Im Stockwerk über mir wohnt Gott – vierter Teil: Bonobos rechtfertigen sich auch nicht

Eieiei, Gespräche mit Gott über die Welt! Das kann ja nicht gut ausgehen. Finden zumindest Haerzenswort und ich, die wechselweise doch ziemlich zwischen Amusement und Schockstarre die Geschehnisse niederschreiben.

Zu Studentenzeiten hatten wir in der WG eine widerspenstige Eieruhr. Sie war noch schön analog, cremefarben, schwarzes Zifferblatt, dicke, gut lesbare Ziffern. Sie war ein Eyecatcher. Und dann hing sie auch noch so auffällig über der Kochstelle, dass man sie gar nicht übersehen konnte. Der einzige Nachteil: sie hatte das miserabelste Timing, das man sich vorstellen kann: Sie schrillte mit unfassbarer Hartnäckigkeit schon eine Minute bevor die Zeit abgelaufen war. Und sie hörte auch nicht einfach so auf. Mindestens drei Minuten lang quälte sie einen mit ihrer Fehlfunktion. Sie war so laut, dass man sich nicht unterhalten konnte. Und mit ihr zu Arbeiten war ein Ding der Unmöglichkeit.

Das gleiche Timing hat Woziak.

Er sorgt regelrecht dafür, dass ich das ungemütliche Zeitmessgerät von früher nicht mal ansatzweise vermisse.

Woziak ist Gott. Er wohnt ein Stockwerk über mir und er sieht aus wie ein wiedergeborener Karl Marx. Er ist Gott, weil er über alles Bescheid weiß und vor allem, weil er den Überblick über die Welt hat. Wenn ich Recht habe und Woziak wirklich Gott ist, dann erklärt das unglaublich viel. Glauben sie mir.

Als ich gerade überhaupt keine Zeit hatte, weil meine Frau hochschwanger unten im Auto saß, hörte ich ihn schnaufend die Treppe nach oben gehen. Ich trug links eine Krankenhaustasche und rechts eine Krankenhaustasche. Auf dem Rücken: ein Krankenhausrucksack. Und dann steht er vor mir und sagt: „Du liebst zu laut.“

„Herr Woziak!“, schnaufe ich und schiebe mich an ihm vorbei.

„Da haben ja vorher schon ganz andere in der 32 gewohnt, aber du bist der lauteste Beischläfer seit Samson und Delilah.“

Er sagt das amüsiert, nicht verärgert. Und da kommt in mir das Bild auf, wie er oben in seinem Zimmer das Ohr auf den Boden legt und darüber lächelt, während er weißgott welche Geräusche von uns interpretiert.

„Ich verspreche dir“, schnaufe ich, „meine Frau und ich hatten seit neun Monaten keinen Sex mehr.“, damit ist für mich das Thema eigentlich beendet. Aber er sagt: „Soso“, so vielwissend, dass es wehtut.

„Kein Sex!“, beharre ich und denke: Eigentlich bin ich da jetzt doch ganz gut noch vorbeigekommen. Denn im Unterschied zu sonst bin ich an Woziak vorbeigekommen und ich bilde mir ein, diesmal läuft es wie geschmiert. Meine Frau wartet unten im Wagen, ich bin an Woziak vorbei und auf dem direkten Weg nach unten. Die Erleichterung fühlt sich so intensiv an, dass der anschließende Frust umso stärker wirkt, als mir das Schulterband von der rechten Krankenhaustasche reißt und sich ein Schwall von Handtüchern über die Treppen ergießt. Ich fluche wie verrückt und beginne alles wieder aufzusammeln, als Woziak wieder bei mir ist und sich anschickt, mir zu helfen.

„Ihr hattet doch in den letzten Wochen Besuch, oder?“, es ist eigentlich gar keine Frage. Zumindest nicht die, die er gestellt hat.

„Meine Frau geht mir nicht fremd.“, knurre ich wütend über mich, wütend über die schlechte Qualität von Taschen, wütend über meine Frau, die gerade jetzt unten im Auto sitzt und ihren Wehen frönt. Als ich Woziak Auge in Auge auf der Treppe gegenüber sitze, will ich sofort mit ihr tauschen.

