbe von dem Taxi und die Erinnerung an diesen Typen hinterm Steuer und schon jagt wieder dieser Schmerz durch den Kopf. Mach jetzt langsam. Überanstreng dich nicht. Zuviel Konzentration und dein Schädel platzt noch.

Reif. Es fühlt sich wie Reif an. Hier auf dem Armaturenbrett. Diese blasse Schicht. Das ist Reif. Der Wagen steht schon seit Ewigkeiten hier im Schnee.

Leg den Kopf an die kalte Glasscheibe. Los! Leg ihn an. Spürst du, der Schmerz ebbt schon ab.

Es ist nichts mehr hier drin, was man nehmen könnte, um die Fensterscheibe einzuschlagen. Es gibt keinen Schalthebel mehr, es gibt nichts unter den Vordersitzen. Die Rückbank ist an einem Stück, nicht so wie bei modernen Autos segmentiert. Mir fehlt die Kreativität, was man benutzen könnte, um die Scheibe einzuschlagen. Ich muss hier raus!

Das ganze muss ein schlechter Scherz sein. Ein Freund vielleicht, der draußen irgendwo seine Kamera aufgebaut hat. Oder eine Drohne am Himmel?

Da ist nichts. Vergiss es.

Da hinten, wo die Bäume dichter stehen. Dort lässt sich nichts Genaues erkennen, oder?

Eine einzige, dunkle, verschwommene Sicht. Schwarzes Gehölz. Schwarze Silhuetten. Undeutliche Schatten, die vom Wind hin und her verzerrt werden.

Sicher, dass es der Wind ist?

Da hinten könnte man sich gut verstecken und hätte den ganzen Bereich mit dem Wagen im Blick. Wenn ich der Sadist wäre, der mich hier eingesperrt hätte, dann würde ich dort drüben sitzen. Nein. Natürlich nicht selbst sitzen. Eine Kamera vielleicht. Ein gut getarntes, schwarzes Stativ mit einer schwarzen wetterfesten Kamera. Ein Outdoor-Equipment wie es die Leute auch für Tierbeobachtungen haben.

Das Zeug ist scheiße teuer.

Du hast keine Freunde, die so viel Geld ausgeben würden, nur um dein Gesicht zu filmen, wie du hier aufwachst und im Auto nach hinten kletterst, wieder nach vorne, alles absuchst, den Schnee aus dem Handschuhfach kratzt, in der Hoffnung, hier irgendwo einen Ausweg zu finden.

Wie lange eigentlich?

Wie lange, bis der Witz nicht mehr witzig ist?

„Kommt schon, ihr habt gelacht. Ihr habt euch amüsiert! Holt mich hier raus!“

Was brüllst du da eigentlich an? Die Decke? Glaubst du, da oben ist eine Kamera oder ein Mikrophon drin?

Irgendwo muss es ja sein! Wenn ich mit den Fingern an der Windschutzscheibe unter den Wagenhimmel greife, kann ich vielleicht die Verkleidung abziehen, dann werden wir ja sehen, ob es hier eine Verkabelung gibt. Warte!

Wenn die Finger kalt sind, ist der Schmerz nicht sofort spürbar. Aber wenn er dann kommt, wenn das austretende Blut vorn an den Fingerkuppen endlich sein Signal über die Nerven zum Gehirn gesandt hat, wenn es dann endlich kommt. Dann spürst du nichts als nur noch diesen Schmerz. Und du siehst den abgetrennten Fingernagel. Verdammte scheiße! Du fluchst, wie du noch nie geflucht hast.

Dafür ist der Himmel fast ab!

Der Himmel ist abgerissen, genau wie die paar Fingernägel. Der Himmel liegt jetzt hinten auf der Rückbank. Zusammengeknüllt und verblutet. Der Himmel, unter dem keine Kabel waren. Du wirst nicht abgehört.

Du weißt, was das heißt?

Dass es keine Kabel gibt.

Dass die Kabel sonst wo sind.

Dass du mutterseelenallein bist.

Dass sie gerissen sind! Sie beobachten dich, belauschen dich von weit weg!

