Roxxy Foxx (2/3)

Der Anfang findet sich hier.

Das Leben ist eigentlich nichts anderes als Gedächtnis.

Wir reihen unsere Eindrücke hintereinander. Und weil die Eindrücke lückenlos sind, ist unser Leben nichts anderes als eine Geschichte.

Svenja Kleins Geschichte war eine Aneinanderreihung verdammt mieser Menschen. Es war, als hätte die ganze Welt für sie nichts anderes aufzuwarten gehabt, bis sie Ted begegnet war. Das war der berühmte weiße Ritter in glänzender Rüstung, der Krieger, der sie von dem Fluch befreite, immer an den Falschen zu geraten.

Auf A folgte B! Der weiße Ritter kam, zerrte sie aus dem Elend und alles Unglück war mit einem Schlag beendet. An einem Tag weinte sie sich als Svenja Klein in den Schlaf, weil sie nicht wusste, wie sie sich am nächsten Morgen etwas zu Essen organisieren sollte um nicht zu verrecken. Und am nächsten Tag lebte sie in einer Villa an einem Berghang und litt unter der Frage, welches Lautsprechersystem in ihrem Wohnzimmer eingebaut werden sollte.

Auf A folgte B! Das war das einzig Gute am Leben: dass alles verlässlich aufeinander folgte. Wie ein verdammtes Dominospiel am Dominoday. Gott stieß den ersten Stein und im gleichen Augenblick konnte man vorhersagen, dass am Ende ein verdammt großes Bild durch umgestoßene Steine auf dem Boden liegen würde. Alles war vorherbestimmt und alles war

(zerbrechlich)

(wie Glas)

Sie sang mit Chester Bennington:

I hear my battle symphony
All the world in front of me
If my armor breaks
I’ll fuse it barwach, frohlocke,
o Tochter von Zion
Auf, du Tochter von Jerusalem,
blick auf, dein König kommt zu dir.

Ihre Fingerspitzen schlugen auf dem Lenkrad den Takt.

Ihre Fingerspitzen bluteten und schmerzten.

Sie gähnte, weil der Tag einfach zu anstrengend gewesen war und sie schloss den Mund nicht, weil ihn ihr der Schmerz offen hielt.

Es gibt Schmerzen, da wollte sie wieder weinen, so wie sie zum letzten Mal als Kind geweint hatte. Einfach sich dem Schmerz hingeben. Sich nicht auf dem Boden winden, mit weit aufgerissenem Mund und über der Härte und der Kälte der Erde.

(Es gibt hier keine Erde! Es müsste Holz sein! Laminat.)

Sie wand sich und hörte unter ihren eigenen Bewegungen die Knochen im Rücken knacken. Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut. Ihr Körper hatte diese Art von Schmerz bereits abgespeichert. Es ist gleichgültig, wie lange man von dem Ursprung dieses Schmerzes entfernt war. Die Erinnerung eines Körpers währt ewig.

Intuitiv drehte sie sich auf den Rücken und riss die Hände wie zu Schutz vor ihr Gesicht.

Aber nichts geschah.

Sie rückte rücklings, bis sie mit dem Kopf gegen ein Hindernis stieß. Dann richtete sie sich langsam auf und starrte durch die Dunkelheit.

Direkt links von ihr stand ihr Bett. Das große Himmelbett mit der Rosa und Gold bezogenen Bettwäsche.

Im selben Moment nahm sie wahr, dass sie ihre Roxxy Foxx Kleider trug.

(Was zur Hölle geht hier vor?)

Das Hindernis in ihrem Rücken war das kleine, weiße Nachtschränkchen. Auf der anderen Seite, wie es sich gehörte, stand ihr Kleiderschrank.

Alles sah fast perfekt aus.

Panisch kletterte sie auf das Bett. Ihre Augen suchten wie wahnsinnig das gesamte Studio ab. Alles war so perfekt arrangiert, wie es sein musste. Aber gleichzeitig war es eben nur arrangiert. Es gab zu viele Dinge, die nicht stimmten – angefangen von dem verdammten Filmriss und letztlich: die Wand direkt vor ihr.

Roxxy sprang aus dem Bett und stürzte auf die kahle Wand zu, die eigentlich nicht hier sein durfte. Hier war eigentlich das Studio zu Ende und die Realität mit den Kameras und dem Filmstudio begann.

