Marie Mallarmé – Kapitel 4 (3)

Marie Mallarmé sah aus den Augenwinkeln zu den Dreien hinüber, die zu zanken begannen. Sie hatte schon bemerkt, dass die Kinder im Heiligen Geist sich in Grüppchen zusammenfanden. Und in der Mensa konnte man das sehr gut beobachten. Es gab Tische, an denen es noch freie Plätze gegeben hätte. Aber als die Köchin zum Frühstück rief und allen auftrug, vom Fenster wegzutreten, gab es Tische, an denen sich die Kinder zusammenquetschten, um beieinander bleiben zu können. Direkt gegenüber von Marie Mallarmé saß ein Mädchen auf dem Schoß ihrer Freundin. Und gegenüber saßen an einer Stelle, wo eigentlich nur drei Kinder Platz gefunden hätten, gleich fünf nebeneinander. An einem Tisch saßen nur zwei recht schüchterne Jungen, die sich im Flüsterton unterhielten. Direkt links von ihnen, aber an einem anderen Tisch, saß eine gemischte Clique, in der geprahlt wurde, wer schon mal den wildesten Sturm erlebt hatte. Und während sich alle setzten, merkte Marie Mallarmé, dass zu ihrem Tisch sonst niemand kam.

Bernard tat so, als sei er irgendwie entrüstet über Thomeos Hinzukommen. Und Thomeo tat so, als stünde er über allem, als könne er sich einfach alles erlauben. Aber Tatsache war wohl, dass Bernard und Claudine zu keiner Gruppe gehörten und Thomeo vielleicht auch nicht. Sie erinnerte sich, dass Bernard diesen ungewöhnlichen Jungen gestern einen „Einzelgänger“ genannt hatte. Und sie erinnerte sich, dass Thomeo ganz allein in einem ganz merkwürdigen Dachkämmerchen lebte.

Als Claudine auch damit anfing, ganz entrüstet zu tun und Thomeo nun auch fragte, ob er nichts besseres zu tun habe, als ihnen hier die Zeit zu stehlen und die Ohren mit luftleeren Wörtern vollzuquatschen, musste Marie Mallarmé tatsächlich kichern. Sie hatte nicht damit gerechnet, aber Thomeo entging das nicht:

„Was ist so komisch?“, fragte er sofort nach. Und das konnte Marie natürlich nicht beantworten.

„Nun lass mal überlegen, wer oder was an diesem Tisch komisch sein könnte.“, meinte Bernard und beugte sich unmissverständlich mit weit aufgerissenen Augen vor. „Wer könnte es sein?“, wiederholte er gedehnt und beugte sich noch weiter vor, dass Thomeo irritiert zurückwich.

Thomeo sagte: „Du bist merkwürdig.“ Ganz einfach und damit wandte er sich von Bernard ab, als habe er auf einen Schlag jegliches Interesse an diesem Jungen verloren.

Claudine unterdrückte ganz offensichtlich ein Lachen, weil es ja immerhin ihr Bruder war und weil der ja auch eigentlich auf ihrer Seite gestanden hatte.

Sie war empfindsam und diplomatisch genug, um zu bemerken, dass es nur eine einzige Strategie gab, sich aus der Situation unbeschadet zu retten. Sie wechselte das Thema:

„Was hast du eben damit gemeint?“, fragte sie.

„Womit?“, fragte Thomeo irritiert nach, der noch immer von Bernard von der Seite angestiert wurde.

„Du hast eben etwas zu Marie gesagt, als sie nicht auf dich reagiert hat. ‚Jahrhundertsturm’ und dann …“

„Du meinst, was ich ihr gesagt habe, während dein Bruder mich zu beleidigen versucht hat?“

„Ich mag den da nicht.“, knurrte Bernard zu Claudine und zeigte mit seiner Gabel auf Thomeo.