Du bist allein. Du stirbst allein. Du bist tot allein. Bleibst tot allein. Du wirst schlimmer stinken als die Kleider nach einer Nacht im Domino. Du wirst verrotten und hässlicher sein als der Taxifahrer, der kaum Deutsch spricht, dafür aber unfassbar schlechte Witze für euch parat hat. Witze über die Deutschen und die Russen und die Kosaken und alle sind sie mindestens rassistisch und geschmacklos.

Du warst noch nie in Lebensgefahr, oder? Versuch dich zu erinnern. Hast du je so dermaßen in der Scheiße gesteckt?

Das schlimmste war die Geschichte mit Karev.

Wie sind wir damals rausgekommen?

Wir waren nicht in Lebensgefahr, verdammtnochmal!

Ich war das zweite Jahr in Folge arbeitslos. Das Geld reichte natürlich hinten und vorne nicht. Aber es war auch eine geile Zeit, weil ich mit Menschen wie Karev abhing, dem glatzköpfigen Russen, der immer spuckte. Oder Bianca, die sich männlicher verhielt als alle anderen. Das waren die Tage und Nächte im Terminus. Das billigste Bier und die schrammigste Musik. Die kälteste Bar in der Stadt. Samstags war alles proppen voll. Dann wurde gegrölt, bis die Polizei kam und uns wegen Ruhestörung verwarnte. Wir prügelten uns um eine Schale mit Erdnüssen. Es waren echte Prügeleien mit abschließendem Besuch der Notaufnahme. Karev hatte einem einen Schlüssel in die Schulter gerammt. Und ihn dann in drei verschiedenen Sprachen dafür verflucht, dass er den Schlüssel wieder haben musste, weil er sonst nicht mehr nach Hause konnte.

Du hast zwei Monatsmieten am Kartentisch verzockt.

Und an der Slotmaschine mit den ägyptischen Bildern.

Du hast Karev erzählt, dass es mit Ägypten zu tun hatte. Du kannst an ägyptischem Zeugs nicht vorbei gehen. Du liebst die geheimnisvollen Zeichen und das Gefühl, dass sich hinter diesen goldenen Hieroglyphen etwas magisches verbirgt. Dass man Menschen ausstopft und in Särgen für die Ewigkeit aufhebt. Dass man Pyramiden baut statt würfelförmige Häuser. Du magst Schakale und Shishas und Bauchtänze.

Karev hat gelacht. Obwohl er genug Geld hatte, um mir aus der Klemme zu helfen, hat er mich nur ausgelacht und gesagt:

„Du bist nicht kreativ genug, um dich aus der eigenen Scheiße rauszuziehen, in die du dich selbst hineingesteckt hast, Kollega!“

Ich war kurz davor, mich mit ihm anzulegen, als er den Vorschlag gemacht hat, dass er mich einlädt. Er hat mich ans andere Ende der Stadt geschleift. Den ganzen Weg hat er den Arm um mich gelegt gehabt und mich dann einfach nur vor einem verranzten Kino abgestellt. Er hat zwei Karten genommen für irgend einen Kriegsfilm, der mich nicht interessierte und mich dann den halben Film vollgelabert über Waffen, Panzer, die Sowjetunjon, Putin, Frauen und Partys.

Ich musste zusehen, wie Körper zerfetzt wurden und Schlamm auf die Leinwand spritzte, während er davon erzählte, welche widerwärtigen Sachen er alles mit einer Frau anstellen wollte.

Dann hörte er auf einmal auf und sagte aus heiterem Himmel: „Das reicht jetzt. Geh raus! Geh zur Toilette. Geh! Oder hol Snacks!“ und verschränkte die Arme, weil er keine Widerworte hören wollte.

Draußen war kein Mensch zu sehen.

