Lebenslänglich (1/3)

Als Steven und Barek einander kennenlernten, lief gerade eine Ballade von Linkin Park. Und Barek fing an zu weinen, wie ein kleines Kind. Ihm liefen die Tränen nur so über. Er schluchzte und zitterte am ganzen Körper, dieses massige Fleischpaket. Aber er gab keinen Laut von sich. Und das machte die Sache so schrecklich. Steven hatte sehr selten einen erwachsenen Mann weinen sehen. Aber so weinte kein normaler Mensch. Und deswegen allein war er wohl auf diesen Mann zugetreten, dessen Haut so dunkel war wie die Nacht, dessen Tränen so lautlos flossen und der so intensiv ergriffen war von einem Lied.

Wenn Männer weinen, dann gibt es kein Protokoll, wie man sie tröstet. Steven hätte ein Kind trösten können, ja. Aber man kann nicht einfach auf einen Fremden zugehen, ihn in den Arm nehmen und ihm versprechen, dass alles wieder gut werde. Er konnte sich nur zu ihm setzen und ihm stumm Gesellschaft leisten. Wäre er Raucher gewesen, hätte er symbolisch eine Zigarette anbieten können. Aber so?

So saßen sie einfach nebeneinander und Steven hörte vielleicht zum ersten Mal bewusst auf den Text von einem Lied, das er bestimmt schon ein paar Mal gehört hatte.

Who cares if one more light goes out
In the sky of a million stars
It flickers, flickers
Who cares when someone’s time runs out
If a moment is all we are
Or quicker, quicker
Who cares if one more light goes out
Well I do

„Text oder Musik?“, fragte Steven schließlich. Und Barek sah zu ihm rüber, eigentlich zu ihm runter, und gab ein merkwürdig einatmendes Geräusch von sich.

„Keine Ahnung, wann mich das letzte Mal ein Lied ergriffen hat.“, redete Steven weiter. „War vielleicht vor ein paar Jahren. Aber das fühlt sich inzwischen auch schon an wie in einem anderen Leben.“

Barek lief die Rotze aus der Nase und Steven reichte ihm ein Päckchen billige Papiertaschentücher, das einzige Zeug, das man hier eben so bekam. Weil hier grundsätzlich alles von verdammt mieser Qualität war, gab es auch grundsätzlich keinen Grund zum Klagen.

Barek nahm das Päckchen dankbar an und schnäuzte sich ein paar Mal in mehrere Tücher. Die verbrauchten stopfte er sich in seine rechte Hosentasche, die ohnehin schon ziemlich ausgebeult war.

Die Fäuste des dunkelhäutigen Mannes öffneten und schlossen sich immer wieder, so als knetete er darin seine Selbstkontrolle. Schließlich drehte er sich zu Steven um und meinte: „Danke.“, tief dunkel, so dunkel, als wäre Bareks Körper komplett hohl und als dringe die Stimme aus einer unendlichen Tiefe hervor. So dunkel hatte er noch keine menschliche Stimme vernommen.

Unnötigerweise sagte Steven zu ihm: „Mein Name ist Steven.“, denn ihre Namen standen ja auf billigen, grauen Aufnähern auf der Brusttasche. Und Barek packte sich seine ausgestreckte Hand mit beiden Händen, die so feucht waren, als ob Barek gerade erst aus dem Wasser geklettert wäre. Barek schüttelte sie ziemlich grob und ungelenk und sagte einfach nur unnötigerweise seinen eigenen Namen.

Damit war die Begrüßungszeremonie zu Ende und wie sich herausstellte, sollte die Freundschaft zwischen ihnen den Unterschied ausmachen zwischen Leben und Tod.

Die Sonne brannte auf sie herab, so als ob die Welt außerhalb der Mauern längst untergegangen wäre und sich in eine einzige Wüste verwandelt hätte.

Argwöhnisch wurden die beiden Freunde von den Wärtern beäugt und Direktor Dr. Lewen, der gerade zufällig in Zellenblock D am Fenster stand und mit der Wärterin Steinrauch eine rauchte, sah auf die beiden Männer herab.

