Sorry Greg, das Leben gibt’s nur Scheibchenweise – (1): Sorry über Instagram

Kollateralarbeit.

Das Wort hab ich mit 16 erfunden.

Meine Mutter hatte die Angewohnheit, meinen Teenagerfaulenzereien ein hieb- und stichfestes Argument entgegenzuhalten. Sie sagte zum Beispiel: „Greg, du könntest ruhig einkaufen gehen. Das dauert nicht lange. Vielleicht 15 Minuten. Es ist nicht viel, was du besorgen musst. Das meiste haben wir ja.“

Fünfzehn Minuten. Das war die reine Einkaufszeit. Und ja, fünfzehn Minuten hätte ich sicherlich selbst als Teenager zur Verfügung gehabt. Aber sie vergaß dabei die Kollateralarbeit. Es dauerte nämlich zehn Minuten um mit dem Fahrrad zum Einkaufscenter zu fahren. Weitere fünf Minuten, um das Fahrrad überhaupt aus dem Keller zu holen, vorbei an dem ganzen Gerümpel der Untermieter. Und dann gab es die Familienregel: Wer einkauft, räumt auch ein. Also gehörte das Taschen entleeren, das Kühlschrankbefüllen, den Verpackungsmüll wegbringen, das Feststellen, dass der Papiermüll überquoll und man die Papierkiste nach unten in die Papiertonne zu tragen hatte, das alles gehörte mit dazu, wenn meine Mutter „einkaufen“ sagte. Und dann waren wir nicht mehr bei reinen fünfzehn Minuten, sondern bei gut und gern eineinhalb Stunden.

Kollateralarbeit.

Ich hasste Kollateralarbeit. Ich liebe es, mich jeden Morgen zu duschen. Aber ich mag es nicht, mit dem Mikrofasertuch die verchromten Armaturen abzuwischen. Ich liebe es, zu kochen. Aber das Aufräumen hinterher war leidig.

Kollateralarbeit war immer das unausgesprochene Zusatzmaterial, das Kleingedruckte und allein dadurch schon widerwärtige.

Die einzige, die ich kannte, die Kollateralarbeit mochte, war Tara.

Ich kannte sie schon seit der siebten Klasse. Unsere Leben liefen vergleichsweise Parallel. Wir machten gemeinsam Abitur, machten zeitgleich Zivildienst bzw. ein freiwilliges soziales Jahr. Wir studierten an der selben Universität, wenn auch völlig unterschiedliche Studienfächer. Und am Ende geschah das Absurdeste überhaupt: wir bekamen in der selben Großstadt Jobs und zogen gemeinsam auf Wohnungssuche. Am Ende landeten wir bei einer Wohngenossenschaft, die ein großes Mehrfamilienhaus geplant hatte und ich zog in die Wohnung 23, sie auf dem Flur direkt gegenüber in die 24.

Sie nannte es „witzig“.

Ich nannte es Schicksal.

Denn auch wenn alle Welt der festen Ansicht war, dass Tara und ich auf dem Freundschaftszug fuhren, kam ich nicht umhin, festzustellen, dass das kosmische Weltganze einen anderen Plan verfolgte.

Beim Einzug spielte der LKW-Fahrer meines Umzugsunternehmens ununterbrochen KISS. Und jede Stunde wiederholte sich der Songzyklus und er grölte: „I was made for loving you, Baby! Your were made for loving me …“

Ich hatte also alles, was man brauchte: eine perfekte Geschichte am Ende des Tages, um bei Tara nicht nur an der Tür zu klopfen, sondern auch um den Anschlusszug in Richtung Truelove mit ihr zu bekommen und eine Flasche Rotwein zum romantischen Tagesabschluss.

Ich klopfte an ihrer Tür, mein Herz klopfte in meiner Brust, ein letzter Bauarbeiter klopfte mit einem Gummihammer gegen die Arbeitsplatte in meiner Küche. Tara öffnete und selbst so verschwitzt, mit verklebten Haaren, die wie zerrupft aus ihrer streng nach hinten gebundenen Frisur hervorquollen, sah sie einfach nur bezaubernd schön aus.