Es roch nach Popcorn und geschmolzener Butter. Es roch nach Salz und Zucker. Aus den beiden einzigen Kinosälen drang der Bass bis nach draußen. Ich ging in die angrenzende Toilette und wusch mir die Hände, weil ich nichts Besseres zu tun hatte. Das Wasser war eiskalt. Ich hatte keine Ahnung, warum ich hier war. Weder in dieser Toilette, noch in diesem Kino überhaupt. Eigentlich fühlte ich mich so tief unten, dass ich nicht mal mehr selbständig auf dieser Welt daherkam. Karev hatte mich regelrecht hierher gestoßen. Ohne ihn wäre ich weißgott wo. Ja, ich fragte mich, wo ich ohne ihn jetzt wohl wäre. Nicht in einem Kriegsfilmkino vor einem an den Ecken blind werdenden Spiegel. Ich wäre vermutlich zu Hause im Bett und würde die Decke anstarren.

Das Bild, das vor mir auftauchte fühlte sich vollkommen unrealistisch an. Es fühlte sich an, wie eine dieser Lügen, die man sich selbst erzählt, damit man besser mit sich leben konnte. Und dann, für einen einzigen Augenblick, …

Waren wir ehrlich.

Ich trat auf der Stelle, verdammt.

Wenn ich die Wahl gehabt hätte, irgendwo auf diesem Planeten sein zu können. Wenn ich mich hätte, wohinauchimmer wünschen können. Ich hätte mich an die verdammte Maschine im Terminus gewünscht, mit der Hand an den blinkenden Knöpfen und mit einem kleinen Beutel voller Kleingeld. Ich hätte mich vor die Pharaomaschine gewünscht, die mich überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte.

Und dann hast du dich an Karevs Worte erinnert, nicht wahr? Dass du nicht kreativ genug bist, dich aus deiner eigenen Scheiße zu befreien.

Und er hatte verdammt Recht damit, dieses Arschloch.

Du bist nicht kreativ genug, um dich auch nur irgendwo anders hinzuwünschen als an den Ort, an dem du dein ganzes Geld verzockt hast.

Wie in Trance verließ ich die Toilette und trat an den Tresen.

Es war immer noch kein Mensch zu sehen.

Und keine Kameras.

Ein verdammt kleines Kino, das sich in der Zeit der Digitalisierung grade mal so über Wasser hält.

Die haben trotzdem immer Geld in der Kasse.

Nicht viel.

Genug, um erstmal über die Runden zu kommen.

Warst du nach diesem Abend jemals wieder dort? Hast du dir das Kino überhaupt danach mal wieder angesehen? Vielleicht mit Lisa auf ein Date ins Kino? Vielleicht Lust auf einen alten Kriegsfilm, Lisa?

Spannende Geschichte, ich muss dir was über dieses Kino hier erzählen, Lisa. Du wirst Augen machen. Wenn ich dir erzähle, was ich hier erlebt habe, dann wirst du nicht mehr denken, dass ich ein langweiliger Typ bin, nur weil ich keine Musik höre oder so. Du wirst merken, dass ein Kino wirklich ein Ort sein kann, der dein Leben verändert. Wenn ich nicht hier gewesen wäre, wer weiß, ob ich heute diesen Job hätte und wenn ich den nicht hätte, dann hätten wir uns nie kennengelernt, du hättest mich nicht mal ins Domino geführt und wir hätten nicht unter Neptuns Dreizack gesessen und gelacht und wären nicht schweigend und Arm im Arm durch die Stadt geschlendert …

Und ich würde jetzt nicht erfrieren.

Was ist das schlimmste an der Kälte?

Sie ist langsam.

So langsam wie das Leben.

Du kannst im Spiegel hinter der Sonnenblende am Beifahrersitz sehen, dass du Raureif an den Wimpern hast. Das sieht auch aus wie im Kino. Hättest du nicht gedacht, was? Die Haut wird blass. Du siehst unter der Haut deine Adern und du spürst, wie das Blut immer langsamer durch deinen Körper gepumpt wird.

Du musst dich bewegen. Atme deine Körperwärme in deine Handflächen!

Bewegen! Es gibt hier nichts zum Bewegen. Es gibt nur die Stille im Wald und das ewige Weiß des Schnees.

Wenn du jetzt erfrierst, dann stirbst du mit unfassbarer Lautlosigkeit.