„Scheiße!“, das war ihr erstes Wort. Und der Klang ihrer eigenen Stimme wirkte unfassbar beruhigend.

„Ok. Ganz ruhig. Was geht hier vor. Woran erinnerst du dich?“

Sie erinnerte sich an die Autofahrt. An die Dunkelheit der Straße. An den Wald. Sie erinnerte sich an die laute Musik und dass sie gleichzeitig erschöpft gewesen war und sich auf den Abend mit Ted gefreut hatte. Und dann war das Licht angegangen, Linkin Park hatte aufgehört und diese klassische Musik hatte angefangen. Die Erschöpfung war gewichen und statt dessen hatte der Schmerz wieder begonnen, den sie noch gut von ein paar wirklich miesen Typen kannte. Typen, die Zärtlichkeit mit Härte verwechselten.

Aber so funktionierte das Leben nicht. Es gab keine Sprünge rückwärts.

Andererseits gab es normalerweise überhaupt keine Sprünge.

Hastig rannte sie zum Kleiderschrank und riss ihn auf. Er war leer. Aber das interessierte sie nicht. Auf der Innenseite der Tür hing ein Spiegel. Und der war noch da.

(Natürlich ist er da, er gehört zum notwendigen Inventar!)

Und vor ihr stand Roxxy Foxx. Sie trug die Perücke und war geschminkt.

„Du weißt, was das bedeutet.“, flüsterte sie zu sich selbst. Das bedeutete, dass jemand sie geschminkt haben musste.

Als ihr jetzt ein eiskalter Schauer über den Rücken lief, begann endlich ihr Verstand wieder zu arbeiten und die Panik verschwand augenblicklich.

Das war das einzig Gute daran, dass es eine Welt vor Ted gegeben hatte. Ein Leben unter lebensfeindlichen Bedingungen schärft wenn überhaupt das Talent zu überleben. Und das konnte sie jetzt verdammt gut gebrauchen. Jede Faser ihres Körpers verriet ihr das.

Sie erinnerte sich jetzt an die verdammten Einzelheiten, die ihr Unterbewusstsein brav abgespeichert hatte, während ihre bewusste Wahrnehmung regelrecht im Tiefschlaf gewesen sein musste. Im selben Augenblick, wo sie sich an das kleine rote, unbekannte Lämpchen im Armaturenbrett erinnerte und an das falsche Lied, an die merkwürdigen Zwischengeräusche, die es nicht hätte geben dürfen und an den säuerlichen Geruch und schließlich sogar an das aufblitzende Fernlicht im Rückspiegel, da verfluchte sie sich, dass sie so unfassbar naiv und blind gewesen war.

Sie hatte auf diesen letzten Funken Instinkt nicht gehört, der sie versucht hatte zu warnen. Und jetzt war es offensichtlich zu spät.

Sie stand in einem Zimmer, das fast perfekt dem Zimmer nachempfunden war, mit dem Svenja Klein unter dem Künstlernamen Roxxy Foxx masturbierenden kleinen Jungs etwas über Sex erzählte, ohne die Spielregeln – die BigOnes, wie Ted sie immer nannte – zu brechen.

Sie trug die selben Klamotten, nämlich fast keine. Und sie war, und das war vielleicht das unheimlichste an der ganzen Situation: perfekt geschminkt.

Konzentrier dich, rief ihr Überlebensverstand ihr zwischen die Gedanken. Das war die Daseinsanalyse. Aber die Details fehlen. Wieso sagst du die ganze Zeit, das Zimmer sei fast perfekt?

Der Kleiderschrank ist leer, antwortete sie. (Kein notwendiges Inventar)

Das konntest du nicht sehen, der Kleiderschrank war geschlossen. Und trotzdem hast du es erkannt.

Die Wand natürlich, die nicht da sein sollte.

Weiter!

Roxxy drehte sich um, sah sich ganz genau um, dann ging sie wieder zurück, legte sich wieder auf den Boden, wo sie erwacht war.

Die Erde! Es dürfte keine Erde sein sondern Laminat.

Weiter!