„Na sieh mal einer an. Sieh an. Sieh an. Wer sich da gefunden hat. Wer hätte das für möglich gehalten. Ausgerechnet.“

„Das Leben steckt voller Wunder.“, kicherte Steinrauch und zog tief an ihrer Zigarette.

„Die müssen wir im Auge behalten. Die bedeuten Ärger.“, prophezeite Dr. Lewen.

Und Steinrauch fragte: „Big Deal?“

„Ein Haufen Pferdescheiße!“, antwortete Dr. Lewen. „Ein Haufen Pferdescheiße wird das. Und mächtig viel Arbeit.“

Die Ansicht hatte er deshalb, weil er die Akte von jedem einzelnen seiner Sträflinge kannte. Das Katzwinkel war ein „verdammt gut geführter Laden“ und da war Dr. Lewen „verdammt stolz drauf“.

„Wenn Gott nicht jedes seiner Schäflein kennt, kann Gott auch keine Herde führen.“, sagte er immer. Und er meinte damit: Nur weil er selbst jeden einzelnen seiner Sträflinge in der Haft- und Vollzugsanstalt Katzwinkel kannte, wusste er auch immer über alles und jeden Bescheid.

Augen und Ohren waren immer offen. Und seine ganze Körperhaltung verriet auch, dass er sich immer bereit und wie auf dem Sprung fühlte.

Und jetzt, da er sah, wie sein Vorzeige Nazi sich mit dem dunkelhäutigsten Typen im Hof anfreundete, witterte er, dass etwas Dunkles sich zusammenbrauen musste.

„Wissen Sie, Steinrauch“, sagte er. „Als Kind hab ich ja an Märchen geglaubt. Aber wenn ich die beiden da unten so sitzen sehe, dann spüre ich mit jeder Faser meines Körpers, dass das Leben nicht so läuft wie im Märchen.“

Im Hof schien Steven Weller seine Blicke zu spüren, denn auf einmal drehte sich der Gefangene um und sah über die Schulter an der Fassade nach oben. Dr. Lewen war versucht zu grinsen und winken. Aber er unterließ beides. Statt dessen wandte er sich ab und sagte: „Geben Sie weiter, dass in den nächsten Tagen die beiden besonders unter Beobachtung stehen.“

„Sehr gern.“, sagte Steinrauch.

Unten auf dem Hof sagte Steven zu seinem neuen Freund: „Ich sag’s dir besser gleich. Mit mir befreundet zu sein, bringt dir garantiert kein Glück.“

Barek bleckte die Zähne und sagte: „Wer sagt, dass wir Freunde sind?“, und dann drehte sich zu dem bleichen Typen viel näher zu, so dass der seinen Atem im Gesicht spüren musste: „Und wer sagt dir, dass ich dir Glück bringen werde.“

Steven grinste. Und dann grinste auch Barek.

Und eins war jetzt klar: sie waren beide auf der selben Wellenlänge.

*

In Stevens Zelle hing nur ein einziges Bild. Er hatte es aus einem National Geographic ausgeschnitten und sich einrahmen lassen. Es zeigte eine Luftaufnahme einer Insel, die so aussah wie der Buchstabe C.

Das Bild hing so, dass er es vom Bett aus gut sehen konnte. Es beruhigte ihn. Und für ihn war es das Persönlichste, was er hatte aufhängen können.

In Bareks Zelle hing nichts. Er hatte kaum persönliche Gegenstände. Das allermeiste waren gefängniseigene Habseligkeiten. Man hätte denken können, er habe nicht vor, lange hier zu bleiben. Also lohnte es sich gar nicht, sich ‚wohnlich einzurichten’.

Steven hatte sich früher Gefängnisse immer anders vorgestellt. Und er fast sogar ein wenig enttäuscht, dass es in der Realität nur halb so einsam, grau und eintönig wirkte, wie in seinen Erwartungen. Es gab viel zu tun. Man konnte sich zwischen den verschiedenen Bereichen frei bewegen. Aber man musste auch mit den wenigen Leuten klar kommen, die das Gefängnis einem zu bieten hatte.