„Guten Tag.“, sagte ich mit übertrieben höflicher Stimme. „Ich wollte mich nur kurz vorstellen: Mein Name ist Greg, und ich bin Ihr neuer Nachbar.“

Erst starrte sie mich verblüfft an, dann lachte sie und sagte: „Mist, mit diesem Witz wollte ich morgen eigentlich bei dir auf der Matte stehen.“

„Tja, Schicksal.“, sagte ich und meinte mit diesem Wort mehr, als sie vielleicht ahnte.

Tara drehte sich zur Seite und ließ mich herein.

„Oh, eine Flasche Rotwein.“

„Zum Anstoßen.“

„Worauf wollen wir trinken?“, fragte sie. „Auf Weingläser in dumm beschrifteten Kisten?“

Daran hatte ich natürlich nicht gedacht. Wir hatten beide ja noch keine Weingläser ausgepackt. Ich antwortete: „Dann trinken wir eben auf die und aus der Flasche.“

„Hast du einen Flaschenöffner?“

Es gab in meinem Vokabular übrigens nicht nur Kollateralarbeit, es gab auch Kollateraldämlichkeit.

Tara lachte mich selbstverständlich aus. Die Situation gefiel ihr so gut, dass sie es mit einem Foto für die Mitwelt sichern wollte. Fotografien waren längst nicht mehr für die Nachwelt, auch wenn man sich das manchmal gerne einredet. Fotografien waren heutzutage nur noch für die Zeitgenossen, die über die ganze Welt verteilt, zufälligerweise gerade jetzt auch im Internet unterwegs waren. Sie machte ein Selfie von uns und postete es auf Instagram. Dazu schrieb sie:

„Mein #neuerNachbar ist mein #alterFreund. #WiekleinistdieWelt ? Heute #feiern wir aber trocken: der Flaschenöffner ist noch #unausgepackt #LebenausKisten“

Nach einer halben Stunde hatte sie schon hundert Likes gesammelt.

„Ich hab den Sinn von Instagram noch nie so richtig verstanden.“,gestand ich. „Ich meine, schau mal, gerade eben noch war die Stimmung doch richtig gut. Und jetzt hat das perfekte Bild irgendwie alles gestoppt.“

„Ach nee“, widersprach Tara. „So ist es jetzt auch wieder nicht.“

Aber doch, so war es. Sie meinte zwar sofort: „Hat doch nur eine Sekunde gedauert, dieses Bild zu machen.“

Und ich sagte: „Aber die Kollateralarbeit war länger.“

„Die was?“

„Na, erst das Handy suchen, dann hast du uns erst da drüben fotografiert, wo das Licht nicht so gut war. Dann hier drüben, wo du den Fleck auf der Wand gesehen hast. Im Badezimmer war das Licht perfekt, aber es war so eng, dass ich hätte in die Badewanne klettern müssen …“

„Hättest du ruhig, das hätte man nicht gesehen.“

„Ich weiß. Dein Selfiestick.“

„Tut mir leid, aber das Bild ist echt schön geworden, oder?“

Ich fand, dass man mir ansah, dass es zwanzig Minuten vor dem Bild noch schöner gewesen war.

„Außerdem“, fuhr sie fort. „Außerdem übertreibst du ganz schön. Wir haben nur vier Bilder gemacht und das zweite ist es ja dann auch geworden.“

„Ich mein ja nur, es ist irgendwie keine kurze Sekunde, die das Geschehen einfängt. Es ist irgendwie, als ob man das richtige Leben kurz auf Pause drückst und wenn es wieder normal weiter läuft, ist irgendwie die Luft raus.“

„Du klingst altmodisch.“

„Ich mag halt richtige Bilder lieber.“

„Können richtige Bilder auch das hier?“, sie nahm wieder das Handy, umarmte mich, hielt es über unsere Köpfe und ehe ich mich versah, wischte sie mit dem Finger über das Display, bis das Bild aussah, wie aus einem japanischen Zeichentrickfilm entsprungen. Alles war weichgezeichnet, unsere Augen waren fast doppelt so groß, alles glitzerte, im Hintergrund wehten Kirchblüten und dazu ertönte fernöstliche Jammermusik.

