Lebenslänglich (3/3)

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Steven war verdammt gut im Pokerspielen.

Er erkannte einen Bluff. Und er verstand es, zu kontern.

„Sie tun mir Leid.“, antwortete er deshalb dem Direktor auf dessen lange Ansprache. „Ganz ehrlich. Sie haben ein so gut sortiertes Haus, führen die Anstalt mit so viel Eifer und Übersicht. Sie bekommen sogar mit, wenn ihr Vorzeigenazi sich mit dem Vorzeigetunesier anfreundet, ihrem politischen Abschiebefall. Aber sie bekommen nicht mit, wer ihnen Nacht für Nacht die Gäste aus der Gästeliste streicht.“

Ein sanfter lila Farbton erblühte auf Direktor Dr. Lewens Wangen.

„Und dann haben Sie die Behörde im Nacken sitzen. Wer sind die netten Leute, die neuerdings überall unsere Dienstboten begleiten? Die Uniformierten sind ja klar. Aber die Anzugträger? Wer ist denn die Blonde eigentlich? Die scheint mir ein recht hohes Tier zu sein. Ist das eine, die bald auf ihrem Sessel sitzen wird?“

„Halt die Klappe.“, fauchte Lewen. Aber Steven dachte nicht daran.

„Ich hab gehört, Borisow ist gehäutet worden.“

„Wer sagt so was?“

Steven hatte seinen Gegenüber genau beobachtet. Ihm war nicht entgangen, dass Lewen zurückzuckte, als habe Stevens Satz unter Strom gestanden.

„Vielleicht der gleiche, der mir auch gesagt hat, dass bei Schneider das Blut über die Wände gelaufen ist.“

„Eine letzte Warnung!“, es klang nicht besonders überzeugend. Und Steven sah sich in einem uralten Wissen bestätigt: Wissen ist Macht.

„Von unten nach oben.“

Lewen rührte sich nicht. Und das wiederum machte Steven Angst.

„Es ist also wahr.“, stellte er fest. „Es ist verdammt noch mal wahr. Diese ganzen Spukgeschichten.“

„Das ist doch Unfug!“, sagte Lewen jetzt. Aber wie viel davon glaubte er selbst?

„Natürlich ist das Unfug. Blut folgt auch den Gesetzen der Schwerkraft, nicht wahr? Diese Geschichten lenken nur von der Hauptfrage ab: Wer kann Schwerverbrecher in geschlossenen Zellen in unmittelbarer Nähe der Wachen töten und dabei so brutal vorgehen?“, er hielt einen Augenblick lang das Schweigen aus und wartete darauf, dass Lewen Luft holte zum Sprechen. Dann kam er ihm aber mit knochentrockener Stimme zuvor: „Wackelt ihr Stuhl bereits, Direktor Dr. Lewen? Oder befinden Sie sich schon im freien Fall!“

Vulgär hatte er Lewen natürlich schon erlebt, wenn er auch immer so tat, als wäre er recht gesittet. Aber derart ausfallend, wie er jetzt wurde, war eine wahre Pracht.

Steven wusste, dass nur jemand, der mit dem Rücken nicht nur an der Wand, sondern regelrecht in der Ecke stand, sich so gehen lassen konnte. Dabei vergaß er nicht die für ihn eigentliche Frage: Warum zur Hölle war er hier? Was war der Grund für dieses merkwürdige Zusammentreffen.

Die Antwort auf alle Fragen hatte Janine Sinter, oder: die Blonde, wie Steven sie genannt hatte. Im Nachbarzimmer bekam sie jedes Wort durch die aktivierte Sprechanlage mit. Jeder Verbalausfall von diesem schleimigen Direktor, der mehr auf sich hielt, als er von sich versprechen konnte, brachte sie einen Schritt weiter weg von dem eigentlichen Ziel, das sie seit Tagen hier verfolgte. Ihre Kollegen sahen sie fragend an und sie schüttelte nur langsam den Kopf.

Manchmal muss ein Mann vielleicht wirklich seinen Fehler bis zum Ende durchführen. Sicher hatte sie darüber nachgedacht, rechtzeitig in den geplatzten Dialog mit dem Häftling einzugreifen. Aber was, außer einen sich immer weiter verschließenden Direktor, hätte es ihr gebracht? So sehr es sie auch ärgerte: in diesem Fall war Dr. Lewen der Hausherr und auch wenn sie ihm vom Rang über war, so konnte er ihr doch die Arbeit genug erschweren, dass es zu immer weiteren vermeidbaren Todesfällen kam.

Nein, sie musste warten, bis Lewen sich erfolglos ausgepowert hatte an diesem arroganten Häftling. Und sie musste warten, wie die Erfolglosigkeit als bittere Erkenntnis Dr. Lewens Widerstand ihr gegenüber vollständig brach.

„Wir greifen nicht ein.“, entschied sie und sah sehr wohl, wie die anderen sich stirnrunzelnd Blicke austauschten.

„Keine Angst. Am Ende wird Lewen uns um Hilfe bitten müssen.“

In der Zwischenzeit nahm sie noch einmal die Akte zur Hand. Sie hasste diesen Fall schon seit sie ihn übernommen hatte. Das war lange bevor sie Lewens großkotzige Art hatte kennenlernen dürfen. Und da war ihr schon klar gewesen, wie viel in dieser Geschichte quer steckte.