Irgendwann wird der Schnee tauen. Irgendwann wird auch an diesen Winkel der Welt einer kommen und er wird mich finden. Es gibt keinen Flecken auf der Welt, wo nicht irgendwann mal auf der Welt ein Mensch sein wird.

Ich meine, hier steht eine Autoruine, verdammt. Einmal war ein Mensch ja schon mal hier. Also kommt einer auch wieder.

Du wirst schon erfroren sein.

Es kommt darauf an, gefunden zu werden. Hier. Sieh her. Ich habe mit dem Fingernagel meinen Namen ins Handschuhfach gekratzt. Und mit dem Blut aus den Fingerkuppen hab ich ihn auf den Himmel geschrieben. Rot auf grau. Ich hab meinen Namen geschrieben und den von Lisa. Und ihre Telefonnummer. Und meine Adresse. Sie werden wissen, wer ich war.

Marvin!

Was willst du von mir?

Wieso schreibst du nicht seinen Namen auch noch auf? Du hast sogar darüber nachgedacht, ob du Karev hinschreiben solltest. Aber es sein gelassen, weil das schon so lange her ist,

ein anderes Leben,

dass es unwahrscheinlich ist, dass der sich überhaupt noch an dich erinnert.

Das Kino gibt es nicht mehr. Ich war noch mal dort.

Du lenkst ab!

Die Kopfschmerzen kommen beim Einatmen wieder.

Die Schmerzen werden bald fort sein. Marvin. Das Taxi. Du erinnerst dich. Du musst dich erinnern.

Ich weiß nicht, weshalb eine Erinnerung mehr Wert sein soll als mein Name.

Es ist mehr Wert, weil du sterben wirst. Du wirst nicht mehr mitkriegen, ob du gefunden wirst, ob jemand deinen Namen liest, ob jemand Lisa anruft und ihr sagt, dass du gefunden worden bist. Du bekommst nicht mal mehr mit, wie das Wetter morgen sein wird. Du wirst dich auflösen und mit dem nächsten Frühling wirst du geschmolzen sein, fort, ausgelöscht aus dem Leben. Du bist ein Skelett in einer Autoruine. Und alles was geschehen wird, geschieht von dann ab ohne dich.

Die Erinnerung

gehört noch zu dem, was du mitbekommst.

Das Taxi

Ist ein Gedanke, den du noch denken wirst. Eine Erinnerung, der du noch folgen wirst. Lass deinen Kopfschmerz zurück, geh durch ihn durch wie durch einen scheiß Vorhang, wie …

Eine Tür, die du hinter dir zuschlagen kannst.

Es riecht schon wieder unangenehm. Die ganze Nacht besteht aus miesen Gerüchen. Ist das normal, wenn man dir ausgeht, dass es überall stinkt, Lisa?

„Was lächelst du mich so komisch an?“

„Schon gut.“

Du bist ein Feigling, dass du nicht normal mit Menschen reden kannst.

Wo soll es hingehen?

Lisa nennt dem Taxifahrer die Adresse.

„Mein Name ist Marvin, ich fahr euch durch die ganze Nacht, wenn ihr wollt.“

„Das Taxi sieht ja mal alt aus. Hab noch nie so ne Marke gesehen.“

„Ist mein Spezialauto.“, Marvin grinst in den Rückspiegel.

„Hat das überhaupt noch Tüv?“, fragt Lisa.

„Hat Tüv, keine Angst.“, Marvin streichelt sanft über die raue Oberfläche des Armaturenbretts. „Sieht nur ranzig aus. Und der Himmel ist ab, weil ich letzte Woche ne neue Windschutzscheibe gekriegt hab. Die Drecksäcke haben das nicht ordentlich verklebt. Dann läuft dir der Regen halt durch die kleinen Ritze da oben“, er beugt sich während der Fahrt vor und tippt gegen die obere Stelle, wo die Windschutzscheibe das Wagendach berührt. „und das Wasser fließt direkt in den Himmel rein. Hat drei Tage in der Garage gestanden und das Wasser hat den Wagenhimmel von oben nach unten verschimmelt.“, jetzt trommelt er mit der Handfläche gegen das Metall des Wagendachs. Er schlägt so fest dagegen, dass das Licht flackert.