„Das ist jetzt auch nicht gerade authentisch.“, sagte ich.

„Aber witzig.“, sagte sie.

„Ich dachte, dass ich den Korkenzieher vergessen habe, sei witzig gewesen.“

„Du bist heut Abend echt nicht gut gelaunt, Greg.“

Während sie ihr Handy wieder zur Seite legte, schnürte es mir knapp unter der Kehle zu. Eigentlich war ich ja wirklich nicht zum Meckern hergekommen sondern zum Flirten. Und selbst ich wusste, dass ich hiermit offiziell den falschen Einstieg gewählt hatte.

„Es tut mir Leid. Du hast Recht.“, sagte ich und das nicht nur aus strategischen Gründen, sondern weil es mir wirklich Leid tat. „Die Sache mit dem Korkenzieher war mir peinlich.“, erklärte ich. „Und ich lebe nicht gerne so unsortiert. Ich mag es, wenn alles seinen festen Platz hat. In den letzten Wochen habe ich gelernt, was ich auf dieser Welt überhaupt nicht mag.“

„Kisten?“, fragte sie.

„Kisten.“, bestätigte ich.

Jetzt lachten wir wieder und die unangenehme Atmosphäre war vorerst wieder gebrochen.

Während also auch die Flasche ungeöffnet blieb, tauschten wir Umzugsgeschichten aus. Sie erzählte davon, dass ihr Transportunternehmen sich verladen hatte, alles noch einmal auspacken musste, weil man vergessen hatte, dass da noch ein Klavier mitkommt. Und dann hatte man sich auf der Autobahn verfahren und ihr trotz einstündiger Mehrfahrt zugesichert, dass keine Mehrkosten auf einen zukamen.

Ich dagegen erzählte ihr davon, dass ich im LKW mitgefahren war und der Fahrer nur KISS hatte hören wollen. Dann imitierte ich recht ordentlich den Fahrer und sang das Lied unseres Schicksals.

Ich sang: „Tonight: I want to give it all to you – in the darkness – there is so much I want to do-o-o.“

Auf einmal blitzte es mir ins Gesicht.

Tara applaudierte und schickte das Bild sofort los.

„Ist nicht dein Ernst.“, sagte ich völlig irritiert.

„Das ist Gold.“, sagte sie. Und dann warf sie mir das Handy zu und sagte: „Ich glaub, ich hab doch noch was.“

Während sie sich anschickte, ein paar Kisten zu öffnen, sah ich ihr Instagram-Bild von mir und darunter stand: „#Party mit der #Neighborhood“.

Und es machte blingbling bei zwei zeitgleich eintreffenden Likes. Noch bevor Tara zurückgekommen war, fand ich einen tränenlachenden Smiley unter mein Bild kommentiert.

„Wenn wir in zehn Jahren immer noch Nachbarn sind, können wir uns das wieder anschauen und uns lächelnd zurückerinnern.“, spottete ich und gab es ihr zurück. Sie drückte mir ein warmes Bier in die Hand, das in der Umzugskiste bestimmt ordentlich durchgeschüttelt worden war.

„Ich hab mir noch nie Gedanken darüber gemacht, was in zehn Jahren los ist. Ich meine, hier sieh mal.“, sie zeigte mir wirklich ein kleines Video aus dem Internet:

Ein Löwe war auf einen Baum geklettert und kam nicht mehr herunter. Unten wartete die restliche Familie auf ihn und es sah tatsächlich so aus, als ob er jeden Augenblick fallen würde, bis er sich schließlich in eine günstige Position gebracht hatte, von der aus er springen konnte.

Fragend sah ich sie an.