Am Anfang hatte sie noch vermutet, dass Lewen selbst hinter den Mordne steckte. Oh, sie hatte es sich sogar gewünscht. Aber zu viel ergab einfach keinen Sinn. Am meisten irritierte sie das geringe Zeitfenster, in dem der Mörder tätig war. Ihm genügten offenbar nur wenige Minuten, um seine Leichen grauenhaft zu entstellen.

„Na?“, fragte sie leise, während sie die Bilder noch einmal auf dem Schreibtisch ausbreitete. „Fühlen wir uns nicht schon, wie in einem verdammt gut gesponnenen Krimi?“

Ja, wenn die Realität zu Surreal wird, verliert man leicht das Gefühl dafür, dass alles überhaupt noch echt ist. Ein Glück, dass es harte Fakten gab: Fingerabdrücke – wenn sie auch zu niemandem in der Kartei passten. Damit war leider Lewen augenblicklich von der Verdächtigenliste zu streichen. Allerdings auch alle Wärter und alle Häftlinge. Was blieb da noch? Eine vom Leben frustrierte Putzfrau, ein halb tauber Gefängnisbibliothekar und der derzeit schwer an Tuberkulose erkrankte Gefängnisgeistliche. Jackpot.

Keiner von denen, die sie befragt hatte, passte in die Kategorie: sadistischer Soziopath.

Aber immerhin konnte sie mit den Fingerabdrücken die Spukgeschichten abblocken, die inzwischen unter den Wärtern die Runde machten.

Und dann war da noch das merkwürdige Beuteschema. Von Anfang an hatte ihr dieser Aspekt die meisten Sorgen bereitet. Ein Serienmörder, der sich willkürlich seine Opfer in einem Gefängnis aussuchte, erschien ihr höchst widersprüchlich. Aber es brauchte wirklich erst eines gewaltigen Zufalls und einer, im wahrsten Sinne des Wortes, veränderten Perspektive auf die Sicht dieses Falles. Dieser leicht debile Wärter Johnson hatte ihr Kaffee bringen wollen und war wohl durch die Aussicht, ihr so nahe zu kommen, so zittrig geworden, dass er eine heiße Tasse über sie geschüttet hatte.

Sie war vor Schreck aufgesprungen und dachte nur daran, dass vor ihr auf dem Tisch die Originalbaupläne der Anstalt auslagen und diese auf keinen Fall etwas abbekommen durften. Sie stieß diesen Tollpatsch zurück und sprang selbst ebenfalls zur Seite, als sie es sah: das Muster. Sie hatte tatsächlich die Nase zu tief in den Fall gesteckt gehabt, dass das Offensichtliche kaum ihre Wahrnehmung gestreift hatte.

„Johnson, verdammt! Ein Lineal! Und das jetzt mal schnell.“

Er war stammelnd wie ein Idiot davon gestürzt und hatte wirklich nicht lange gebraucht. Aber jetzt, da sie das Lineal in Händen hielt, war es tatsächlich auch unnötig geworden. Wenn man einmal das Muster sah, das die Morde rechtfertigte, war es schwer, es zu übersehen.

„Wir waren blind.“, hatte sie Johnson gesagt und die selben Worte später auch bei Lewen benutzt. „Es ist eine Linie. Er geht einmal quer durch die Anstalt. Er fing hier an, zweiter Stock, dann einmal quer über den Hof und bis hierher zum nächsten Gebäudeteil, hier liegen zwei Zellen auf der Linie. Auch zweiter Stock. Und dann, wenn wir die Linie verlängern …“

„Haben wir noch eine Zelle auf seinem Weg.“

„Zweiter Stock.“, wiederholte sie. „Wer liegt da? Wer ist der Häftling in dieser Zelle?“

„Sie warten jetzt hier!“, brüllte Dr. Lewen und riss im nächsten Augenblick nicht nur die Tür auf, sondern auch Janine Sinter aus ihren Erinnerungen.

Dr. Lewen setzte sich mit geballten Fäusten ihr gegenüber.

„Er ist ein Arschloch!“, knurrte er.

Und sie sind ein Versager, hätte sie am liebsten geantwortet. Sie erwiderte den Blick nur. Und Dr. Lewen fuhr sie an: „Ja, was soll das denn? Sie dürfen ran. Machen Sie, was Sie machen wollen mit ihm. Verfüttern Sie ihn an den Mörder oder retten Sie seinen Arsch. Ist mir egal!“

Quälend langsam stand sie auf. Dr. Lewen litt offensichtlich grundsätzlich darunter, wenn andere Menschen die Zeit, die sie hatten, ausnutzten.

„Sie wollen alles sofort erledigt haben.“, sagte sie ihm noch zum Abschied. „Aber es gibt immer genug Zeit, um sich gut zu überlegen, wie man weiter macht. Sie sollten die Zeit, die Sie haben, nutzen lernen.“

Dann verließ Sie das Zimmer – nach einem Signal mit der Hand, blieben die anderen bei Lewen zurück – und trat zu dem Häftling.