„Woher weißt du das?“, fragt er.

„Es war ihr Bruder.“

„Wer?“

„Der bei uns übernachtet hat. Ihr Bruder. Es war ihr Bruder. Verstehst du: Mike, das ist ihr Bruder.“

„Ahh!“, macht er. „Das erklärt einiges.“

„Das erklärt gar nix.“, sage ich und reiße ihm einen Toilettenbeutel aus der Hand.

„Heute geht so was.“, sagt er. „Hab da nie was nichts dagegen gehabt.“

„Gegen Brüder?“

Er stößt mir den Ellbogen gegen die Schulter. In seinen Augen liegt ein verschwörerisches Blinzeln.

„Gegen Schwager.“, kichert er. „Ich kannte mal einen, der hat auch mit seinem Schwager was angefangen gehabt. Und jetzt versteh ich auch, warum es so laut war.“

Ich starre ihn an, weil ich ihm nicht folgen kann. Als es mir dämmert, ist er schon dabei, weiter zu reden.

„Das ist etwas ganz Normales. Es gibt überhaupt in der ganzen Natur kein einziges Säugetier, das nichts mit Schwulitäten am Hut hat. Wusstest du, dass gerade Vögel ein ausgesprochen großes Bedürfnis nach gleichgeschlechtlicher Liebe haben?“

„Ich bin …“, krächze ich, eine Surfbrettfrauenwindel in der Hand.

„Das sorgt bei den Vögel für eine ausgewogene Psychologie. (Vor allem bei den Kolibris!)“

„…homo…“

„Viel weniger Vogelkrieg. Man singt ja auch die Vogelhochzeit, nicht den Vogelatomkrieg, hab ich Recht?“

„…sexuell!“

„Und Bonobos. Das sind Menschenaffen, wissen Sie?“

„Herr Woziak! Meine Frau …“

„Wenn die sich ärgern, lösen die ihre Streitereien auf die gesündeste Art aller Zeiten.“

„Das darf doch alles nicht wahr sein.“, ich stöhne, verdrehe die Augen, konzentriere mich wieder mit zitternden Händen auf das Aufräumen. Als ich alles in der Tasche habe, finde ich den gerissenen Schultergurt nicht. Ich hab keine Ahnung, wie ich die Tasche tragen soll ohne Gurt. Um sie unter den Arm zu klemmen, ist sie zu sperrig.

„Stell dir vor, wir würden unsere Streitereien genauso lösen. Hose runter und los geht’s. Es gäb so viel Geschrei auf der Welt wie bei dir im Schlafzimmer, wenn der Schwager da ist. Aber ich glaube, die Korea-Krise gäb’s nicht.“

„Kannst du auf meine Tasche aufpassen, Herr Woziak? Ich trage zuerst die hier runter und komme dann wieder um …“

„Freier Sex!“, brüllte er mich an. Und dann in Normallautstärke: „Das hab ich in den 60ern und 70ern schon verlangt. Wir haben früher in Nackt-WGs gelebt. Hab ich dir schon davon erzählt? Mit Gabriel, Raphael und Michael … Das war vielleicht eine Truppe. Allesamt: Splitterfasernackt. Haben Häuser besetzt und von der Weltrevolution geträumt. Make love not war!

Ich starre ihn an. Vielleicht, weil mich Woziak gerade dazu zwingt, mir ihn nackt vorzustellen.

„Es gibt ja welche, die glauben, Homosexualität wäre eine Krankheit.“, fährt er fort. „Man hat auch lange versucht, das zu heilen. Mit Elektroschocks und so. Man hat den Patienten Bilder von nackten, attraktiven Männern gezeigt, und wenn das Bild die Patienten erregte: Bzzzzz. Strom ab.“, er hat mich aus illustrativen Gründen gepackt und durchgeschüttelt, als ob ich mir nicht vorstellen könnte, dass man bei einer Elektroschockmethode durchgerüttelt wird. Jedenfalls fällt die andere Tasche jetzt auch runter. Aber sie platzt nicht auf und es fällt nichts heraus. Ich stehe da wie belämmert, weil ich mir den Blick schon vorstellen kann, der unten im Wagen auf mich wartet, wenn ich gleich ohne Taschen und zu spät ankomme. Bestimmt ist das Kind schon auf der Welt und liegt im Handschuhfach. Ich überlege, ob Woziak weiter redet, wenn ich ihn die Treppe runter stoße. Ein Versuch wär’s ja Wert.