Am seinem ersten Tag hatte einer der Insassen zu ihm gesagt: nach drei Jahren gehen dir die Gitter schon noch auf Nerven. Mach dir da keine Sorgen. Die Gitter erinnern dich daran, dass du nicht raus darfst und dass du – ganz egal wie es sich auch tagsüber anfühlt – verdammt noch mal eingesperrt bist.

Da machte er sich keine Sorgen. Zum ersten eingesperrt hatte er sich gefühlt, als es zum ersten Mal dunkel gewesen war. Die Dunkelheit hatte eine viel stärkere Wirkung als die Gitter gehabt. Und er spürte, dass das auch noch lange so bleiben würde.

Es gab eine festgelegte Zeit, wann das allgemeine Licht zentral ausgeschaltet wurde. Natürlich hatte jede Zelle ein eigenes, davon unabhängiges Leselicht. Aber er hatte es bewusst ausgelassen. Er wollte am Anfang den Rhythmus des Katzwinkels kennenlernen. Den diesem Ort eigenen Puls wollte er spüren. Und so hatte er auf seiner Pritsche gelegen und gewartet, bis es zuerst draußen immer dunkler geworden war und schließlich, begleitet von einem lauten Klacken, alle Lichter ausgingen.

Erst hatte er gar nichts gesehen. Die Augen mussten sich zuerst an die Abwesenheit des Lichts gewöhnen. Aber dann, als er erwartete, dass sich endlich Konturen und Umrisse abzeichnen würden, war nichts passiert. Die Schwärze war geblieben, so als ob man mit der zentralen Sicherung gar nicht das Licht sondern die Sehnerven der Gefangenen ausschalten konnte. Panik stieg in ihm auf. Ein ungewohntes Gefühl beschlich ihn. Nicht etwa, dass ihn unzählige Augen anstarrten oder dass Monster in den unsichtbaren Nischen der Nacht auf ihn lauerten. Nein. Es war das erste Mal das Gefühl vollkommener Isolation. Die Enge der Zelle war durch die Finsternis erst richtig spürbar geworden. Die Möbel – über die er anfangs noch gedacht hatte, dass sie eher ein Zeichen von Luxus als von Gefängnis darstellten – waren jetzt das vollkommene Gegenteil von Luxus geworden: Sie machten den Raum noch enger. Sie waren seine Feinde. Sie erdrückten ihn, atmeten ihm die Luft weg, schnürten ihm das wenige ein, das er noch hatte.

Von da an begriff Steven wirklich, was das Wort Gefängnis bedeutete.

„Machst du dich wieder auf eine schlaflose Nacht bereit?“

Steven zuckte zusammen und fuhr herum. In die halb geöffnete Tür hatte sich der Direktor der Anstalt geschlichen.

„Schön, Sie zu sehen.“, knurrte Steven. „Wie wär’s das nächste Mal mit anklopfen?“

„Mein Vater hat früher immer gesagt: Wer erschrickt, hat nur ein schlechtes Gewissen. Hast du ein schlechtes Gewissen, Steven?“

„Ja, ich habe, glaub ich Bockmist gebaut. Ich hab Angst, dass ich dafür ins Gefängnis komme. Können Sie mir, vielleicht helfen, Lewen?“

Dr. Lewen kicherte über diesen Witz so sehr, dass die Spitzen seiner Wangen lila anliefen. Vorsichtig setzte er die Brille ab und begann sie zu putzen.

„Einen vorwitzigen kleinen Gast haben wir da. Ich darf mich doch setzen.“ Es war keine Frage und es bedurfte keiner Antwort. Wahrscheinlich würde Steven sich bis zum letzten Tag nicht wie der Besitzer dieser Zelle fühlen, sondern wie der Gast eines Sternehotels, das er so lange zu besuchen hatte, wie er im Voraus dafür bezahlt hatte.