Sie drehte ihren Kopf zur Seite, sah unters Bett. Dann erinnerte sie sich, dass sie so nicht aufgewacht war, sondern in einer anderen Pose. Sie drehte sich also wieder um und sah auf die Wand mit dem Kinderschreibtisch und den Regalen mit den ganzen Bilderrahmen. Auf dem Schreibtisch standen Kuscheltiere. Es waren exakt die gleichen, wie in ihrem Studio. Und natürlich stimmte auch die Anzahl der Regale. Und die Bilderrahmen waren auch alle da.

Die Bilder! Es sind die falschen Bilder!

Sehr gut, lobte die Stimme sie.

Sie sprang auf und sprang zu den Rahmen herüber. Normalerweise hätten hier glaubwürdige Familienbilder stehen müssen. Ted hatte ihr gesagt, dass es auf die Details ankäme. Man könne nicht einfach leere Bilderrahmen hinstellen. Irgend ein Nerd wird ein Video anhalten und ranzoomen und wenn er erkennt, dass alles nur Show ist, alles nur ein Studio … Das wichtige am MakeBelieve ist die perfekte Illusion. Aber natürlich hätte sie keine ideale Familienbilder aufstellen können. Die Suche nach perfekten Bildern fürs Studio hatte sie Monate gekostet. Sie waren auf tausend verschiedene Flohmärkte gefahren und hatten nach glaubwürdigen Familienbildern Ausschau gehalten. Natürlich hätte man das für diesen Nachbau nicht perfekt machen können. Statt dessen war in jedem Bilderrahmen ein graues Blatt mit einem roten Symbol: eine schlank gezogene Raute mit zwei Kreisen über den Spitzen.

Das Symbol schlug einen Ton in ihr an und wieder glaubte sie, das Vibrieren eines weit entfernten Alarms in ihrem Nacken spüren zu können.

„Verdammte Scheiße.“, sagte sie und ließ sich in den Bürostuhl fallen. Sie kannte das Symbol natürlich und im selben Augenblick überschlugen sich ihre Gedanken.

Wenn das Symbol das war, wofür sie es hielt, dann bedeutete das zwei Dinge. Irgendwo musste eine Kamera sein und jede Bewegung von ihr Filmen, um es life ins Netz zu stellen.

Und außerdem: sie war selbst Schuld an ihrer Lage.

*

Die Jungs sind gut, hatte Ted gesagt.

Und er hatte ihr die Videos gezeigt und sie dazu gebracht, dass sie die Videos likte.

„Der ganze Erfolg in diesem Business besteht in den Verknüpfungen.“, hatte Ted ihr erklärt: „Du veröffentlichst ein Video und warum sollte irgendwo auf der Welt einer sein, der sich dein Video anschaut? Er wird es nur sehen, wenn du auf einmal sein Video siehst, verstehst du? Du mischst dich ein, kommentierst, chattest mit den Leuten und gerätst so in die Aufmerksamkeit verschiedener Leute. Sehen heißt nichts. Verknüpfen heißt erst gesehen werden.“

Sie hatte vergessen, wie die Jungs hießen, aber sie waren verdammt gut. Sie spielten Mindgames mit anderen Clippern.

„Verknüpfer.“, so nannte Ted solche Leute. Es gab die einen, die einfach nur Interviews durchführten mit anderen Internet-„Stars“. Es gab die, die andere in ihre Shows einluden. Und dann gab es die hier.

Roxxy erinnerte sich an die Clips, die sie damals von ihnen gesehen hatte. Es waren Shows, die so aussahen, wie versteckte Kamera. Damals waren Escape Rooms ganz groß im Rennen. Spiele, in denen man versuchen musste, durch das Lösen von Rätseln aus einem Raum zu fliehen. Bei diesen Mindgamern kam zusätzlich der Kick hinzu, dass der Internet-Stargast so tat, als habe er keine Ahnung, was mit ihm geschah.

Zumindest hatte Roxxy das bisher geglaubt.

Weil Ted es so erklärt hat. Er hat dir die Videos gezeigt, um dir die Wirkung der perfekten Illusion beizubringen.

„Und wir machen das gleiche nur mit Porno, verstehst du?“, hatte Ted gefragt. „Du redest davon, wie die Dicke von Zucchinis sich auf den Geschmack auswirken und in Wahrheit redest du über Blowjobs, verstanden?“

Und wie sie verstanden hatte.

Der Zucchini-Clip war ihr erster Bestseller gewesen. Der Push in die hohen Gefilde des Softcoreporno. Willkommen im Netz. Tschau Doc Bravo, willkommen Roxxy Foxx. Die Frau, die deine Fantasie bedient und dich glauben lässt, was immer du willst.