„Und Hormontabletten. Hormone sind ja die Lösung für alles. Der Computer ist übrigens daran gestorben.“

„Der Computer?“, stammele ich.

„Alan Computer. So hieß der Erfinder von den großen Taschenrechnern. Der hat Hormone gegen seine sexuelle Ausrichtung bekommen und hat davon Depressionen bekommen. Ist, glaub ich, so 41 Jahre alt geworden oder 42. Nicht so alt jedenfalls, als wenn man ihn hätte mit denen leben lassen, die er geliebt hat.“

„Sie meinen Alan Turing.“, sage ich.

„Auf Touren kam der auch.“, Woziak kichert dreckig.

„Hör mal, meine Frau sitzt schwanger im Auto.“

„Find ich schön.“, sagt Woziak. Er meint es tatsächlich ehrlich. „Schwule mit Kindern. Find ich spitze.“

„Herr Woziak.“, ich nehme ihn jetzt an den Schultern. „Es ist mir wirklich egal, was du über mich denkst. Aber ich bin nicht schwul. Meine Frau geht nicht fremd. Und mein Schwager ist ein infantiler Vollidiot, der viel zu gern viel zu viel Alkohol trinkt. Wahrscheinlich auch um seine eigenen Hormone zu unterdrücken. Ich habe seit 9 Monaten kein Sex gehabt und egal, wie sehr du es dir wünschst, ich werde meinen Frust über meine gerissene Tasche nicht dadurch auflösen, indem ich mit dir jetzt und hier Sex habe!“

Er glotzt mich an.

Ich packe meine Taschen, voll beladen wie ein Kamel und drehe mich um.

Ein wahnsinniges Gefühl von Triumph schwelt in meiner Brust, an die ich unsere Krankenhaustasche quetsche.

„Wenn’s dir egal ist, wieso redest du dann so viel davon, dass du es nicht bist?“, ruft mir Woziak auf einmal donnernd hinterher. „Wenn dir Homosexuelle genauso normal vorkommen wie Heteros, dann würdest du aber mal weniger Zeit darauf verwenden, dich zu rechtfertigen. Du musst entspannter bleiben! – Bonobos rechtfertigen sich auch nicht! Und Vögel! Nimm dir ein Vorbild an Vögeln!“

Er brüllt das alles so laut durchs Treppenhaus, dass es mich nicht wundert, dass neben mir eine Tür geöffnet wird und Frau Streicher mich anstarrt, als ob ich der Teufel persönlich wäre. In dem Moment brüllt Woziak: „Homophobie und Intoleranz sind heilbar! Freiheit für die Schwulen, Nummer 32! Freiheit für die Schwulen, sag ich!“

Frau Streicher macht die Tür zu und schließt sich mit ihrem Urteil über mich ein.

„Wo bist du gewesen?“, werd ich im Auto völlig zu Recht angeschnauzt.

„Bin flachgelegt worden.“, schnauze ich zurück und rase aus der Parklücke raus.

Bis zum Krankenhaus dauert es noch zehn Minuten. Und insgesamt dauert es 15 bis wir feststellen, dass die zwei Taschen zu Hause auf dem Bürgersteig liegen geblieben sind. Weil ich nervöser Idiot meinen Schlüssel hab suchen müssen.

Ein Teil verpasst? Kein Problem. Mehr Woziak gibt es hier:
Erster Teil: Warum Frauen immer kalte Füße haben 
Zweiter Teil: Warum der Regen heutzutage trocken ist
Dritter Teil : Spartaner und Barbaren

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