„Was macht die Schlaflosigkeit, Steven? Brauchst du Tabletten?“

„Ich hab mit dem Gedanken gespielt, ob mir etwas mehr frische Luft gut tun würde. Was denken Sie, Lewen, ob ich heute Nacht wohl draußen übernachten darf? Unter freiem Sternenhimmel? Stellen Sie es sich vor, ein Biwak wird sich bestimmt irgendwo im Keller finden lassen. Vielleicht hat Steinrauch ja noch was zu Hause. So wie die drauf ist, sammelt die bestimmt Sachen vom Militär. Hey, vielleicht hab ich Glück, und auf einem ist sogar kein Reichsadler mehr drauf.“

Jetzt kicherte Dr. Lewen nicht. Er sah überhaupt nicht amüsiert aus und das war das Gesicht, das Steven weitaus besser an der Frontseite von Direktor Dr. Lewens Kopf gefiel.

„Schauen Sie nicht so griesgrämig.“, munterte er ihn auf. „Es gibt bestimmt auch Hotelgäste, die jetzt viel lieber mit Ihnen reden als ich.“

„Hm.“, machte der dicke Mann auf Stevens Bettrand. „Vielleicht dieser Barek?“

Steven zuckte zusammen.

„Weißt du, Steven, etwas ganz merkwürdiges ist heute passiert. Kannst du dir denken, was? Nein? Ich sag’s dir. Hat sich mein Vorzeigenazi aus der Präsidentensuite doch tatsächlich mit einem dunkelhäutigen Tunesier aus der Prominentensuite angefreundet. Kannst du dir das vorstellen? Ich hab mit dem Gedanken gespielt, ob ich euch gemeinsam in die Hochzeitszimmer verlegen sollte.“

„Neidisch?“, knurrte Steven. „Wer weiß, ich kann ihn ja mal fragen, vielleicht nehmen wir Sie in unserem Bunde als Dritten auf. Sie wissen schon, wie in diesem Lied von Schiller.“

„Lass den Scheiß. Als ob du was von Schiller kennen würdest.“, immer mehr verwandelte sich das Gesicht von Dr. Lewen. Am Anfang hatte er wohl noch freundlich und höflich wirken wollen. Aber lange hielten diese Maskenspiele nie. Er war nicht talentiert oder geduldig genug, um einem lange genug eine bestimmte Haltung vorzuspielen. Ziemlich schnell, hatte Steven bereits bemerkt, bröckelte die äußere Schicht immer wieder ab. Und dann blieb nur noch dieses bösartige Schäferhundgesicht zurück, das er mal in einem Comic gesehen hatte: Schäferhund frontal mit gefletschten Zähnen, Lefze, die ihm zwischen den Eckzähnen nach unten rann und eng zusammengepresste Augen. Dieses Bild stand in Stevens Kopf für die wahren Gefühle Lewens. Und er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Lewen zu mehr als diesem Gefühl im Stande war.

„Was wollen Sie heute Abend wirklich von mir?“, fragte Steven. Er war zu müde und zu erschöpft um dämliche Katz- und Mausspielchen mit dem Direktor zu spielen.

„Ich will wissen, welcher Ärger auf uns alle zukommt.“, die Augen versuchten sich tief in Steven hineinzubohren. „Ich will wissen, ob unser rechter Bruder sich aus bestimmten Gründen mit unserem Tunesier eingelassen hat heute Mittag. Und ich bin so schrecklich neugierig: Ich will wissen, wie die Story ausgeht.“

Na, allein dafür hat es sich ja gelohnt, schoss es Steven durch den Kopf.

Sein Grinsen gefiel Dr. Lewen überhaupt nicht.

„Wissen Sie, ich bin geläutert. Das deutsche Justizsystem hat mich kuriert. Ich habe aus den Fehlern meiner Vergangenheit gelernt. Ich sitze hier wegen Taten ein, die gesühnt werden müssen. Und ich sitze ein als einer, der sozialisiert wurde. Vom Saulus zum Paulus. Sehet her: Ein Blitz mit Namen Dr. Lewen stieß vom Himmel und wer sehend war wurde blind und wer blind war, wurde sehend. Ich weiß jetzt, dass wir alle nur Menschen sind. Und ich weiß, dass ich jeden Menschen lieb haben muss.

