Onkel Renard war ein ausgezeichneter Koch.
Er liebte es, uns wenigstens einmal im Monat zu sich zum Essen einzuladen. Seit etwa drei Jahren galt die Einladung nicht nur uns im Speziellen. Er betonte auch immer ausdrücklich, dass ich auch meine Freundin mitbringen dürfte. Diesmal fiel mir zum ersten Mal der lauernde Blick auf, den meine Eltern, besonders meine Mutter, mir zuwarf, als Onkel Renard das so dahinsagte wie jedes Jahr. Ich verneinte genauso traditionsbewusst wie eh eine Begleitung. Und wie jedes Jahr sagte er daraufhin mit übertrieben traurig dreinblickender Miene: „Oh, schade. Tja dann.“ Und dann schlug er mir auf die rechte Schulter, zog mich mit einem lauten Lachen an sich heran und sagte: „Wart du nur. Wirst sicher nächstes Jahr nicht mehr allein mit uns Alten am Tisch sitzen.“
„Na, so alt sind wir nun auch wieder nicht.“, protestierte mein Vater.
Als wir uns dann bei ihm einfanden, konnte mein Vater es nicht lassen, genau an der Stelle wieder einzusetzen: „Danke, dass wir wieder kommen durften. Sind ja eigentlich schon zu alt für diese häufigen Abendessen.“
Onkel Renard lachte noch darüber. Aber irgendwann musste es auch ihm auffallen, dass das Alter kein gutes Thema für einen Witz gewesen war bei meinem Vater.
Immer wieder ließ er also einen kleinen Kommentar über das Alter los, bis Renard sich schließlich genötigt sah, einzulenken:
„Du weißt doch, dass es gar nicht darauf ankommt, wie alt man wirklich ist, sondern, wie alt man sich fühlt, und wie alt man lebt.“
Das waren so die üblichen Sprüche. Da hätte mein Vater eigentlich drauf eingehen und einlenken können. Aber irgendwie gefiel es ihm heute Abend nicht, klein beizugeben. Er ignorierte Renards Versuche, die Sache abzutun. Statt dessen sagte er:
„Du bis ja auch noch keine vierzig.“
„Sag mal, bist du jetzt in der Midlifescrisis, oder was?“
Meine Mutter verschluckte sich und Onkel Renard merkte sofort, dass die Frage jetzt die völlig falsche Strategie gewesen war. Jetzt konnte man den Ärger meinem Vater sofort im Gesicht ablesen. Er räusperte etwas und stand auf und ging nach draußen auf den Balkon, um eine zu rauchen.
„Was ist denn mit dem los?“, fragte Renard.
„Na, was wohl?“
Mein Vater kam wenig später mit noch immer brav aufgetragener Sauertopfmiene zurück und schenkte sich noch eine ganze Tasse Kaffee nach, obwohl er kurz vorher erklärt hatte, es sei zu spät für Koffeein.
„Hör zu.“, sagte Renard. „Ich glaub, ich muss mich entschuldigen. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“
„Bist du nicht.“, brummte mein Vater. „Lass uns einfach das Thema wechseln.“
Das sind solche Sätze, wo einem erstmal kein neues Thema einfällt. Deswegen herrschte zuerst mal mächtig Ruhe. Im Smalltalk, das wusste ich ja bereits, waren meine Eltern aber auch wirklich keine großen Leuchten. Und jetzt hatte mein Vater den Small-Talk mit einer Standardfloskel eröffnet. Onkel Renard blickte etwas verlegen drein und so setzte mein Mutter an: „Ich hab übrigens von Kerstin erzählt.“
„Wem?“, fragte mein Vater baff.
„Na, ihm.“, sagte sie und deutete mit einer kurzen Kopfbewegung in meine Richtung.
Mein Vater starrte mich entgeistert an.
„Von Kerstin?“
„Ja.“
„Warum?“
„Wer ist Kerstin?“, fragte Renard.
„Eine Freundin vor Mutter.“, erklärte ich.
„Ich dachte, es ist ein guter Weg, um ihn vor Fehlern zu warnen, die …“
„Ich glaub, ich spinne.“, machte mein Vater und Renard fragte: „Kannte ich die?“
„Meine Fehler gehen doch wohl nur mich etwas an, oder?“, fragte mein Vater entgeistert.