Steven sah sie erstaunt an.

„Sie haben garantiert alles mit angehört.“, sagte er ihr an Stelle einer Vorstellungsrunde.

Sehr gut, dachte Sie. Mit dem kann ich arbeiten. Im Unterschied zu Lewen kann dieser Mann hier schnell denken und Situationen einschätzen.

Wenn er auch eine entscheidende Sache überhaupt nicht einzuschätzen verstand:

Morgen früh würde dieser Häftling tot sein. Wahrscheinlich brutal ermordet.

Es sei denn, er spielte von jetzt ab in ihrem Team.

Sie setzte sich in Direktor Dr. Lewens Stuhl. Und dann klappte sie sein Namensschild, das vor Stevens Nase stand, mit einer schnippischen Handbewegung um. Sie lächelte.

Und dann sagte sie: „Mein Name ist Janine Sinter.“, ihr Lächeln wurde gefährlich spitzlippig. „Und wir beide müssen miteinander reden. Besser gesagt: Ich rede. Und Sie hören zu.“

Steven hörte zu.

 

*

 

Als sich Barek in der Bibliothek zu ihm setzte, waren seine Finger am Zittern und er fror, obwohl es nicht kalt war.

„Du siehst übel aus.“, sagte Barek.

„Mir ist übel.“, antwortete Steven. „Mir ist aufgefallen, dass ich dich noch nicht gefragt habe, warum du letztens überhaupt so geflennt hast bei der Musik.“

„Manchmal berührt mich Musik mehr als es Menschen können.“, sagte Barek mit dunkler Stimme.

„Bullshit.“, sagte Steven.

„Bullshit.“, gestand Barek und grinste kurz ganz breit. Als die gute Laune aus seinem Gesicht wieder erloschen war, sagte er: „Meine Frau ist tot. Mein Kind ist tot. Ich bin hier in Deutschland. Und auf der ganzen Welt gibt es keinen, den das interessiert. Unterm Strich sind wir alle einfache Niemande. Da muss man keiner aus Marokko sein. Da kann man einer sein, wer man will.“

„Bullshit.“, wiederholte Steven. Aber er klang überhaupt nicht überzeugend. Ganz im Gegenteil. Er klang jetzt wie einer, der nicht nur wusste, dass er ein Niemand war. Er war ein Niemand mit ablaufender Sanduhr.

„Was soll das heißen?“, fragte Barek.

Und dann erklärte Steven, was die Blonde ihm schon erklärt hatte: „Dass alle vermuten, dass Shaitan heute Nacht in meiner Zelle ein Glas Wasser mit mir trinken will.“

„Der Shaitan scheut das Wasser.“, korrigierte Barek. „Das Wasser und die heiligen Verse des Koran sind die einzigen Dinge, die dich vor dem Teufel schützen können.“

„Vielleicht sollten wir dem Shaitan eine Mail schreiben. Der menschliche Körper besteht nämlich zu über 60 Prozent aus Wasser. Dann dürfte kein einziger Mensch in Gefahr sein, Bruder.“

Barek zog sein Shirt aus.

Auf der dunkelgebräunten Brust wuchs ein dichtes Dreieck schwarzgelockter Haare. Aber darunter war eine Tätowierung. Eine Sonne oder ein Rad.

Barek drehte sich in seine Richtung und zeigte auf das Bild. Er tippte fest mit dem Finger auf die Stelle, die direkt über dem Herz war.

„Was soll das sein?“

Barek sagte etwas auf arabisch. Dann erklärte er: „Die erste Sure des Korans. Die heiligen Worte Allahs.“

„Prima.“

„60 Prozent gesegnetes Wasser, mein Bruder.“, meinte Barek und zog sich strahlend wieder an.

„Erzähl mir die Geschichte noch mal.“, bat Steven.

„Welche?“

„Verdammt, ich weiß es auch nicht. Die von Shaitan und den vierzig Mördern. Mir ist es lieber, ich hör mir den verdammten Aberglauben noch mal an, als mich von dir zum Moslem zu machen, sechs Stunden vor meinem Tod.“

„Du glaubst wirklich, dass du heute Nacht an der Reihe bist?“

Die glauben daran.“, sagte Steven. „Ich bekomme heute Nacht Gesellschaft. Ich bin ein wahrer Glückspilz, ich darf die Nacht mit zwei wunderschönen Frauen verbringen. Welcher Häftling kann das schon von sich behaupten?“

„Wachen? In deiner Zelle?“

„Mit Waffen. Und das sind keine Wasserpistolen. Stell dir vor.“

Barek schwieg eine Weile. Er biss sich auf der Unterlippe herum und schien über etwas nachzudenken. Dann erzählte er Steven wirklich eine Geschichte.