Außer Sie natürlich, Dr. Lewen. Keine Sorge. Ich sagte ja Mensch, Sie sind aber ein Arschloch.“

Lewen sprang auf und stürzte auf Steven zu. Er rechnete damit, von dem Direktor gepackt zu werden, geschüttelt, gestoßen, was auch immer. Aber der direkte Ärger blieb aus. Lewen konnte sich selbst im letzten Moment wieder unter Kontrolle bringen und innehalten.

„Glaub ja nicht, dass ich dir deinen Bullshit abkaufe.“, knurrte er Steven an. Dan fuhr er herum und stürmte aus der Zelle. Die Tür schlug er demonstrativ hinter sich zu.

Sag mir nur eins, hörte er eine altbekannte Stimme in seinem Kopf. Fühlt es sich gut an, der Überlegene zu sein?

Klar.

Warum bist du dann der eingesperrte und die Witzfigur hält die Schlüssel?

Verschätz dich nicht, warnte Steven sich selbst in Gedanken.

Er starrte auf sein Inselbild an der Wand. Und er starrte so lange darauf, bis das Licht mit lautem Klacken ausgeschaltet wurde und er mitten in seiner Zelle stand.

Jetzt erst merkte er, dass er die ganze Zeit das Gesicht sehr angespannt hatte.

Als er es entspannte, kam die Müdigkeit wieder zu ihm zurück.

Wie lange war es jetzt her, dass er ordentlich geschlafen hatte?

Die entscheidende Frage lautet doch wohl: Wie lange noch, bis du wieder schlafen kannst?

*

Die altbekannte Stimme, die Steven in seinem Kopf hörte, gehörte Rolf Münz.

Zwölf Jahre.

Zellenblock A.

Das war der Block, wo man das schlechteste Essen bekam. Und das bedeutete etwas.

Niemand fragt hier irgendwen, warum er einsitzt, ist das klar? Du fragst nicht nach dem Leben, das es draußen gegeben hat. Ist nämlich scheißegal. Alles, was zählt, ist das Leben hier drin. Such dir die, die du magst, scheiß drauf, ob sie draußen mögen würdest. Und ab dann verhältst du dich solidarisch.

Hier drin sind alle Schwerverbrecher. Du wirst also keine Mutter Theresa hier finden und keinen Mahadma Gandhi. Hier kommst du nur her, wenn du ein beschissener Drecksack bist.

Und weißt du, was Drecksäcke am besten können? Ärger!

Da kommst du also gar nicht drum rum.

Wir haben Ärger in der Blutbahn.

Wir haben Ärger in den Genen.

Wir pissen Ärger.

Wir scheißen Ärger.

Wir atmen es sogar.

Deshalb wusste Steven auch nicht, was Münz angestellt hatte. Er wusste nur, das Münz ein verdammt alter Sack war, der einem entweder das komplette Leben erklären konnte oder einem die Nase brach.

„Such’s dir aus!“, sagte er immer zur Begrüßung. Und das hieß soviel wie: Machen wir heute auf Freund oder auf Ärger?

In dieser Nacht wachte Münz von dem dümmsten Geräusch auf, dass man sich so vorstellen kann: der Typ in der Nachbarzelle pisste im Stehen in die Schüssel und traf nur ins Wasser.

Münz war alt genug, um nicht mehr einschlafen zu können, wenn er einmal wach war. Deshalb schwang er seine Beine von der Matratze und rieb sich fluchend mit den Handflächen die Augen.

Als nächstes schaltete er das Leselicht ein und kramte dann in dem weißen Nachttischschränkchen mit den individuellen Gravuren nach einem Päckchen Zigaretten.

In den Zellen war das Rauchen natürlich verboten. Aber das interessierte hier in Block A niemanden. So lange man nichts abfackelte, drückten alle die Augen zu. Außerdem war er ja allein.

Er stellte sich unter das Gitterfenster, das ihn immer daran erinnerte, ein Gefangener zu sein, und zündete sich eine Zigarette an.

Der Rauch schmeckte bitter. Aber was wollte er dagegen tun? Er inhalierte tief den blauen Tod und schnippte am Ende die Zigarette durch die Gitterstäbe nach draußen.