„Nicht, wenn sie helfen, dass dein Sohn nicht die selben Fehler macht.“
Onkel Renard: „Was sind das denn für Fehler, von denen wir da reden?“
„Da bin ich auch gespannt. Was ist das denn für ein Fehler?“
Er hatte meine Mutter gefragt, die fand aber nicht direkt die richtige Antwort und deshalb sah mein Vater jetzt mich an. „Na?“, fragte er. Ich empfand diesen natürlichen Fluchtreflex, blieb aber sitzen und war erstarrt.
„Äh.“, machte ich. Und dann stammelte ich noch ein paar Worte, bis ich schließlich: „Sex?“, rausbrachte.
Und das war wohl das falsche Wort, weil meine Mutter stöhnend die Augen verdrehte, so als wüsste sie schon, was jetzt gleich komme. Wahrscheinlich wusste sie es auch. Denn auch mein Vater stöhnte, rollte mit den Augen in den Höhlen und rief:
„Du kannst es einfach nicht seinlassen! Das ist doch Ewigkeiten her. Ich hab dich damals nicht gekannt und ich war mit einer anderen zusammen und das lässt dich nicht los.“
„Jetzt mach dich nicht lächerlich.“, flüsterte meine Mutter. „Das hat jetzt also gar nichts mit dir zu tun.“, sagte sie. „Oder mit mir.“
„Mit dir?“
„Mit mir hat es auch nichts zu tun. Oder mit Eifersucht oder mit was auch immer. Es geht doch darum, dass du Fehler in deiner Vergangenheit gemacht hast, die er nicht machen muss. Da kann man doch drüber reden. Damit er die Augen aufhält.“
„Und nicht die Hose.“, kicherte Renard und erntete dafür einen vernichtenden Blick von Mutter und einen entsetzten von mir.
„Ach, und du hast keine Fehler in der Vergangenheit gemacht?“
„Das ist ja wohl gar nicht …“
„Hat sie dir davon erzählt, dass zwei ihrer Freunde aus Jugendtagen Selbstmord begangen hatten?“
Sie schrie entsetzt auf.
„Zwei!“, betonte mein Vater. „Das ist eine Geschichte, die du wissen solltest, damit du nicht den selben Fehler machst und am Ende unter der Erde liegst und nur Scherben zurückgelassen hast.“
Meine Mutter schrie ein zweites Mal. Aber es war irgendwie so etwas wie eine Mischung aus Laut und Wort. Mein Vater sah auf und fragte sie ganz seelenruhig: „Wie bitte?“
„Ich hab ja wohl niemanden in den Selbstmord getrieben? Das kannst du doch jetzt nicht wirklich behauptet haben?“
„Hab ich das? Stimmt, hab ich wohl. Sex mit Frauen ist ja wohl auch ein Fehler, wenn er nicht mit der Richtigen stattfindet, mit der man den Rest des Lebens in harmonischer Ehe verbringen will.“
„Ich …!“, meine Mutter suchte und suchte und fand keine Worte.
Mein Vater wandte sich wieder mir zu: „Du sollst jetzt nicht rumhuren, -“, Mutter schrie schon wieder. Diesmal glaubte ich, den Namen meines Vaters verstanden zu haben. Ich war mir aber recht unsicher, weil sich grad so viel um mich herum bewegte. „Aber Sex ist etwas Schönes, was sich zu machen lohnt. Ein ganz tolles Erlebnis.“ Kurzes, eisiges Schweigen am Tisch. Dann schien ihm noch etwas eingefallen zu sein: „Achja, aber nur mit Kondomen. Ok? Das ist einfach Sicherheit, und …“
Dann explodierte etwas in der Luft, meine Mutter fand wieder Worte, mein Vater fand Antworten und ich starrte wie ein erschossenes Reh einfach auf eine Stelle mitten in der Luft über dem Tisch. Onkel Renard stand auf einmal neben mir, zog mich vom Stuhl auf die Beine, vom Esszimmer in Richtung Wohnzimmer, dort Richtung Balkontür und dann nach draußen an die frische Luft. In der Zwischenzeit waren meine Eltern in einen Streit vertieft, der an Lautstärke und Wortwahl kaum zu überbieten war.
„Hey, wie geht es dir?“
„Was?“, fragte ich.
Onkel Renard zuckte mit den Schultern und setzte sich in einen alten Korbsessel aus den Siebzigern.