„Nicht die von Shaitan. Eine andere. Ich weiß auch nicht. Shaitan ist in unserem Glauben ein Djinn.“

„So wie die zauberhafte Jeanny? Ein Flaschengeist?“

„Zauberhaft? Nein. Djinns sind … böse Dämonen. Engel mit schwarzen Seelen. Ja, ein paar von ihnen wurden von Salomon in Gegenstände verbannt. Mit magischen Sigeln versehen, dass sie nicht wieder an die Erdoberfläche kommen können. Und dann ins Meer geworfen. Oder in tiefe Schluchten. Aber nicht alle. Djinns können auf der Welt immer noch vorkommen. In den Schatten dieser Welt.“

„Ja, das sagtest du schon.“, seufzte Steven. „Wo das Böse ist, fühlt das Böse sich wohl.“

„Böses gibt es auf der ganzen Welt.“, fuhr Barek fort. „Nein. Ein Djinn … da müsste es mehr geben. Mehr als ein Haufen … wie hast du sie genannt? Drecksäcke.“

„Wir sind hier also ganz besondere Drecksäcke.“

„Wer weiß.“, Barek schien sich seiner Sache auf einmal nicht besonders sicher zu sein. Aber ganz ehrlich, Steven ging es nicht anders. Sie redeten über Aberglauben, über Djinns, wo die Blonde heute Mittag noch von einem Soziopathen geredet hatte.

In den letzten Tagen hatte Steven mit Barek die Geschichten ausgetauscht, die inzwischen nicht nur unter den Wärtern kursierten. Und Barek war immer überzeugter davon gewesen, dass es im Katzwinkel nicht mit rechten Dingen zuging. Er hatte versucht, Steven ein paar Gebete und Suren beizubringen. Aber das war nicht Stevens Art. Religion war noch nie seine Art gewesen.

„Ich bin hier, weil ich einen Ausländer erschossen habe.“, sagte er plötzlich und Barek sah ihn groß an. Er wich seinem Blick aus, weil er ihn nicht ertragen konnte. „Drei Schüsse ins Gesicht. Schwerwiegender Fall. Rechtsradikaler Hintergrund. Es war bekannt, dass ich mich abfällig geäußert hatte. Es gab Zeugen. Die Nummer war wasserdicht. Und jetzt das große Geheimnis, Barek: Dreimal darfst du raten. Ich war’s nicht. Jeder dritte hier im Knast wird sagen, dass er es nicht war. Dass er reingelegt worden ist. Jeder will sich sein schmales Hemdchen reinwaschen. Aber nur, weil man hier festsitzt und irgendwann raus kann. Nicht, weil man weiß, dass man nur noch ein paar Stunden zu Leben hat. Ich war’s nicht, Barek. Ich bin so wenig ein Mörder, wie ich ein Rassist bin. Ich war einfach nur dumm, eingebildet und hatte die Pechmarie geküsst. Eine Frau, die einem den Kopf verdrehen kann, damit sie selbst aus der ätzensten Nummer heil rauskommt. Ganz kitschig: Eine Frau hat mich verarscht und mir angehängt, was sie selbst getan hat. Ok? Alle hier halten mich für einen Nazi. Mein Anwalt hat mir geraten, ob ich es nun gewesen wäre oder nicht, ich soll einfach nichts dagegen sagen. Weil Nazis im Knast besser wegkommen als andere. Verstehst du, was ich dir sagen will? Ich wollte keinen Ärger. Deshalb …“

Sie schwiegen beide eine unfassbar lange Zeit.

„Das ist nicht die Art von Drecksack, die sich ein Djinn so normalerweise auf die Hitliste setzt, oder?“

Barek gab ihm keine Antwort.

„Oder?“, plapperte Steven einfach mit zitternder Lippe und zitternden Fingern weiter. „Oder? Oder steht so ein Djinn auf klassische, ironische Tragik? Scheiße noch eins.“, weil er Bareks Blicke und Bareks Schweigen nicht mehr aushielt, sprang Steven auf und ging zurück in seine Zelle. Ein paar Stunden Restlebenszeit konnte man überall hinter sich bringen. Im Gefängnis ist alles eine Zelle. Selbst der Himmel hat Gitter.

 

*

 

Sinter betrat als erste die Zelle. Direkt dahinter Steinrauch.

„Was um alles in der Welt …?“, sagte Steinrauch und Steven wusste ohne hinzusehen, worauf sie anspielte.

„Das Böse hat Angst vor Wasser.“, erklärte er ganz ruhig.

„Und deshalb haben Sie sich dreißig, vierzig Wassergläser um ihr Bett herumgestellt?“, fragte Sinter.

„Alte, tunesische Tradition. Plus das Gefühl, dass es mir echt egal sein kann, ob sie über mich lachen oder nicht.“

Steven lag mit hinter dem Kopf überkreuzten Armen auf der Pritsche und dachte über die Geschichten von Barek nach.

Der Tunesier war noch einmal zu ihm in die Zelle gekommen. Natürlich hatte er kein Wort über die vielen Wassergläser auf dem Boden gesagt. Im Gegenteil. Er hatte sogar etwas Wasser in den Fensterrahmen geschüttet. Und dann hatte er gesagt: „Vielleicht hilft es, das Böse zu ignorieren, wenn es kommt.“

„Nein.“, hatte Steven geantwortet. „Die Technik hab ich schon mal versucht. Hat nicht funktioniert.“

Außerhalb seiner Zelle lief alles den gewohnten Lauf. Es gab Abendessen – Steven verspürte null Appetit – danach noch eineinhalb Stunden Zeit zur freien Verfügung. Dann fünfzehn Minuten, dass jeder in seine eigene Zelle zurückkehren konnte. Und schließlich wurde mit lautem Klacken zentral das Licht gelöscht.