„Sei jetzt still.“, fuhr Claudine ihn an. „Thomeo hat gesagt, der Sturm sei kein gewöhnlicher Sturm aber auch bei weitem …“

„… bei weitem nicht das Schlimmste hier.“, ergänzte Thomeo. Und jetzt wandte er sich wieder Marie zu. „Sie weiß das auch.“ Und dann, zu ihrer Überraschung zeigte er auf Bernard. „Und er ja auch.“

Bernard starrte Thomeo verwundert an. „Verzeihung, kennen wir uns, Fremder?“

„Oh, jetzt nicht.“, machte Thomeo plötzlich und er dann lachte er ganz laut. Hätten Marie, Claudine und Bernard nicht das gesamte Gespräch miterlebt, hätten sie ihm fast geglaubt, dass es ein echtes Lachen war. Er sagte: „Das ist eine gute Geschichte, Bernard.“

Bernard dachte, Thomeo könnte vielleicht den Verstand verloren haben. Vielleicht hoffte es sogar. Er machte ein dämliches Gesicht. Und das wurde noch dämlicher, als Claudine auch auf einmal anfing zu lachen.

Selbst als Claudine das Lachen nur spielte, gelang es ihr nicht, es so leise zu halten wie ihre Stimme normalerweise war: leise, unauffällig, schleichend, sanft und scheu. Es war ein so lautes Lachen, dass Bernard regelrecht zusammenzuckte und fast nach hinten gefallen wäre.

Marie lachte mit. Nicht, weil sie, wie Claudine, erkannt hatte, was los war. Sondern weil Claudines Lachen einfach ansteckend war.

Hinter ihnen schritt Colli vorbei. Mit strenger Miene und mit Händen, die hinterm Rücken ineinander gefaltet lagen. Colli, die Tratschtante.

Claudine wusste nicht, warum Thomeo jetzt, da Colli in Hörweite kam, nicht normal weiterreden wollte. Aber weil sie Colli so wenig leiden konnte wie eiskalte Füße, die man unter noch so dicken Decken nachts im Bett einfach nicht warm bekommen konnte, war Claudine sofort auf Thomeos Seite.

Jetzt lachten die drei also und Bernard schaute als ihn Collis Blick traf, beinahe wie ein dümmlicher Hund.

„Benehmt euch.“, ermahnte Colli sie.

„Ich bin sowieso fertig.“, meinte Thomeo.

„Dann gehst du dich besser fertig machen.“, mahnte Colli. „Deine Haare sehen so aus, als ob sie schon lange kein Wasser abbekommen hätten.“

„Meine Haare sehen so aus, weil sie immer so aussehen.“, erwiderte Thomeo.

„Sei nicht so frech.“, rümpfte Colli.

„Es tut mir leid.“, log Thomeo. Seine Nasenspitze verriet, dass er log. In seinen Augen konnte ein unglaublicher Schalk liegen. Aber Colli ließ ihn. Sie winkte und er rannte hinüber zur Küche, um das Geschirr abzulegen.

Als Colli weg war, sagte Claudine: „Er mag Colli offensichtlich genauso wenig wie wir.“

„Er hält sich an Regel 4,5.“, nickte Marie.

„Aber was hat er gemeint?“

„Womit?“, wollte Marie Mallarmé wissen.

„Du hast ihn doch gehört: Der Sturm ist ungewöhnlich aber nicht das Schlimmste hier.“

„Frag mich doch.“, meinte Bernard immer nur etwas säuerlich. „Immerhin weiß ja selbst ich Bescheid.“

Sie aßen schweigend eine Weile und Claudine war dabei, über den Ausblick auf das Unwetter, das draußen vor dem Fenster wütete und die Bäume noch weiter und tiefer beugte, dass sie fast aus den Erden gebogen wurden, das merkwürdige Gespräch zu vergessen. Sie hätte es wohl auch abgetan, als eine merkwürdige Nebenbegebenheit. Und Bernard hätte wahrscheinlich auch nicht mehr über Thomeo nachgedacht.

Aber Marie sagte am Ende des Frühstücks: „Ich mag ihn irgendwie.“

„Wen?“, wollte Bernard tatsächlich wissen. Als er es im selben Moment, da er die Frage stellte, selbst wieder wusste, hakte er nach: „Und vor allem: warum um alles in der Welt?“

Weil er es auch spürt!

„Er hat eine lustige Mütze.“, Maries Lügen waren immer an der Farbe sichtbar. Ihr Gesicht leuchtete so hell auf, als habe man ihr die runden Wangen geputzt.

Claudine schmunzelte. Bernard verdrehte nur die Augen und sagte: „Unsinn.“

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