Schon wieder rauschte es in der Nachbarszelle und Münz stöhnte: „Du willst mich wohl verarschen!“

Mühsam schleppte er sich zur Gefängnistür, schob das ausgeleierte Metall dort von dem Sprechgitter weg und rief nach draußen: „Ich drück dir gleich ein Zäpfchen in deine Schwanzspitze hineine, wenn du nicht sofort aufhörst …“, weiter sollte er aber nicht kommen, weil ein Knüppel direkt vor seiner Nase gegen das Gitter schlug und er erschrocken zurückprallte.

„Halt die Fresse, Münz. Die andern wollen schlafen.“

„Sag das dem frommen Nachbar mit der Blasenentzündung.“, fauchte er aggressiv zurück.

Sein Wärter – er konnte es nicht genau sehen, war es Müller oder Wegbrecht? – sah ihn erst verständnislos an, dann sagte er: „Hast wohl nen Albtraum. Leg dich wieder hin.“

„Verdammt, verstehst du das nicht?“, schrie Münz jetzt. „Ich kann kein Auge zumachen, weil der Kerl da nebendran ständig pisst wie ein Wasserfall. Und nicht leise oder so, sondern …“

„Münz!“, unterbrach ihn der Wärter streng. „Die Zelle ist leer.“, er deutete jetzt mit dem Kopf in die selbe Richtung, in die Münz eben noch gezeigt hatte.

„Was?“

Das Sprechgitter wurde wieder zugeschoben.

Es dauerte eine Weile, bis Münz müder Verstand begriff, worum es hier ging. Dann schleppte er sich hustend zur Wand, hinter der er das Geräusch gehört hatte. Es dauerte nicht lange, dann kam es wieder. Und jetzt, da er das Ohr an der Wand hatte, war er sich sicher, dass er auch noch eine Stimme hörte, die ziemlich erleichtert seufzte.

„Will der mich verarschen?“, fragte Münz und dann laut: „Ey Pisser! Lass es jetzt. Keine Ahnung, wer du bist, aber morgen früh sehen wir uns aufm Weg zum Frühstücksbuffett und dann schlag ich dir die Zähne ein. Alles klar? Ich brauch meinen …“

Noch während er „Schönheitsschlaf“ sagte, um den Satz zu beenden, sprang die Tür zu seiner Zelle auf.

Erst dachte er, der Wärter würde jetzt zu ihm reinkommen, um ihm noch einmal eindrücklich zu sagen, dass er jetzt still zu sein hatte. Aber niemand kam.

„Komm doch direkt rüber.“, hörte er statt dessen eine Stimme von nebenan. „Klären wir es direkt.“

Vorsichtig trat Münz zur unerlaubterweise geöffneten Tür.

Er witterte eine Falle, wie man sie aus Gefängnisfilmen kennt. Aber das war normalerweise nicht der Stil, wie er hier im Haus verfolgt wurde.

Auf dem Flur war von einem Wärter nichts mehr zu sehen.

Aber etwas anderes, die Tür zur Nachbarszelle war auch offen.

„Ha! Na, das ist ja mal etwas ganz Neues.“, sagte Münz. Er lehnte sich mit dem Rücken an den eigenen Türrahmen und starrte hinüber in Richtung Nachbarszelle.

„Was ist jetzt?“, fragte der Drecksack, der jetzt sein Nachbar war.

Und das klang erschreckend ähnlich wie sein „Such’s dir aus!“

„Hab keinen Bock auf Ärger mit dem Chef des Hauses.“, sagte Münz. „Also wenn, dann musst du schon zu mir …“

Weiter sollte Münz nicht mehr kommen.

Denn im nächsten Augenblick jagte das schwarze Ding aus der Nachbarszelle und stürmte zu ihm hinein. Er wurde hineingeschleudert und die Tür schlug zu.

Für den Bruchteil einer Sekunde war es so still wie es nur vor der verschlossenen Höllentür sein konnte.

Und dann stürzte das Ding über Rolf Münz.

Zwölf Jahre.

Davon sieben schon abgesessen.

Alle sieben in Block A.

Der Ort, wo man das schlechteste Essen bekam.

Und den miesesten Tod.

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