„In der Nacht kommt das Böse, nicht wahr?“, fragte Steven, weil er es nicht ertrug, dass alle so schrecklich still waren.

„Bis jetzt ja.“, sagte Sinter.

Und Steinrauch sagte: „Jeder wurde aus dem Schlaf gerissen. Wir haben noch ein paar Stunden. Wahrscheinlich bis Mitternacht.“

Steven schnaubte verächtlich. Aber Steinrauch fuhr fort: „Dann hören Sie, aber nur Sie, merkwürdige Geräusche aus der Nachbarzelle und das macht Sie fast wahnsinnig …“

„Mehr als die Vorfreude auf den kommenden Tod?“, hakte er zynisch nach.

„So war es bis jetzt immer.“, meinte Steinrauch knapp.

Die Stille war unerträglich. Die Dunkelheit auch. Steven beugte sich zur Seite und schaltete das Leselicht ein.

„Wollen Sie nicht schlafen?“, fragte Sinter.

„Können Sie ein paar schöne Wiegenlieder?“, keifte er zurück. Dann riss er sich aber zusammen und versuchte sich krampfhaft daran festzuhalten, dass nicht die beiden Frauen in seiner Zelle die Feinde waren.

„Tut mir Leid, ich bin etwas angespannt. Ich bleibe lieber wach.“

Sinter war eine sehr kühle Person. Ihr gelang es, kaum eine Mine zu verziehen und ihre Gefühle oder Gedanken waren kaum zu erraten.

Ihre Bewegungen waren sehr langsam, aber nicht etwa wie bei Johnson, dass sie dumm gewesen wäre. Nein, im Gegenteil. Sinter war verdammt klug, darauf hätten sowohl Steven als auch Steinrauch geschworen. Sie nahm sich die Zeit mit der arroganten Gelassenheit einer planenden Frau. Sorgfältig untersuchte sie etwa die Zelle. Ihre Handfläche strich über die Wände und ihre Augen tasteten jeden Winkel ab. Wenn etwas ihre Aufmerksamkeit erregte, zog sie ihre kleine Taschenlampe, kniete sich etwa hin und untersuchte die Stelle einige Minuten. Aber letztlich hätte es Steven gewundert, wenn sie am Ende irgend etwas gefunden hätte. Immerhin war es beruhigend, zuzusehen, wie wenigstens einer in diesem Laden tätig war.

„Hey, Steven!“, zischte es auf einmal von draußen und er zuckte zusammen.

„Haben Sie das gehört?“, fragte er kreidebleich.

„Ja.“, sagte Sinter, die ihre Hand bereits auf der Pistole an ihrer Seite ruhen hatte.

Stevens Blick bat um Erlaubnis und Sinter nickte.

Er stieg also vorsichtig über die Wassergläser zur Tür und angelte den Sichtschutz von Innen zur Seite.

„Was ist los?“, rief er raus.

„Lebst du noch?“, es war Barek.

„Barek, du verdammter …“, er musste sich vor Erleichterung zusammennehmen, nicht laut loszulachen. „Wurde gerade mit Mund zu Mund Beatmung wiederbelebt, weil mein Herz dachte, du wärst der Dschinn, der mich holen will und deshalb einfach aufgehört hat zu schlagen. Also ja, es geht mit verdammt gut. Ich schmecke immer noch die Lippen von dieser Blonden. Du weißt schon, die Heißere von den beiden.“

Barek lachte ein dreckiges Lachen und Steven war sich sicher, Erleichterung rauszuhören.

„Sag mir bitte Bescheid, wenn du tot bist, damit ich beruhigt schlafen kann.“

„Wird gemacht. Die Firma dankt für deine Anteilnahme.“, er schob die Klappe wieder über das Sprechgitter und stieg wieder zurück in sein Bett.

„Ha. So kann das weiter gehen.“, lachte er.

Sinter und Steinrauch sahen alles andere als glücklich aus. Und Sinter hatte inzwischen sogar die Waffe gezogen und hinter seinem Rücken auf die Tür gerichtet gehabt.

„Wahnsinn, wie sicher man sich fühlt, wenn zwei Pistolen im Raum sind.“

„Nennen Sie mir einen Grund, weshalb wir den Typen da beschützen.“, forderte Steinrauch knirschend auf.

Sinter setzte sich wieder auf ihren Stuhl.

„Ich will den Mörder fassen. Wenn wir ihn dabei retten, ist das ein Nebeneffekt.“

„Sehr gut“, erwiderte Steven. „Ich bin aufgestiegen vom Abschaum der Menschheit zu einem geretteten Nebeneffekt.“

„Seien Sie nicht zu stolz auf sich.“, riet ihm Sinter. „Sie sind der Typ, der sich in einem Wasserschloss versteckt hält.“

„Aus Ihrem Mund klingt meine Idee mit den vierzig Wassergläsern ziemlich lächerlich.“

Für einen kurzen Augenblick war sich Steven sicher, den Anflug eines Grinsens in Sinters Gesicht gesehen zu haben. Es könnte aber auch ein Lichtspiel des Wassers über ihrem Kinn gewesen sein.