Die Frau, die sich Bauchnabel aufwärts filmen lässt und dabei so die Augen verdreht, als ob der Typ, der eben noch neben ihr gesessen hat, jetzt von unterm Bett nach oben wirkt.

Aber, und jetzt haltet euch fest, da hatte nie ein Typ unterm Bett gesessen. Der war auf die andere Seite der Kamera geschlichen und hatte ein verdammtes Erdnussbutterbrot gegessen und sich am Buffet verdingt, während die Kamera brav weiter ihre gespielten Atemaussetzer und das auf die Unterlippe Beißen filmte.

Nicht alles was live ist, ist auch echt, Leute!

„Ok.“, rief sie jetzt laut und ihre Augen suchten jetzt die Decke und die Deko nach versteckten Kameras ab. Der Blick eines Profis. „Ich weiß, wer ihr seid. Ich erkenne das hier“, sie wedelte das Bild in der Luft herum. „Ich kenne eure Masche, eure Spiele. Aber ganz ehrlich: ruft einfach mein Management an, dann vereinbaren wir einen Termin. So läuft das nämlich normalerweise mit mir, wisst ihr. Ich hab heut Abend noch etwas wichtigeres vor, als mich hier für euch zum Äffchen zu machen. Aber Kompliment“, sie tippte sich auf die Lippe. „Eure Schminkkünste sind echt gut!“

Roxxy Foxx blieb auf dem Bürostuhl sitzen und wartete.

Wenn die Jungs wirklich die waren, für die sie sie hielt. Dann steckte sie in einem live gefilmten Escape Room. Die Leute draußen würden denken, dass alles gescriptet sei. Und alles, was jeder in dieser Geschichte wollte, war unterhalten werden. The show must go on, nicht wahr?

Von daher war Roxxy sonnenklar, was sie zu tun hatte: Nichts.

„Sorry Leute, das wird die langweiligste Kiste ever. Und wenn ich hier raus bin, vermiese ich euch die Geschichte und spendiere euch eine ganze Wagenladung pure Realität, sponsored bei Anwalt.“

Genüsslich schlenderte sie zum Bett und legte sich hin. Die Arme unter dem Kopf überkreuzt, begann sie, die Sekunden zu zählen. Es würde nicht lange dauern, bis Roxxy Foxx wieder einmal bekam, was sie wollte und es den miesen Typen dieser Welt beibrachte: Niemand spielt mit Roxxy Foxx!

Und dann hörte sie, wie ein Motor ansprang. Eine Maschine setzte sich in Bewegung und die Wand, die nicht hätte hier sein dürfen, rollte nach oben.

„Kluge Entscheidung.“, sagte sie und genoss es sichtlich, mit perfekt einstudierter Langsamkeit aus dem Bett aufzusteigen.

Als die Wand vollständig nach oben gefahren war, sah sie, dass hinter der Holzwand eine Wand aus Glas stand. Und dahinter ein schwarzer Raum, in dem augenblicklich das Licht ansprang.

Roxxy Foxx schrie und stürzte auf die Glaswand zu. Sie hämmerte wieder panisch mit den Fäusten auf das Glas ein. Kein einziger Gedanke war mehr so klar und vernünftig wie noch vor Sekunden.

Denn in diesem Raum stand nur ein einziger Stuhl. Groß, schäbig und scheinbar uralt. Er sah aus wie eine Requisite aus einem älteren Kinofilm. Und deshalb war er auch so gut als das zu erkennen, was er sein sollte: Es war ein elektrischer Stuhl, wie er in Amerika früher für Hinrichtungen von Mördern genutzt worden war. Ein Modell wie aus Steven Kings Green Mile. Mit Lederriemen und einem ledernen Ball für den Mund und einem nassen Schwamm auf dem Kopf unter einer ledrigen Mütze.

Nur saß darin nicht John Coffey, gespielt von dem umwerfenden Michael Clarke Duncan

Es war Ted.

Und wie von magischer Hand betätigt, klackte lautstark ein rotgrüner Hebel an der Seitenwand nach unten und durch Teds Körper jagte der Strom.

(…)

 

Und hier geht es zum Ende.

Anfang verpasst? Hier beginnt die Story.

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