Er lacht trocken.

Wie einer, der sein halbes Leben lang Alkohol statt Wasser getrunken hat.

Wie einer, der sein halbes Leben lang Nikotin statt Sauerstoff geatmet hat.

Marvin fragt, ob es uns etwas ausmacht. Seine Hand hat aber das Radio schon eingeschaltet. Nein, es ist eine CD. Es läuft eine poppige Ballade. Lisa wirft mir einen Seitenblick zu.

„Es war schön im Dominos.“, so beginnt Small Talk. Es klingt so verdammt abgedroschen, weil ich genauso gut hätte sagen können: ich will mich mit dir unterhalten, aber ich weiß nicht, wie das geht.

Und sie lächelt, und sie lehnt sich trotzdem an mich. Ihr Kopf an meiner Schulter schauen wir beide auf diese Stadt raus.

Wir biegen auf die Stadtautobahn und sehen, wie die Stadt auf der anderen Seite des Flusses als Lichtspiel auftaucht.

Sie sagt: „Ich mag die Stadt am liebsten in der Nacht. Wenn man nicht sehen kann, wie hässlich alles ist.“

Ich sage nichts, weil der Motor Geräusche von sich gibt, die klingen wie Gewehrsalven. Jedes Mal, wenn Marvin den Gang wechselt um zu beschleunigen. Dann ist die Dunkelheit hinter der Fensterscheibe wie eine umgekehrte Kinoleinwand. Schwarz statt weiß. Dann werden die Stadtlichter zum Projektorflackern. Die erschossenen Menschen im Kriegsfilm stehen wieder auf. Alles dreht sich um. Der Schlamm spritzt von der Leinwand ab zurück auf den Boden. Das Blut fliegt zurück in die Venen. Fleisch schließt sich. Aus Krieg wird Frieden.

Die Finsternis ist die Leinwand, denke ich. Und alles dreht sich um.

Marvin sagt: „Ich liebe die Stadt in der Nacht. Wenn man aus dem Fenster sieht, kann man sich vorstellen, dass das da draußen überall sein könnte.“ Und dann: „Wenn Sie die Wahl hätten jetzt irgendwo auf der Welt zu sein, wo würden Sie jetzt am liebsten sein wollen?“

Der letzte Gang. Er knirscht und der Wagen macht einen kurzen Satz, bevor er beschleunigt. Es beginnt zu regnen.

„Ich frag das alle Pärchen, die ich so rumfahre, wissen Sie.“, entschuldigt er sich. Aber grinst wieder. Es ist ein Rückspiegelgrinsen nur für mich.

Der Regen läuft in Bahnen über die Fensterscheibe.

In jeder Bahn spiegeln sich die tausend Lichter.

Obwohl das Auto schneller fährt, ist alles langsamer geworden.

Der Fluss, die Lichter, die Stadt und das Atmen.

Wie sich Lisa bewegt, wenn ihr Kopf an die Schulter gelehnt ist und sie sprechen will.

Die Schädelknochen, wenn der Kiefer sich öffnet und schließt.

Die Hand, die heimlich a mein Bein gewandert ist, um sich dort auf meinen Handrücken zu legen.

Sie sagt „Ägypten“. Unglaublich langsam.

Was ein Zufall. – Ich mag Zufälle nicht. – Zufälle sind wie Glücksspiele.

Genauso wenig wie die Stadt, wenn die Nacht über allem liegt und es regnet. Wenn Marvin durch den Rückspiegel grinst mit seinen Augen, die so rund sind und so uneben und so grau wie uralte Münzen. So wenig wie Kälte im Brustkorb. In der Blutbahn. So wenig wie rote Rückleuchten, tausendfach gebrochen in Regentropfen auf Windschutzscheiben. So wenig wie das ewige Weiß von Schnee, in dem nichts geschieht.

Selbst wenn ich mich mit dem Himmel zudecke, mir wird in diesem Leben nicht mehr warm.

Was sagt ihr dazu?