 

*

 

„Können wir bitte reden?“, bat Steven.

Wenn man auf den Tod wartet, kriecht die Zeit nur dahin. Die Dunkelheit wird geradezu poetisch düster. Und das Licht absurd krank.

„Ich ertrage die Stille nicht. Und ich ertrage es nicht, wenn ich einschlafe. Also reden wir. Bitte.“

Sinter drehte den Kopf halb zu ihm um.

„Möchten Sie uns erzählen, wie Sie zum Nazi geworden sind? Das gibt bestimmt eine schöne gute Nacht Geschichte.“

„Sie klingen so gereizt.“, stellte Steven fest. „Sagen Sie nur, das Warten auf meinen Tod spannt auch Ihre Nerven an?“

Zu seiner Überraschung war Steinrauch auf seiner Seite:

„Reden wir. Die Stille ist wirklich unerträglich.“

„Ich möchte nicht unseren Mörder verprellen, indem er unsere Stimmen hört und dadurch weiß, dass wir hier sind.“

„Was wäre eine Falle ohne einen handfesten Fehler.“, Steven gähnte.

„Wie sind Sie zu ihrem Job gekommen?“, fragte Steinrauch Sinter. Sie flüsterte so leise, dass selbst Steven überrascht war, sie überhaupt zu verstehen.

Sinter sah auch müde aus. Sie hatte sich eine Thermoskanne mit Kaffee mitgebracht. Aber die war inzwischen leer. Und so wie es aussah, galt das selbe für ihren inneren Akku.

Steven wurde ein zweites Mal überrascht. Sie zog jetzt die Waffe aus ihrem Holster und legte die Pistole vor sich auf den Tisch. Die Mündung war auf die Tür gerichtet.

„Ein einziger Kampf gegen die Langeweile.“, flüsterte sie zu Steinrauch zurück. „Da, wo ich herkomme, ein kleines Dorf, ist nie etwas passiert. Als Heranwachsende hatte man das Gefühl, immer nur in der eigenen Suppe zu kochen. Und die Brühe war schon Generationen alt. Das einzig Neue, das man tun konnte: das Dorf verlassen und nicht mehr wiederkommen.“

Steven nickte: „Witzig, so ähnlich war es bei mir auch. Ich hab nichts mehr von meiner Familie ertragen. Alle hingen immer so eng aufeinander, jeder wusste alles von jedem. Und ich war immer mehr so der lonely wolf.“

Sinter schüttelte jetzt energisch den Kopf, weil sie das Gefühl hatte, nicht verstanden worden zu sein: „Ich bin keine Einzelgängerin.“, wehrte sie sich. „Ich vermisse meine Familie. Ich vermisse das Dorf. Aber es gibt eben kein Zurück.“

„Wieso nicht?“, hakte Steinrauch nach.

„Wenn ich jetzt behaupten würde, dass meine Familie in unserem Dorf verflucht worden ist, würden wir nur unseren dünnhäutigen Freund hier aufschrecken.“, antwortete sie geheimnisvoll. Als sie von Steven die gewünschte Reaktion bekommen hatte, fuhr sie deutlich weniger geheimnisvoll fort: „Wir hatten eine Menge Unglück zu Hause. Meine Familie hat darauf reagiert, wie jede reagiert, wenn die Zeiten turbulenter werden. Wir wurden angespannt, meine Eltern und ich sind nicht mehr gut miteinander ausgekommen. Man rieb sich. Die Reibereien nahmen zu. Das Übliche.“

„Das Übliche.“, Steinrauch schien zu lachen. Aber es war eine lautlose Bewegung, die man nicht richtig deuten konnte. Dafür saß sie zu tief in eine schattige Ecke gedrückt. Das einzige, was Steven von ihr noch sehen konnte, waren ihre Finger, die sich unaufhörlich kreisend bewegten.

„Naja, so sagt man doch. Kennen Sie diesen Satz: ‚Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie hingegen ist auf ihre besondere Weise unglücklich.“

„Anna Karenina.“, flüsterte Steven. Aber Sinter und Steinrauch ignorierten ihn.

„Wir waren auf unsere eigene Art unglücklich.“, fuhr Sinter fort. „Mit unserem eigenen Alkohol, unseren eigenen Fehlern und unseren eigenen … Verantwortungen.“

„Klingt dramatisch.“, sagte Steinrauch neugierig.

„Ich bin der Meinung, mein Vater hat sich tot gesoffen. Und ich bin der Meinung, meine Mutter hat dabei zugesehen.“

„Damit wären die beiden Verantwortlichkeiten geregelt. Und was ist dabei ihre Verantwortung, Frau Sinter?“

Sie hätte ihren Namen nicht erwähnen sollen, dachte Steven hinterher. Die direkte Ansprache wirkte nämlich wie das Auflösen einer Hypnose und Sinter wurde erst so richtig bewusst, dass sie zu viel persönlich über sich gesprochen hatte.

„Lassen wir das.“, sagte sie jetzt entschieden. Und dann korrigiert hinterher: „Lassen Sie das. Ich habe gesagt, wir bleiben still.“

„Tut mir Leid.“, sagte Steinrauch. Das klang aber nicht so, als ob es ihr Leid tun würde. Es klang vielmehr überheblich amüsiert.

