„Früher hat es noch Schülerlotsen gegeben.“
„Früher haben sich Leute aus der Umgebung dafür bestimmt freiwillig gemeldet. Ich meine, ist ja kein Beruf sowas, oder?“
„Waren andere Zeiten. Hat ja keiner mehr Zeit für an der Straße rumstehen und den Autos winken.“
„…“
„Nein, im Ernst: hat keiner mehr Zeit.“
„Ich frag mich, ob es die Zeit ist oder, dass man dafür Verantwortung für andere übernehmen muss.“
„Die Leute, die immer sagen: „ich würd’s ja machen, aber!“
„Und Recht haben sie, die Leute. Ist doch so: stehst da und hilfst den Kleinen und die Autofahrer schimpfen dich an und wenn mal was passiert, bist du der Dumme. Früher hätt man trotzdem Danke gesagt und gedacht: Kinder sind halt unberechenbar. Heute wär man froh, es gäb nen Lotsen, weil man dann jemanden dafür lynchen könnte, dass das Kind totgefahren wurde.“
„Früher hätt man trotzdem Danke gesagt.“
„Nur das Ergebnis zählt! Nicht, wieviel Mühe man sich gibt, oder ob es Selbstüberwindung gekostet hat.“
„Der Dienst am Menschen geht nie gut aus, heutzutage. Nur der Dienst am Ich wird fürstlich belohnt. Heißt es nicht: ‚Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an jeden gedacht?‘ Kommt auch keiner zu kurz, keiner wird über’s Ohr gehauen, keiner wird hinter’s Licht geführt und alle Eltern bringen ihre Kinder selbst in die Schule.“
„Und das ist es eben. Alle steh’n sich selbst im Weg. Es gibt für jeden Schüler ein Auto, das vor der Schule den Verkehr blockiert. Je mehr Autos, umso größer die Gefahr, dass einmal wirklich was passiert. Alle stehen kreuz und quer, der Schulbus mitten drin, lässt neuerdings nicht mal die Kinder raus, bis ihm die Leute Platz gemacht haben und er sieht, dass er nach dem letzten Kind auch selbst wieder fahren kann. Er sagt dann, dass es ihm um die Sicherheit der Kinder geht. Wer weiß denn heutzutage noch, dass öffentliche Verkehrsmittel wie Busse Vorfahrt haben? Dass man sie in den Verkehr einfädeln lassen muss. Dieses Prinzip steht ja völlig im Gegensatz zu den egoistischen Werten der Gesellschaft. Wenn sich aber die Verkehrsregeln an der Moralvorstellung der Menschen anpassen würde, dann würde nur noch die eine Regeln gelten: Wer zuerst hupt, hat Vorfahrt.“
„Jetzt übertreiben wir aber, oder?“
„Achwas. Gibt doch schon die Forderung, die Richter sollten sich weniger an den Gesetzen als vielmehr an dem Rechtsempfinden der Bevölkerung orientieren. Das ist es eben: die Emotionen liegen landauf, landab blank. Und die Gefühle sind es, nach denen alles beurteilt wird. Habe Mut, dich deines eigenen Gefühls zu bedienen, ist die Maxime des Milleniums.“
„Traurig.“
„Und das Gefühl sagt: Halt dich ja raus. Werd ja kein Schülerlotse. Am besten zieht man sich in die eigenen vier Wände zurück.“
„Ach, ist alles nicht mehr so wie früher.“
„Ja, früher.“
„…“
„…“
„Wissen Sie noch, wie man früher gesagt hat: ‚Wo kämen wir denn da hin?'“
„Ja, und?“
„Höre heute viel öfter: ‚Wo kommen wir denn da hin'“
„Ja, das war früher auch besser.“
„Überhaupt sollte man heutzutage sich mehr fragen. Nicht immer für alles Antworten haben.“
„Aber das Wetter ist besser.“
„Heute?“
„Überhaupt.“
„Wenn Sie meinen.“
„Ich meine.“