„Das hat mir heute auf der Raststätte eine Freundin geschickt.“

„Ok.“

„Gibt dir das nicht zu denken?“

„Klar.“, log ich. „Aber die Frage ist ja: Was denkst du dabei?“

Sie lächelte mich selig an.

„So wie dieser Löwe.“, sagte sie. „Genauso bin ich.“

„Du steckst auf einem Baum fest?“

„Nein. Doch. Also, natürlich nicht wörtlich gesprochen.“

„Klar.“, mir fiel auf, dass dieses Wort die beste Lüge zu sein schien, die ich heute so parat hatte.

„Der Löwe denkt kein bisschen darüber nach, was er später tun wird. Er fragt sich nicht, wie komm ich da bloß wieder runter. Er klettert einfach hoch, genießt die Aussicht und dann findet er auch irgendwie wieder runter. Verstehst du? Vor ein paar Jahren hab ich mir immer Gedanken gemacht, was aus mir mal werden wird, was ich studieren soll, was ich vom Leben erwarte, was ich mir alles leisten können will, …“

„Und das machst du jetzt nicht mehr, weil du einem Löwen zugesehen hast, der auf einem Baum feststeckt?“

Sie ignorierte das.

„Ich hab mich nie in einem solchen Haus gesehen, Greg. Hier, komm mal her.“, sie führte mich ins zukünftige Esszimmer, wo wir uns an ein paar Kistenburgen vorbeiquetschten. Dann standen wir an einer großen Fensterfront und starrten auf die schwarz gewordene Nacht hinaus. Um es mich besser verstehen zu lassen, zeigte sie mir auch wie der Ausblick heute Mittag ausgesehen hatte. Auf dem Handy hatte sie ein paar gute Fotos von hier gemacht. Und es sah wirklich schön aus: Nette Industrieromantik trifft Großstadtleben.

„Wie in einem Film, oder? So was hätte ich mir nie geträumt. Aber jetzt bin ich hier. Ich hab nie davon geträumt, irgendwann einmal in einer Großstadt zu leben. Oder ganz banal: dich als Nachbarn zu haben.“

War das jetzt ein Kompliment oder ein Kollateralschaden?

„Also“, fuhr sie fort. „Welchen Sinn haben meine Träume denn jetzt gehabt? Die Realität kann ja doch nicht mithalten. Die Realität geht ja eigene Wege. Verstehst du? Vielleicht werden ein paar Punkte besser, ein paar sind vollkommen überraschend. Und dann: Glaubst du an Schicksal, Greg?“

Ich hörte mich tatsächlich ein „Ja“ stammeln, ein einsilbiges Wort, vielleicht sogar das erste Wort, das ich je sprechen gelernt hatte. Und jetzt kam es so holprig, kratzig und ungemütlich über meine Lippen, als wäre es das schwerste Wort auf der Welt.

„Deshalb träume ich mir nicht mehr die Zukunft sondern die Gegenwart.“, und sie winkte mit dem Handy. Im selben Augenblick wurde das schwarze Display blendend grell und jemand Namens „Mama“ rief an.

„Das ist meine Mutter.“, sagte sie unnötigerweise. „Ist es für dich ok, wenn wir die Feier heut Abend abbrechen? Kannst dein Bier mitnehmen. Ich bin einfach fix und alle. Und ich hab ihr versprochen, dass wir heute Abend noch miteinander telefonieren.“

„Aber klar doch.“, sagte ich.

Sie brachte mich zur Tür und ich versprach ihr, das Bier erst zu öffnen, wenn wir es gemeinsam zum Anstoßen trinken würden.

Das selbe versprach sie mir mit dem Wein.

Dann gab sie mir einen Kuss auf die Wange und sagte: „Like?“

Ich antwortete: „Like.“

Dann schloss sie die Tür vor meiner Nase und ich schlenderte zehn Schritt weiter in meine eigene Kistenburg.

 

 

Das Video wurde von BBC Radio 4 gepostet. Es lautet: Dynasties: Lion stuck up a tree.

 

 

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