„Überhaupt: Sie haben ja wohl eine spannendere Geschichte als ich, oder?“

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Sie sind die einzige Frau hier, nicht wahr?“

„Man gewinnt Abstand zu der Welt da draußen.“, flüsterte Steinrauch.

„Wieso sind Sie hier?“

„Es ist wirklich kein schöner Ort, nicht wahr?“, antwortete Steinrauch. „Auch ohne sadistischen Soziopathen, hören Sie mal! Hören Sie mal hin, jetzt wo alles schläft, und alles dunkel ist. Wie es hier klingt.“

Sinter hörte unweigerlich hin.

Sie hätte vollkommene Stille erwartet. Aber dem war nicht so. Es gab rauschende und polternde Geräusche aus der Ferne durch das Versorgungsnetz. Es gab immer jemanden, der schnarchte. Schritte, die von irgendwo her hallten. Sie konnte Steinrauch atmen hören, das Rascheln der Bettwäsche, auf der Steven lag. Und ihr eigenes Blut konnte sie in ihren Ohren rauschen hören.

„Hören Sie es? Diese besondere Art der Stille?“

Sinter lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ihre Körperhaltung verspannte sich.

„Sinter?“, fragte Steven durch das sie blendende Leselicht hindurch. „Alles klar?“

„Es ist schon ein besonderer Ort, so ein Gefängnis.“, flüsterte Steinrauch weiter. „Und ich liebe es, an besonderen Orten zu sein. Besondere Orte, besondere … Menschen. Abstand vom Gewöhnlichen. Fast könnte man sagen: ich mag Katzwinkel in der Dunkelheit sogar noch viel mehr als bei Licht.“

„Sinter?“, Steven klang jetzt energischer.

Steinrauchs Stimme wurde etwas eindringlicher.

„Aber ich glaube: das Übliche. Jeder Mensch hat so ein Faible für besondere Orte. Die Frage ist nur: Was empfindet man, als etwas Besonderes.“

„Sinter! Verdammt!“, aus dem Flüstern war ein Zischen durch die kaltgefrorene Luft hindurch geworden.

„Und was“, fuhr Steinrauch fort „was fängt man dort an!“

Steinrauch beugte sich vor. Langsam bewegte ihr Gesicht sich aus der Schattenzone heraus. Die Luft war wie zu Eis erstarrt und die Zeit schien sich nur zäh darin aufhalten zu können. Aber Steinrauch merkte von alldem nichts. Die Haut auf ihrem Gesicht war blass glänzend geworden. Fast durchsichtig. Wie Rauch.

Im Vorbeugen verzerrte sich ihr Gesicht zu einer löwenähnlichen Fratze. Ihr Grinsen war das eines Raubtiers. Und mit nur einem einzigen Atemzug, in dem Sinter vorschnellte und ihre Pistole packte, um sie auf die Wärterin zu richten, löste sich Steinrauch in diesen Atemzug auf.

Ein Schuss löste sich. Aber nicht, weil sie abgedrückt hatte, sondern weil Steven sie von hinten zur Seite gestoßen hatte. Alles ging wahnsinnig schnell.

Sinter stürzte zu Boden und Steven schüttete das Wasserglas in die Richtung, in der eben noch Steinrauch gesessen hatte.

Als Sinter wieder auf den Beinen war, sah sie Steven zitternd vor sich stehen.

„Was zur Hölle war das?“, brüllte er sie an. Aber es blieb keine Zeit zum Antworten, weil ein dunkler, kalter Rauch über den Boden jagte und alle Wassergläser zum Platzen brachte.

Aus der Dunkelheit hörte Steven Barek seinen Namen rufen.

„Raus hier!“, schrie Steven Sinter an, die keine Zeit fand, ihre gewohnte sorgsame Art zu Denken zu aktivieren.

In der nächsten Sekunde stand Steinrauch hinter ihr und packte sie.

Steven fuhr herum. Sinter ließ die Waffe fallen und wurde selbst mit Steinrauch gemeinsam rücklings gegen die nächste Wand geworfen.

Die beiden Frauen rangen miteinander. Aber in einem ungleich verteilten Kräfteverhältnis. Spielend leicht drehte Steinrauch Sinter den Arm auf den Rücken und ließ die Beamtin wie eine Strohpuppe vor sich tanzen. Steinrauch – oder der Dschinn, wie Steven sofort dachte – stieß Sinter erneut gegen die Wand. Diesmal schlug die Beamtin aber mit dem Gesicht voraus dagegen und sie hinterließ einen blutigen Fleck auf der grauen Farbe.

Steven stürzte vor und packte die Waffe. Im nächsten Moment stürzte Sinter kreischend über ihn hinweg und schlug auf dem Boden in die nassen Glasscherben. Sie schrie auf. Als Steven sich aufrichtete um auf das Böse zu zielen, stand die jetzt mit einem Mal vor ihm. Sie war halb Mensch, halb Rauch, irrwitzige Feuer brannten dort, wo eigentlich Augen hätten sein müssen. Sie sprang vor, durch ihn hindurch und ohne die Aufmerksamkeit von ihrem Opfer zu lassen. Über Sinter halb gebeugt, halb schwebend, packte sie die blonden Haare und zog daran, dass sich der Kopf in den Nacken bog.