„Das hat dich irgendwie keiner von den beiden gefragt. Da dachte, ich mach das mal: Wie geht es dir?“
„Grad nicht so gut.“
„Weswegen? Wegen den beiden?“, er lachte. „Doch nicht etwa, weil es dir unangenehm war, was die da vom Stapel gelassen hatten? Na, dann freu dich mal auf die Zeit, wo jeder nur noch über Sex redet.“
Ich grinste gequält.
„Wenn Mütter über Sex reden, wollen sie ihre Kinder immer nur beschützen.“, erklärte er. „Und wenn Väter das tun, wollen sie sich wieder jung fühlen. Das scheint deinem Vater grad besonders wichtig zu sein.“
„Er hat so ne Phase.“, meinte ich. „Das geht wieder weg.“
„Ja, mit dem Alter geht so was weg.“, lachte Onkel Renard.
Das brachte mich endlich auch zum Lachen und ich sah zurück durch das Fenster ins Wohnzimmer, wo meine Mutter mit den Tränen rang und mein Vater sich noch einen Kaffee eingoss.
„Wie kommt sie eigentlich drauf, damit anzufangen?“, fragte mich Renard.
„Mit den Warnungen? Keine Ahnung.“
„Mütter haben da ganz oft so einen Gefahrensensor, kann das sein?“
„Kann sein.“
Er nickte wissend und verstehend.
„Frauen sind kompliziert.“, sagte er und das war eigentlich grad schon wieder so ein Allerweltsspruch. Das schien er zu merken und deswegen verbesserte er sich: „Streich das. Das klingt dumm. Liebe ist kompliziert. Das klingt jetzt zwar auch dumm, dafür ist es aber hundertprozentig richtig. Es gibt kein Gefühl, das so kompliziert ist, wie Liebe. Wenn du hasst, dann hasst du und du weißt, was du zu tun hast, du gehst einfach los und schreist rum. Verstehst du? Das ist nicht immer richtig, was man tut, aber man zweifelt es auch nicht an. Man macht einfach. Wenn du Hunger hast, dann gehst du auf die Suche nach Essen. Wenn du Schmerzen hast, versuchst du denen auszuweichen. Aber Liebe …? Nein, das ist ganz anders wie alle anderen Gefühle. Deswegen wird da auch so viel drüber geredet und diskutiert. Die ersten Jahre bist du nur damit beschäftigt, dich selbst in den Griff zu bekommen. Und kaum hast du dich im Griff, kaum hast du das Gefühl, eine Ahnung von der Welt zu haben, und du denkst, dass du alles verstehst, dann kommt die Liebe und haut dir eine runter, dass du gar nichts mehr begreifst.
Mit der Liebe kann kein Mensch umgehen, merk dir das.
Ich kenne richtig stolze und große Typen, die so klein werden, wenn sie verliebt sind. Und ich hab ja schon viel Scheiße erlebt, …“
„Das kann man wohl sagen.“, bestätigte ich.
„… und der Grund für die Scheiße war in den meisten Fällen die Liebe.“
„Warst du mal verliebt?“, wollte ich wissen.
„Wer sagt dir, dass ich es nicht grade bin?“
„Ich hab dich noch nie mit jemandem gesehn.“
„Vielleicht ist sie hässlich.“, meinte er.
Das brachte mich wieder zum Lachen.
„Ohje, dann haben eure Kinder ja gar keine Chance mehr.“, sagte ich.
Jetzt lachten wir beide, bis er plötzlich inne hielt und zu einer kleinen schwarzen Plastikkiste mit blauem Deckel ging. Ich dachte eigentlich, da drin wären die Bezüge für die Sonnenliegen, aber jetzt sah ich, dass er Bierflaschen da drin aufbewahrte.
Er nahm eine, öffnete sie und reichte sie mir.
„Das ist etwas Grundsätzliches.“, erklärte er fast schon feierlich. „Aber wenn Männer über Sex reden, dann müssen sie Bier dabei trinken. Sonst lügen sie.“
„Aber wenn …“, wollte ich ansetzen.
„Dann gibst du mir die Flasche und wir tun so, als ob du sie nur kurz für mich festgehalten hättest. Und bevor du reingehst, steckst du dir einen Kaugummi zwischen die Kiefer, kapiert?“
Kapiert.
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