Steven stürzte hinüber, wollte das Ding packen, musste aber machtlos dabei zusehen, wie mit einem gehauchten Lachen das Ding über Sinter mit klauenbewehrten Fäusten nach unten stieß und sich Sinter unter dem Hieb krümmte, als säße niemand auf ihrem Brustkorb drauf.

Stevens Hand, die Steinrauch am Kopf hatte packen wollen, traf statt dessen ebenfalls auf Sinter. Weil die sich aber bereits unter dem nächsten Hieb krümmte, rutschte seine Hand in den Aufschlag ihres Jacketts.

Er wusste selbst nicht, wie es zu ihm gekommen war, aber im nächsten Moment stand Steven mit den Zellenschlüsseln in der Hand an der Zellentür und zitterte damit am Schloss herum.

Hinter sich hörte er immer wieder dieses merkwürdig rauchende Böse zischen und kreischen und er war sich sicher, Sinter seinen Namen stöhnen zu hören.

Irgendwie kam er auf den Flur, irgendwie stolperte er blindlings voraus und folgte einfach dem Weg, den sein Unterbewusstsein ihm vorschlug.

Barek sah nur seine Tür von außen aufschließen und Steven mit weit aufgerissenen Augen, einer Pistole in der einen, Schlüssel in der anderen Hand und fremdes Blut auf der Brust vor sich stehen.

„Raus hier!“, befahl ihm Barek.

Aber Steven bekam von seiner Umwelt nichts mit. Er ließ sich von Barek führen, dem er in diesem Augenblick blind vertrauen musste.

Denn zu mehr war sein Verstand nicht mehr in der Lage.

 

*

„Die nächste Station heißt Kehl.“, sagte Barek.

Der Mann, der ihm gegenüber saß, reagierte nur mit einem kurzen Runzeln der Stirn.

„Es gibt Dschinns, die sich als Menschen tarnen können.“, murmelte Barek ihm zu. „Die Ifrit zum Beispiel. Meine Tante hat mir mal von denen erzählt. Die bestehen nur aus feuerlosem Rauch. Es sind Geister von Ermordeten. Die bekannteste Dschenniya ist Lalla Aisha. Sie kann Besitz ergreifen von Frauen. Meistens mordet sie Männer. Es gibt einen bösen Rauch, der immer in ihrer Nähe ist. Und es gibt einen heilenden Rauch. Da hilft Wasser natürlich kaum. Sie ist …“, er brach ab.

Der Mann ihm gegenüber hatte sich jetzt deutlich bewegt.

Er war halb aufgestanden und hatte sich so vorgebeugt, dass er fast mit der Stirn an die Glasscheibe stieß. Neugierig starrte er nach draußen. Dorthin, wo die Sonne aufzugehen schien. Der Himmel jedenfalls wurde langsam so grau wie Asche.

„Ich hätte meinen Verwandten besser zuhören müssen, wie?“

Jetzt sah der Mann, der einmal Steven hieß, direkt zu ihm rüber. Seine Schläfe lag wirklich auf der kalten Fensterscheibe.

„Komm zu mir zurück, Bruder!“, sagte Barek. „Du hast furchtbare Dinge gesehen. Nur wenige Männer überleben das Böse. Die haben es dann verdient, wieder zurückzufinden.“

Er sagte zurückzufinden, weil sich Barek die Sache mit Stevens Kopf so vorstellte: Da war ein großer, weiter Raum. Und irgendwo in den hintersten Winkel hatte sich alles, was einmal Steven war, zurückgezogen. Er musste dort nur aufstehen und vortreten. Nach vorne kommen an die Stelle direkt hinter die Augen. Er musste einfach nur wieder das Ruder übernehmen.

Was Barek nicht ahnte: Zwischen sich und der Stelle hinter den Augen, lag nicht einfach nur ein weiter Raum oder ein vielschichtiges Labyrinth.

Dazwischen lag streng genommen nur ein einziges Bild, eine einzige Szene:

Als Steven die Tür zitternd aufgeschlossen hatte, die Tür aufsprang, da wandte er sich noch einmal um und sah über die Schulter zurück.

Auf die Blonde, die vollkommen leichtfertig den Kopf vom Leib gezogen bekam und auf dieses Ding aus dunklem, grauem Rauch, das sich gleichzeitig tief, fast sinnlich über Sinter gebeugt hielt, zugleich aber auch wie mit einem zweiten Kopf oder einem zweiten Gesicht zu Steven rüber blickte und so breit wie ein Löwe grinste.

Voller Zufriedenheit.

Voller Genuss.

Und voller Vorfreude.

Denn ein hauchdünner Rauchfaden schlang sich um Stevens Kehle. Nicht lange.

Nur bis zum nächsten Atemzug.

Der in ihm toben sollte und sich ausbreitete, mehr und mehr

Wie ein Geruch, den man, einmal geatmet, nicht mehr verliert.

 

Lust auf mehr Horror? Hier geht es zu der Linde von Kehl.

Was sagt ihr dazu?